Die letzte Diagnose
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ORBIT HOSPITAL ist ein Klinikum im All, das allen raumfahrenden Lebensformen der Galaxis medizinische Hilfe leistet. Es nimmt alle Gesch?pfe auf, ob sie ein Dutzend Gliedma?en haben oder gar keine, ob sie sich von Radioaktivit?t ern?hren oder Wasser atmen – von anderen exotischen Gewohnheiten und Bed?rfnissen ganz zu schweigen. Es ist ein ?kologisches Tollhaus und ein organisatorischer Irrwitz, aber es ist f?r alle da und es funktioniert. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes – lebensnotwendig.
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Hewlitt schüttelte den Kopf und versuchte auf diese Weise vergeblich, die Erinnerungen loszuwerden. »Ihre Kollegen kamen jedenfalls stets zu der Auffassung, ich hätte mich wie ein ganz normaler Vierjähriger verhalten: etwas egoistisch und nicht ganz aufrichtig eben.«
Braithwaite nickte verständig. »Dieses psychische Trauma, Mutter und Vater im Alter von vier Jahren verloren zu haben, kann dauerhaft seelische Störungen verursachen. Ihre Eltern sind doch bei einem Flugzeugunglück umgekommen, das Sie als einziger überlebt haben. Wie genau können Sie sich an den Unglücksfall erinnern? Was haben Sie damals empfunden, und wie sind Ihre Gefühle heute?«
»Ich kann mich an alles erinnern«, antwortete Hewlitt, wenngleich er sichwünschte, der Arzt würde endlich zu einem anderen, weniger schmerzhaften Thema übergehen. »Damals wußte ich noch nicht, was genau geschehen war. Später habe ich jedoch herausgefunden, daß wir uns auf dem Weg zu einer Konferenz befanden, die in einer Stadt auf der anderen Seite des Planeten stattfinden sollte. Als wir über ein Waldgebiet flogen, trat bei der Maschine eine verheerende Funktionsstörung auf. Wir befanden uns in eintausendfünfhundert Metern Höhe, benutzten also den Luftkorridor für kleinere Flugzeuge, und bevor wir gegen die Bäume krachten, müssen noch einige Minuten vergangen sein. Meine Mutter kletterte auf die Rücksitze, wo ich festgeschnallt war, und umklammerte mich schützend, während mein Vater versuchte, wieder die Kontrolle über das Flugzeug zu erlangen. Wir schlugen heftig auf. Durch den Boden und durch eine Seite des Rumpfs preßten sich dicke Äste hindurch. Ich fiel bei dem Aufprall in Ohnmacht. Als man uns am nächsten Tag fand, waren meine Eltern tot – und ich…? Nun, ich bin vollkommen unverletzt geblieben.«
»Da haben Sie aber unvorstellbares Glück gehabt«, sagte der Psychologe leise. »Das heißt, wenn man ein Kind, das gerade beide Eltern verloren hat, überhaupt als glücklich bezeichnen kann.«
Hewlitt antwortete nicht, und nach einer Weile fuhr Braithwaite fort: »Lassen Sie uns noch mal darauf zurückkommen, als Sie auf den Baum geklettert sind oder geglaubt haben, Sie seien hinaufgeklettert, und angeblich das Obst gegessen haben, von dem Sie nach eigener Aussage heftige Magenkrämpfe bekamen. Sind diese Symptome später, vor oder nach dem Flugzeugunglück noch mal aufgetreten?«
»Warum sollte ich Ihnen das erzählen, wenn Sie sowieso glauben, ich hätte mir das alles nur eingebildet?« schnaufte Hewlitt abfällig.
»Falls es Sie irgendwie tröstet, so bin ich mir immer noch nicht im klaren, was ich darüber denken soll«, besänftigte ihn Braithwaite.
»Also gut«, lenkte Hewlitt ein, wenngleich er das Gefühl hatte, daß sich diese Unterhaltung im nachhinein wieder einmal als pure Zeitverschwendung herausstellen dürfte. »Nachdem ich in die Schlucht gefallen war, wurde mirin den ersten vier Tagen zwar jedesmal übel, wenn ich etwas aß, aber nie so schlimm, als daß ich mich hätte übergeben müssen. Danach klang es immer mehr ab, bis es schließlich völlig vorbei war. Diese Übelkeit trat für kurze Zeit wieder auf, als ich zu meinen Großeltern auf die Erde zog, allerdings nehme ich an, daß das durch die andere Nahrung und die Art der Zubereitung hervorgerufen worden sein könnte. Weder auf Etla noch auf der Erde konnte für diese leichten Übelkeitsanfälle ein medizinischer Grund gefunden werden. Damals bekam ich auch zum ersten Mal den Spruch zu hören, daß der Krankheitsursache eine psychologische Komponente zugrunde liege. Jahrelang passierte dann gar nichts mehr. Nur einmal habe ich unter leichter Übelkeit gelitten, und zwar nachdem ich das erste Mal auf der Treevendar eine künstlich hergestellte Mahlzeit probiert hatte. Selbstverständlich habe ich mir das alles bloß eingebildet.«
Braithwaite ignorierte die sarkastische Bemerkung. »Würden Sie wirklich unbedingt wissen wollen, ob alles nur Ihrer Phantasie entsprungen ist, oder wäre es Ihnen lieber, wenn Sie nicht darüber Bescheid wüßten? Überlegen Sie genau, bevor Sie antworten.«
»Wenn ich mir wirklich etwas einbilden sollte, dann will ich natürlich nicht der einzige sein, der es nicht weiß«, zischte Hewlitt.
»In Ordnung. Wie gut können Sie sich denn an den Baum auf Etla erinnern, auf den Sie hinaufgeklettert sind, und daran, wie die Frucht aussah, die sie gegessen haben?«
»Gut genug, um ein Bild davon malen zu können, wenn ich das Talent zum Zeichnen hätte. Wollen Sie, daß ich es versuche?«
»Nein, das ist nicht nötig«, entgegnete der Psychologe. Dann lehnte er sich zur Seite, bis er die Tastatur des Kommunikators mit einer Hand erreichen konnte, und gab kurz ein paar Daten ein. Als der Bildschirm mit dem Symbol des Orbit Hospitals aufleuchtete, sagte er: »Bibliothek. Allgemeinwissen. Terrestrisch übersetzte Ausgabe in Wort und Bild. Thema: das ehemalige etlanische Imperium, der Planet Etla, Schwerpunkt Vegetation.«
»Bitte warten Sie«, meldete sich die unterkühlt und entsprechendunpersönlich klingende Stimme des Bibliothekscomputers.
»Ich habe nicht gewußt, daß ich mit dem Ding auch die Bibliothek empfangen kann«, sagte Hewlitt erstaunt. »Ich dachte immer, damit kann man nur mit dem Personalraum Kontakt aufnehmen oder die sogenannten Unterhaltungsprogramme abrufen.«
»Ohne den richtigen Zugangscode können Sie das auch nicht«, klärte ihn Braithwaite auf. »Falls Sie sich aber mal langweilen sollten und dort reinschauen möchten, könnte ich Ihnen vielleicht eine Genehmigung besorgen. Die Codes für die medizinische Bibliothek werden Sie allerdings nicht bekommen. Spielt zum Beispiel bei einer Krankheit Hypochondrie eine gewisse Rolle, dann sollte man den betreffenden Patienten nicht den Zugang zu einer praktisch unbegrenzten Anzahl von Symptomen erlauben.«
Hewlitt mußte unwillkürlich lachen: »Ich verstehe.«
Bevor Braithwaite antworten konnte, meldete sich erneut die Bibliotheksstimme: »Achtung! Die vorhandenen Daten über den Planeten Etla sind zur Zeit noch nicht ganz vollständig. Nach dem großangelegten Polizeieinsatz des Monitorkorps gegen das damalige etlanische Imperium und der anschließenden Aufnahme des Planeten als Mitglied der galaktischen Föderation vor siebenundzwanzig Standardjahren wurde aufgrund einer Periode sozialer Unruhen der Speicherung von Informationen über etlanische Botanik in der zentralen Datenbank nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die politische Lage auf dem Planeten ist heute stabil. Die intelligente Lebensform der Einheimischen ist in die physiologische Klassifikation DBDG einzuordnen und nicht feindselig, so daß Besuche anderer Bürger der Föderation begrüßt werden. Bitte geben Sie den Bereich ein, für den Sie sich interessieren.«
Ein großangelegter Polizeieinsatz also, dachte Hewlitt. Folglich hatte ein erbitterter und glücklicherweise nur kurz andauernder interstellarer Krieg stattgefunden, der zwischen dem etlanischen Imperium und der Föderation ausgefochten worden war. Der Krieg brach damals aus, weil der Imperator seine Macht unter Beweis stellen mußte, um so die Aufmerksamkeit der Bevölkerung von den eigenen Unzulänglichkeitenabzulenken. Da die Aufgabe des Monitorkorps darin bestand, den Frieden der Föderation zu wahren, nicht aber Kriege zu führen, stellte sich die Reaktion dieses galaktischen Sektors auf die Invasion der Etlaner eher als ein Polizeieinsatz und weniger als ein Krieg dar. Die Tatsache, daß wieder Frieden und Stabilität auf den etlanischen Planeten eingekehrt waren, bedeutete natürlich auch, daß die Föderation gesiegt hatte.