Gebirgspass
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Auf einem fremden Planeten k?mpft seit sechzehn Jahren ein H?uflein Erdenmenschen den Kampf um’s ?berleben.
Durch eine Havarie ihres Raumschiffes, durch hohe Radioaktivit?t im Schiff und eisige K?lte au?erhalb gezwungen, den Landeplatz zu verlassen, sto?en sie endlich nach qualvoller, viele Todesopfer kostender ?berwindung einer Gebirgskette auf ein w?rmendes Niederungsgebiet. Die ?berlebenden versuchen, sich der „Wildnis“ anzupassen. Die „Erdgeborenen“ wissen um die Gefahr des Vergessens, ahnen den bereits sp?rbaren R?ckfall in eine „Urzeit“, wenn es ihnen nicht gelingt, moralische und ethische Werte der menschlichen Zivilisation und deren jahrtausendealtes Wissen weiterzugeben an die „Jugend“, damit diese die Kraft aufbringt, eines Tages den Pa? zu bezwingen, um zu dem Raumschiff zu gelangen, in der Hoffnung auf eine R?ckkehr zur Erde …
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Vor der Tür mit der Nummer vierundvierzig blieb Oleg lange stehen. Er konnte sich nicht entschließen, sie zu öffnen, obwohl er wußte, daß ihn dort nichts Besonderes erwartete. Er kannte auch den Grund für dieses Zögern.
Obwohl die Mutter und alle anderen wiederholt versichert hatten, sein Vater sei bei der Katastrophe ums Leben gekommen — im Raum mit den Triebwerken, wo bei dem Aufprall der Reaktor auseinandergebrochen war —, schien ihm insgeheim, er könnte hier in der Kajüte sein. Vielleicht war er wieder zu sich gekommen, nachdem alle, in der Annahme, er sei tot, das Weite suchten, hatte sich hierhergeschleppt und war dann erfroren. Sogar an den Tod des Vaters hatte Oleg nie richtig geglaubt, in seiner Vorstellung lebte er und wartete hier unglücklich auf die Rückkehr der anderen. Möglicherweise lag es daran, daß auch die Mutter in ihrem tiefsten Innern überzeugt war, daß ihr Mann lebte. Das war ihr Fieberwahn, ihre Krankheit, die sie sorgsam vor den anderen, selbst vor dem Sohn, verbarg, nur daß der Sohn sie genau durchschaute.
Schließlich gab sich Oleg einen Ruck und öffnete die Tür. In der Kajüte herrschte Dunkel, denn ihre Wände waren mit ganz gewöhnlicher Farbe gestrichen. Er hielt einen Augenblick inne und zündete die Fackel an; seine Augen brauchten einige Zeit, sich an das Halbdämmer zu gewöhnen. Die Kajüte bestand aus zwei Räumen. Im ersten befanden sich ein Tisch und eine Liege, auf der sein Vater geschlafen hatte, im zweiten, sich daran anschließenden, hatte die Mutter mit ihm, dem Kleinkind, gewohnt.
Die Kajüte war leer, der Vater also doch nicht hierher zurückgekehrt. Die Mutter hatte sich geirrt.
Freilich wartete eine andere Überraschung auf ihn, eine andere Erschütterung. Es war der Ausdruck jenes Zeitenzipfels, jener Pause, in der das Schiff verharrte, seit es von den Menschen verlassen worden war, und die zu dem Tag herüberreichte, da Oleg nun zu ihm zurückkehrte.
In dem kleinen Raum stand ein Kinderbettchen. Oleg begriff sofort, daß diese Vorrichtung mit den seitlich herabbaumelnden Gurten — weich und scheinbar in der Luft schwebend — für einen Säugling bestimmt war. Und alles wirkte so, als hätte man das Kind eben erst, vor einer Minute, in aller Hast hinausgetragen, sogar ein winziges rosa Strümpfchen und eine Klapper, ein buntes Rasselspielzeug waren zurückgeblieben. Oleg, der noch nicht begriffen hatte, daß er in diesem geschützten Gebiet stillstehender Zeit mit sich selbst konfrontiert wurde, hob die Klapper auf und schüttelte sie. Und erst in dem Augenblick, beim Geräusch der Klapper erkannte er, so seltsam das sein mochte, die Realität des Schiffes an, die Realität dieser Welt, die ihn auf einmal viel tiefer und wirklicher dünkte als die Existenz der Siedlung und des Waldes. Im gewöhnlichen Leben war es nicht möglich, sich selbst zu begegnen. Die Gegenstände verschwanden, und blieb doch einmal etwas übrig, dann als Erinnerung.
Hier aber, am Bettrand befestigt, hing noch das Fläschchen mit einem Rest Milch; die Milch war zwar gefroren, doch man konnte sie aufwärmen und austrinken.
Als er sich aber so dem eigenen Ich gegenübersah, als er diese Begegnung nun endgültig begriffen und verarbeitet hatte, machte er sich auf die Suche nach den Spuren jener beiden anderen Menschen, die jenseits der angehaltenen Zeit zurückgeblieben waren — auf die Suche nach Vater und Mutter.
Die Mutter zu finden war leichter. Sie war von hier fortgerannt, ihn, Oleg, auf dem Arm, und so lag auf ihrem Bett im Hintergrund der Kajüte — ein geknülltes Häufchen — ihr in aller Hast abgestreifter Morgenrock. Ein Hausschuh schaute unter dem Bett hervor; das Buch, in ein Blatt Papier geschlagen, lag auf dem Kissen. Oleg hob das Buch auf, vorsichtig, weil er fürchtete, es könnte zerfallen wie jene Pflanze im Korridor. Doch das Buch hatte den Frost bestens überstanden. Es trug den Titel „Anna Karenina“ und war von einem Mann namens Tolstoi geschrieben. Es war ein dickes Buch, und auf dem Lesezeichen darin waren ein paar Formeln hingekritzelt “
die Mutter war Chemikerin. Oleg hatte noch nie die Handschrift seiner Mutter gesehen — im Dorf gab es kein Papier zum Schreiben. Er hatte auch noch nie ein Buch zu Gesicht bekommen, denn niemandem war es in jenem Moment eingefallen, so etwas mitzunehmen. Oleg hatte den Namen des Schriftstellers im Unterricht gehört, bei Tante Luisa, er hätte aber nie gedacht, daß jemand so ein dickes Buch schreiben könnte. Er nahm es mit dem festen Entschluß an sich: Und würde der Rückweg noch so schwer werden — das Buch mußte mit. Ebenso wie das Blatt Papier mit den Formeln. Nach einigem Überlegen packte er auch die Hausschuhe der Mutter in den Sack. Sie kamen ihm zwar reichlich eng vor für die alten kaputten Füße der Mutter, doch sie sollte sie wiederhaben.
Die Spuren des Vaters dagegen, so dinglich augenscheinlich sie waren, übten auf Oleg erstaunlicherweise weniger Wirkung aus als die Begegnung mit sich selbst. Es mußte daran liegen, daß der Vater zum Zeitpunkt der Katastrophe nicht bei ihnen gewesen war. Kurz vorher zum Wachdienst aufgebrochen, hatte er als akkurater Mensch, der keine Unordnung duldete, gründlich aufgeräumt. Seine Bücher standen hinter Glas aufgereiht im Regal, die Sachen hingen in einem Wandschrank … Oleg holte die Uniform des Vaters heraus — er hatte sie auf dem Schiff offenbar nie getragen, denn sie wirkte, aus blauem, kräftigem Stoff gefertigt, noch fast neu. Auf der Brust befanden sich oberhalb der Jackentasche zwei Sternchen, und die Hose war mit schmalen Goldlitzen versehen. Oleg hielt sich die Uniform an, sie war ihm etwas zu groß. Er zog die Jacke über seine, und sie paßte ihm fast, nur die Ärmel mußte er ein Stück umschlagen; ebenso ging es ihm mit den Hosenbeinen. Er fühlte sich bequem in der Uniform und glaubte sich auch im Recht: Wäre der Vater bei ihnen im Dorf, hätte er ihm gewiß erlaubt, sie hin und wieder anzuziehn.
Jetzt hatte Oleg endgültig Besitz vom Schiff ergriffen.
Er war überzeugt, daß er, wieder in den Wald zurückgekehrt, immer Sehnsucht nach ihm haben würde.
Es würde ihn zum Schiff ziehn wie den Alten, wie Thomas, und er sah auch nichts Verwerfliches darin. Es bedeutete den Sieg des Alten, der nicht wollte, daß die Jungen im Dorf Teil des Waldes wurden. Nun verstand Oleg in aller Deutlichkeit, wie und warum der Alte so dachte, seine Worte bekamen einen Sinn, den man nur hier erfassen konnte.
Dann kam Oleg auf die Idee, die Tischplatte hochzuklappen, auf deren Innenseite sich ein Spiegel befand. Der Junge hatte sein Gesicht bisher nur in dem kleinen Teich gesehen und in einem kleinen Spiegelscherben, den Kristina wie ein Heiligtum hütete. In einen richtig großen Spiegel dagegen hatte er noch nie geschaut. Wie er sich jetzt aber darin betrachtete, wurde ihm plötzlich die Zweiteilung seiner Person bewußt, eine Zweiteilung, die nichts Widernatürliches besaß: Dort, hinter der geöffneten Tür, war er eben noch der einjährige Oleg gewesen, der nicht einmal seine Milch ausgetrunken hatte, hier aber stand er in der Uniform des Vaters vor dem Spiegel, auch wenn er dem Vater kaum ähnelte, denn seine Haut war vom Frost verfärbt, das Gesicht dunkelverwittert und von frühen Falten durchzogen, hervorgerufen durch ständigen Hunger und rauhes Klima. Dennoch war er herangewachsen und hierher zurückgekehrt, er hatte die Uniform des Vaters angelegt und war zum Besatzungsmitglied des Raumschiffs „Pol“ geworden.
Im Schreibtisch fand er das Notizbuch des Vaters, es war zur Hälfte unbeschrieben — mindestens hundert weiße leere Blätter, ein regelrechter Schatz für den Alten! Er würde den Kindern im Unterricht bestimmte Dinge darauf aufmalen können, so daß sie begriffen und eine Vorstellung von ihnen bekamen, denn sie sollten, wenn sie groß waren, unbedingt zum Schiff zurückkehren. Oleg fand auch ein paar farbige Stereobilder von verschiedenen Erdenstädten, die er gleichfalls einpackte. Dann gab es da noch Dinge, die Oleg unverständlich waren und die er vorerst nicht anrührte — der Rückweg zur Siedlung wäre ohnehin schwierig genug. Einen der Gegenstände nahm er aber doch mit, denn ihm wurde sofort klar, worum es sich handelte, und er begriff, daß Sergejew und Waitkus glücklich darüber sein würden. Waitkus hatte ihm diesen Gegenstand des öfteren auf feuchten Lehm gemalt und dabei stets ausgerufen: „Ich werde mir nie verzeihen, daß keiner von uns daran gedacht hat, den Blaster mitzunehmen!“ Worauf der Alte jedesmal erwiderte: „Du machst dir ganz umsonst Vorwürfe. Um den Blaster zu holen, hätte man zur Kommandobrücke zurück gemußt, dort aber herrschte bereits eine tödliche Strahlung.“ Wie sich nun herausstellte, befand sich die Waffe beim Vater im Schreibtisch.