Der Wiedersacher
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Auf der Suche nach einer Tankstelle sto?en Brenner und Astrid auf ein seltsames, uraltes Kloster, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Doch allzuschnell holt sie die Gegenwart ein. ?ber ihren H?uptern bricht ein flammendes Inferno aus, als ein arabischer Terrorist und die US-Luftwaffe sich ein letztes Gefecht liefern. Danach geschehen Zeichen und Wunder: Menschen, die Brenner vergl?hen sah, sind noch am Leben, und ein unheimlicher Priester enth?llt ihm die unglaubliche Kunde, da? das Ende der Welt angebrochen sei und der Widersacher nun auf Erden wandle.
"Mit diesem neuen Roman wird Bestseller-Autor Wolfgang Hohlbein seine Fan-Gemeinde sicher noch vergr??ern k?nnen. Die irrwitzige Mischung aus Spannung, Fantasy und Horror l??t den Leser eintauchen in eine atemberaubene Lekt?re, von der man nicht so schnell los kommt." Berliner Morgenpost
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Hinter ihm bewegte sich etwas. Ein Schatten näherte sich, dann ein zweiter, dritter … Keiner der anderen Männer trug eine Fackel, so daß die meisten bloße Umrisse in der Dunkelheit blieben, aber er kannte sie zu gut, um nicht zu wissen, wer sie waren. Er versuchte sich aufzurichten, aber die Stricke, mit denen er gebunden war, hinderten ihn daran. Alles, was er tun konnte, war den Kopf zu drehen und die beiden Gestalten anzublicken, die unmittelbar hinter Judas aufgetaucht waren.
»Ihr also auch?« murmelte er. »Selbst du, Simon? Johannes? Ihr alle? Haßt ihr mich auch?«
»Niemand tut das, Herr. « Der Fischer kam näher, bis sein Gesicht fast in den Bereich der lodernden Flammen geriet, die Judas' Fackel versprühte. Er schien die Hitze nicht einmal zu spüren. »Wir alle lieben dich, Herr. Mehr, als du dir vorstellen kannst. Selbst er. « Er legte Judas die Hand auf die Schulter und lächelte. Judas wich einen Schritt zur Seite, so daß Simons Hand von seiner Schulter glitt.
»Zürne ihm nicht. Er ist verwirrt, und er sucht einen Schuldigen, für das, was er selbst getan hat. Er würde dir nie etwas zuleide tun. Keiner von uns würde das. Wir alle gäben freudig unser Leben, um das deine zu beschützen. «
»Dann laßt mich frei«, verlangte er.
Simon senkte den Blick. Tränen liefen über sein Gesicht. Aber seine Stimme war fest, als er weitersprach. »Das … können wir nicht, Herr. Sie würden dich töten, wüßten sie, daß du noch am Leben bist. «
»Niemand kann mich töten«, antwortete er. »Nur der, der mich geschickt hat. Glaubt ihr wirklich, ihr könntet euch SEINEM Willen widersetzen? «
Simon, den er den Fels genannt hatte, sagte nichts dazu, aber die Antwort war deutlich auf seinem Gesicht zu lesen. Er glaubte es nicht. Er wußte, daß sie es nicht konnten. Und trotzdem würden sie es versuchen.
»Warum? « fragte er. »Habt ihr denn nichts von dem verstanden-, was ich euch gelehrt habe? War denn alles falsch? «
»Nein!« Simon schrie fast. Sein Gesicht war ein einziger Ausdruck entsetzlicher Pein. »Es war richtig, Herr. Es war zu richtig. Nicht du bist es, der etwas falsch gemacht hat. Wir sind es, Herr. Nur wir. Judas hat recht. Wir sind schwach. Wir sind voller Mängel und Fehler, und wir verfallen nur zu leicht der Verlockung des Bösen. Du verlangst zu viel von uns, Herr. Unsere Welt ist noch nicht reif für deine Art der Gerechtigkeit. «
»Es ist nicht meine Gerechtigkeit«, erinnerte er. »Auch ich bin nur ein Werkzeug. «
»Aber wir sind noch nicht bereit«, erwiderte Simon. »Sie haben versucht, dich zu töten, weil sie dich fürchten. Weil sie spüren, daß du ihnen den Untergang bringst. Die Welt ist noch nicht reif für deine Lehre. Wir müssen sie vor dir beschützen. Und dich vor ihr. «
»Was also habt ihr beschlossen? « fragte er.
Simon zögerte lange mit der Antwort. Er hatte nicht die Kraft, ihm in die Augen zu blicken, als er es schließlich tat, und mit Ausnahme Judas Ischariots kam auch keiner der anderen näher, sondern sie blieben Schatten jenseits des unsicheren Lichtkreises, den seine Fackel schuf.
»Sie halten dich für tot, und wir wollen, daß es so bleibt«, sagte Simon. »Du wirst diesen Ort nicht mehr verlassen. Diesen oder einen anderen, sichereren, den es zu finden gilt. «
»Ein Gefängnis, meinst du.«
»Ich wollte, du würdest es nicht so nennen«, flüsterte Simon. »Aber vielleicht hast du recht. Ja, du hast recht. Es ist ein Gefängnis. Wir müssen es tun, versteh doch! Wir können uns deinem Gericht nicht stellen! Noch nicht! Wir sind noch nicht bereit! Wir … wir sind nur Kinder, die Zeit brauchen, zu lernen! Ich flehe dich an, Herr, gib uns diese Zeit! Unser Volk ist vielleicht nicht vollkommen, aber … aber es hat eine Gnadenfrist verdient. «
Und es hatte diese Frist bekommen. Er war diese Gnade gewesen; längst nicht die erste, aber vielleicht die letzte, die man den Bewohnern dieser Welt eingeräumt hatte.
Simon glaubte ihn vielleicht zu kennen, und auf seine Weise hatte er sicher recht damit; trotzdem wäre er sehr erstaunt gewesen, hätte er gewußt, wie gewaltig die Langmut dessen gewesen war, der ihn hierhergeschickt hatte.
Er sprach nichts von alledem aus, aber er wußte, daß Simon die Wahrheit in seinem Blick las. Simon war auf seine Weise etwas sehr Besonderes, auch wenn er es selbst nicht einmal ahnte: Es war ihm niemals gelungen, irgend etwas vor ihm zu verheimlichen.
»Dann läßt du uns keine Wahl«, sagte Simon traurig. »Ich bete darum, daß wir mit dieser Schuld leben können. Aber wir müssen es versuchen. Um unserer Kinder willen, und der tausendmal tausend anderen dort draußen. «
»Und was wollt ihr tun?« fragte er. »Mich töten?« Er lächelte. »Selbst wenn ihr es könntet, es würde nichts ändern. An meiner Stelle würde ein anderer kommen. Ich bin kaum mehr als ihr, gegen den, der mich geschickt hat. Nur ein Werkzeug. «
»Sind wir das nicht alle?« murmelte Simon. Dann gab er sich einen sichtbaren Ruck, straffte die Schulter und fuhr mit lauterer, wieder fester Stimme fort: »Wir werden dein Werk fortsetzen, Herr. Wir werden in die Welt hinausgehen und deine Lehren verbreiten, und wir werden versuchen, die Menschen auf den Weg zu führen, den du uns gezeigt hast. Jeder einzelne von uns wird sein Leben dafür einsetzen, das verspreche ich dir. DeinTod wird der Grundpfeiler unserer Macht werden. Wir werden zu Ende bringen, was du begonnen hast. Aber wir können dich nicht gehen lassen, denn diese Welt braucht Zeit. Mehr, als du ihr geben kannst. «
»Mehr, als ich ihr geben darf«, sagte er traurig. »Glaubt ihr wirklich, ihr könntet mich binden? Mit Gewalt?«
»Ja«, antwortete Simon mit fester Stimme. »Du hast uns viel gelehrt, Herr, und wir waren gute Schüler. Unsere Kraft wird reichen.«
Die Kraft, die er sie gelehrt hatte. Glaubten diese Narren denn wirklich, ihn mit seiner eigenen Macht schlagen zu können? Für einen Moment flammte heißer Zorn in ihm auf; ein Gefühl, das ihm vollkommen fremd gewesen war, bevor er auf diese Welt kam und diese schwachen und auf sonderbare Weise zugleich so starken Wesen kennenlernte, über die er richten sollte, und für einen noch kürzeren Moment war er versucht, einfach aufzustehen und seine Fesseln zu sprengen und ihnen zu zeigen, welche Gewalten sie wirklich herausgefordert hatten.
Er tat es nicht. Der Zorn verging, aber auch die Trauer, die er bisher empfunden hatte, kehrte nicht sofort zurück. Plötzlich verstand er Simon und die anderen, und mit diesem Verstehen ging noch etwas anderes einher: ein weiteres, ihm bisher völlig unbekanntes Gefühl, das ihn in seiner Gewaltigkeit schier erstarren ließ. Bewunderung. Ein Erschauern vor dem Mut, den Simon und die anderen aufbrachten, ihm, einem GOTT, zu widersprechen. Vielleicht war er das, wofür sie ihn hielten, vielleicht auch nicht, aber seine Macht kam der eines Gottes gleich; die Macht, Welten zu erschaffen, aber auch zu zerstören, mit nichts mehr als der Bewegung einer Hand und der Kraft eines Gedankens.
Und trotzdem wagten es diese winzigen, verwundbaren Wesen, ihm zu trotzen. Mehr noch – sie wagten es, das Schicksal selbst und sogar den, der hinter ihm stand, herauszufordern, einfach nur, weil sie glaubten, daß ihr Volk diese Chance verdiente. Sie erbaten sie nicht von ihm. Sie forderten sie. Und verdiente ein Volk, das solche Tapferkeit hervorbrachte, nicht tatsächlich diese eine, vielleicht allerletzte Chance?
Die Gewalten, die zu entfesseln er im Begriff gewesen war, zogen sich wieder zurück.
Für eine Weile.
Sie sollten ihre Gnadenfrist bekommen.
Der Himmel über dem Wald war noch immer schwarz, als Brenner das Kloster verließ, und das war vielleicht der erste, bewußte Gedanke, den er wieder dachte, seit er aus dem Kerker hinaufgestiegen war: Der JüngsteTag war keinTag, sondern eine Nacht. Ein Morgen ohne Dämmerung, dem – wenn überhaupt jemals – ein Sonnenaufgang über einer Welt folgen würde, die nichts, aber auch gar nichts mehr mit der gemein hatte, die er kannte.