Gebirgspass
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Auf einem fremden Planeten k?mpft seit sechzehn Jahren ein H?uflein Erdenmenschen den Kampf um’s ?berleben.
Durch eine Havarie ihres Raumschiffes, durch hohe Radioaktivit?t im Schiff und eisige K?lte au?erhalb gezwungen, den Landeplatz zu verlassen, sto?en sie endlich nach qualvoller, viele Todesopfer kostender ?berwindung einer Gebirgskette auf ein w?rmendes Niederungsgebiet. Die ?berlebenden versuchen, sich der „Wildnis“ anzupassen. Die „Erdgeborenen“ wissen um die Gefahr des Vergessens, ahnen den bereits sp?rbaren R?ckfall in eine „Urzeit“, wenn es ihnen nicht gelingt, moralische und ethische Werte der menschlichen Zivilisation und deren jahrtausendealtes Wissen weiterzugeben an die „Jugend“, damit diese die Kraft aufbringt, eines Tages den Pa? zu bezwingen, um zu dem Raumschiff zu gelangen, in der Hoffnung auf eine R?ckkehr zur Erde …
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Als Dick jedoch zum Aufbruch rief, zeigte Oleg auf den Fleck, den er entdeckt hatte. Sie begaben sich gemeinsam hin. Sie gingen mit jedem Schritt schneller — das Schwerste war ja, aufzustehn und sich in Bewegung zu setzen, vor allem wenn man wußte, daß es nichts zu essen, nicht mal Feuerholz gab.
Der Fleck entpuppte sich als kurze blaue Jacke aus dünnem, kräftigem Stoff. Sie war halb frei Schnee, und der eine Ärmel, noch immer froststarr, ragte in die Höhe. Dick kratzte den Schnee ringsum weg, um die Jacke gänzlich herauszuziehn, doch Oleg wurde plötzlich von krankhafter Ungeduld ergriffen.
„Nicht nötig“, sagte er heiser, „laß daß. Wir sind bald am Ziel, verstehst du, wir sind auf dem richtigen Weg!“
„Es ist eine stabile Jacke“, erwiderte Dick, „wir können sie gut gebrauchen. Marjaschka ist völlig durchgefroren.“
„Ich brauche sie nicht“, sagte Marjana, „wir wollen weiter.“
„Dann geht, ich hol euch ein“, sagte Dick halsstarrig.
„Geht nur.“
Sie setzten ihren Weg fort, und eine Viertelstunde später war Dick, die Jacke in der Hand, bei ihnen. Doch Marjana weigerte sich, das Kleidungsstück überzuziehn, sagte, es sei naß und klamm. Entscheidend freilich war, daß es sich um die Jacke eines Fremden handelte. Wenn aber jemand sie abgelegt oder zurückgelassen hatte, so bedeutete das bestimmt, daß er ums Leben gekommen war so wie damals viele. Es war ja bekannt, daß seinerzeit sechsundsiebzig Menschen vom Paß aufgebrochen, jedoch nur gut dreißig Mann im Wald angekommen waren. Und Marjana hatte Angst, jene zu entdecken, die das Ziel nicht erreicht hatten.
Zum Paß gelangten sie auch an diesem Tag nicht, obwohl Oleg glaubte, er müsse jeden Augenblick auftauchen — nur noch die Gletscherzunge dort umgehen, dann würde er zu sehen sein, jenen Geröllhang bewältigen, dann läge er vor ihnen … Danach allerdings würde der Aufstieg immer steiler, die Luft immer dünner werden.
Sie übernachteten, oder genauer, warteten die Dunkelheit ab, indem sie sich zu einem Häufchen zusammendrängten, sämtliche Decken und das Zelt um sich wickelten. Die Kälte machte es ohnehin fast unmöglich zu schlafen, sie sanken lediglich für Augenblicke ins Vergessen und tauchten wieder daraus empor, um ihre Plätze zu tauschen. Von Marjana, die in der Mitte lag, ging kaum noch Wärme aus — sie war irgendwie körperlos und spitz geworden, zerbrechlich wie Vogelknochen. Im Morgengrauen erhoben sie sich, über ihnen breitete sich blauer Sternenhimmel aus, doch ihnen stand nicht der Sinn danach. Dann wurde es allmählich hell, und eine kalte, grelle Sonne, wie die drei sie noch nie gesehen hatten, schimmerte durchs Nebelgespinst. Doch auch hierfür hatten sie im Augenblick keinen Sinn. Sie trotteten dahin, umgingen Eisspalten, Geröllhänge und Felsgesimse. Dick schritt starrsinnig vorneweg und wählte den Weg aus, wobei er öfter hinfiel als die anderen, doch er wollte um keinen Preis die Führerrolle aufgeben. So erreichte er auch als erster den Paß, ohne sich darüber im klaren zu sein, denn der Hang, den sie die ganze Zeit über mühsam erklommen hatten, war unmerklich eben geworden, hatte sich in ein Hochplateau verwandelt. Erst da erblickten sie die Zacken des Gebirgskammes vor sich, eine ganze Gletscherkette, glitzernd unter der Sonne. Eine Stunde später öffnete sich plötzlich ein Tal zu ihren Füßen, in dessen Mitte eine runde Scheibe aus dunklem Metall zu sehen war. Sogar von hier, aus einem Kilometer Höhe, wirkte sie gigantisch. Sie lag schräg in den Schnee gedrückt, genau im Zentrum des Talkessels. Der Kommandant hatte das Schiff gerade noch bis hierher manövrieren können, als nach einer Explosion im Triebwerk die Instrumente versagten. Er landete mit seinem Schiff in diesem Talkessel bei Schneesturm, Nacht und Nebel zu einer Zeit, da bitterer Winter herrschte.
Sie standen nebeneinander. Drei zerlumpte, entkräftete Wilde, die Armbrust auf der Schulter, den Sack aus Tierhäuten auf dem Rücken, drei abgerissene, von Frost und Schnee versengte, vor Hunger und Erschöpfung schwarz gewordene Menschen, drei mikroskopisch kleine Gestalten in dieser fremden, riesigen, leeren und stummen Welt, und starrten auf das tote Schiff, das vor sechzehn Jahren auf den Planeten gestürzt war, ohne jemals wieder aufsteigen zu können.
Dann begannen sie den Abstieg über den Steilhang, sich an Steinen festklammernd, bemüht, auf dem unsicheren Geröll nicht ins Laufen zu kommen. Und doch, und obwohl ihnen die Beine fast den Dienst versagten, rannten sie immer schneller.
Nach einer weiteren Stunde waren sie auf der Talsohle angelangt.
Vor sechzehn Jahren war Oleg reichlich ein Jahr gewesen, Dick knapp zwei, Marjana aber noch gar nicht auf der Welt. Und so wußten sie natürlich nichts mehr von der Landung des Forschungsschiffes „Pol“ hier in den Bergen.
Ihre ersten Erinnerungen waren mit der Siedlung verbunden, mit dem Wald; das Verhalten der flinken roten Pilze und der Räuberlianen lernten sie eher kennen als die Überlieferungen der Alten von den Sternen und der anderen Welt. Der Wald war ihnen viel verständlicher als die Erzählungen über Raketen oder Häuser, in denen an die tausend Menschen wohnten. Die Gesetze des Waldes, die Gesetze der Siedlung, geboren aus der Notwendigkeit, ein Häuflein von Menschen am Leben zu erhalten, die an eine solche Existenz nicht gewöhnt waren, die simplen Gesetze des Überlebens, taten das Ihrige, die Erinnerung an die Erde aus den Hirnen zu verdrängen. Statt dessen erwuchs die abstrakte Hoffnung in ihnen, daß man sie irgendwann finden und alles ein Ende haben würde. Doch wie lange würden sie dulden und ausharren müssen? Zehn Jahre? Die waren bereits vergangen. Hundert Jahre? Das würde bedeuten, nicht sie, sondern erst ihre Urenkel könnten gerettet werden. Vorausgesetzt, sie hätten überhaupt Urenkel, und es gelänge ihnen und der ganzen Siedlung, diesen Zeitraum durchzustehn. Die Hoffnung der Alten existierte für die nachfolgende Generation im Grunde schon nicht mehr, war eher störend für das Leben im Wald.
Dennoch konnten die Alten nicht anders, als diese Hoffnung an die Jungen weiterzugeben, weil selbst der Tod für die Menschen an Schrecken verlor, wenn sie um die Fortführung ihres Geschlechts wußten. Der Tod wird erst dann zu etwas Endgültigem, wenn nicht nur du selbst mit ihm verschwindest, sondern auch all das, was dich mit dem Leben verbindet.
Deshalb waren der Lehrer und die Alten bestrebt, jeder so gut er konnte, den Kindern ein Zugehörigkeitsgefühl zur Erde zu vermitteln, den Gedanken, daß ihre Abgeschiedenheit früher oder später ein Ende finden würde. Auf dieser Verbindungssprosse zur Welt aber stellte das Schiff hinter dem Paß etwas Reales dar. Es existierte, war erreichbar, und wenn nicht in diesem tausend Tage währenden endlosen kalten Winter, so doch im nächsten, wenn die Kinder herangewachsen waren und den Paß auf eigenen Beinen bewältigen konnten.
Vorausgesetzt, sie wollten es noch, denn innerlich hatten sie sich bereits von der Erde gelöst, das Schiff war etwas Fremdes für sie, der Wald dagegen ihr Zuhause. Das gab ihnen einerseits die Chance zu überleben, die den Alten genommen war, andererseits drohte der Siedlung, dieser kleinen Menschenkolonie, hierdurch letztendlich der Tod.
Dick, Oleg und Marjana stiegen in den Talkessel hinab, zum Schiff, und obwohl es vor ihren Augen wuchs, riesig und faßbar vor ihnen lag, blieb es doch nur Legende, eine Gralsschale. Keiner von ihnen hätte sich gewundert, wenn es bei der ersten Berührung in Staub und Asche zerfallen wäre. Sie waren zum Haus ihrer Väter zurückgekehrt, das sie erschreckte, weil es sich in diesem kalten Tal befand.
Vorher hatte es ja nur in ihren Träumen und in den Legenden existiert, die ihnen bei mattem Lampenschein erzählt wurden, wenn draußen, hinter dem schmalen, durch einen Vorhang aus Fischhaut geschützten Fensterschlitz der Hütte der Schneesturm heulte.
Die Existenz des Schiffes ließ die Träume und Legenden wieder auferstehn, verlieh ihnen einen neuen Sinn und verband die abstrakten, ungenauen Bilder, die ihnen die Vorstellung eingegeben hatte, mit der Realität des Giganten da vorn. Diesen Widerspruch hatten die Alten nie begriffen, denn hinter der Schilderung der Katastrophe, der plötzlich einbrechenden Kälte und Finsternis, hinter dem Bericht über die leeren Korridore, in denen nach und nach das Licht verlosch, während von draußen trockene Schneeflocken hereindrangen — hinter all dem verbargen sich ganz konkrete Korridore und Lampen, das Schweigen der Hilfstriebwerke und das Ticken der Strahlungsmesser.