Gebirgspass
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Auf einem fremden Planeten k?mpft seit sechzehn Jahren ein H?uflein Erdenmenschen den Kampf um’s ?berleben.
Durch eine Havarie ihres Raumschiffes, durch hohe Radioaktivit?t im Schiff und eisige K?lte au?erhalb gezwungen, den Landeplatz zu verlassen, sto?en sie endlich nach qualvoller, viele Todesopfer kostender ?berwindung einer Gebirgskette auf ein w?rmendes Niederungsgebiet. Die ?berlebenden versuchen, sich der „Wildnis“ anzupassen. Die „Erdgeborenen“ wissen um die Gefahr des Vergessens, ahnen den bereits sp?rbaren R?ckfall in eine „Urzeit“, wenn es ihnen nicht gelingt, moralische und ethische Werte der menschlichen Zivilisation und deren jahrtausendealtes Wissen weiterzugeben an die „Jugend“, damit diese die Kraft aufbringt, eines Tages den Pa? zu bezwingen, um zu dem Raumschiff zu gelangen, in der Hoffnung auf eine R?ckkehr zur Erde …
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„Marjaschka, mach etwas Wasser heiß …“ Oleg glaubte, daß seine Stimme laut und fest klang, in Wirklichkeit flüsterte er fast tonlos. „Für Thomas … ihm geht’s nicht gut …“ Marjana begriff. „Aber natürlich, Oleshka, gleich.“
Dabei wandte sie keinen Blick von Dick.
„Hab ich mir’s doch gedacht“, schimpfte Dick, „sie ist zurück ins Tal. In der Nacht kann sie gut gern zwanzig Kilometer geschafft haben.“
„Bleib hier, Dick“, sagte Thomas plötzlich laut und deutlich artikuliert. „Marjaschka wird die Ziege selber finden. Du tötest sie doch bloß.“
„Worauf du dich verlassen kannst“, erwiderte Dick, „und ob du dich darauf verlassen kannst. Ich hab genug von dem Unsinn.“
„Ich gehe selber, ich finde sie“, Marjana hatte Olegs Bitte nach heißem Wasser vergessen. „Du darfst jetzt nicht weg von hier, Dick. Thomas ist krank, und Oleg braucht gleichfalls Hilfe.“
„Den beiden wird schon nichts zustoßen.“ Dick fuhr sich mit den Fingern zornig durch die schwarze Mähne, schüttelte den Kopf. „Du schaffst es auch allein, Marjana.“
Dann ging er mit leichten, schnellen Schritten, ohne sich nochmals umzudrehen, immer der Tierfährte nach, hinunter ins Tal, denselben Weg, den sie gestern gekommen waren.
„Mir wär’s lieber, du würdest gehn“, sagte Thomas zu Marjana, „du bringst sie wenigstens zurück. Dick aber tötet sie.“
Oleg, der sein Denkvermögen noch nicht eingebüßt hatte, obwohl die Welt um ihn her ständig Form und Proportionen wechselte, immer verschwommener und trügerischer wurde, sagte: „Man kann Dick ja verstehen … Wir haben in der Tat kein Glück.“
„Dabei ist es gar nicht mehr weit“, sagte Thomas, „ich bin ganz sicher. Wir kommen gut voran, morgen könnten wir dort sein. Bis morgen kämen wir auch ohne Fleisch hin, meint ihr nicht? Hinter dem Paß aber gibt es Nahrung, das verspreche ich euch, Freunde. Dick, ich verspreche es!“
Dick hob den Arm, gab zu verstehen, daß er Thomas’ Worte gehört hatte — die Geräusche hallten weit über den Schneehang —, verlangsamte aber den Schritt nicht.
„Wir müssen die Ziege unbedingt fangen“, sagte Thomas, erneut an Marjana gewandt, „wir brauchen sie noch. Wir dürfen sie nicht töten, darin liegt keinerlei Sinn … Ach, wie heiß mir ist … ich verbrenne … Weshalb tut mir die Leber so weh … Das ist unfair, wir sind doch schon so nahe am Ziel …“
„Er wird sie töten“, sagte Marjana, „er wird sie unweigerlich töten. Di—i–ick!“
Marjana wandte sich Thomas und Oleg zu: „Was soll ich bloß tun, sagt es mir, ihr seid doch klug, wißt immer Rat! Wie kann ich ihn zurückhalten?“
„Ich kann ihn nicht einholen“, sagte Thomas, „für ihn bin ich leider keine Autorität mehr.“ „Gleich …“ murmelte Oleg, „du mußt mich bloß losbinden … Vielleicht schaff ich’s noch bis zum Anfall, vielleicht schaff ich’s …“
Marjana winkte bloß ab, machte zwei Schritte hinter Dick her, kehrte wieder um, sah die beiden an. „Ich kann euch doch unmöglich allein lassen.“
„So lauf endlich!“ schrie Thomas plötzlich. „Lauf so schnell du kannst!“
„Meinen Sie wirklich?“
„Lauf los“, sagte Oleg.
„Aber ihr beide allein, das geht doch nicht … Wenn plötzlich ein Tier kommt …“
„Du sollst laufen!“ wiederholte Oleg. „Und zurückkommen.“
Da rannte das Mädchen leichtfüßig, kaum den Schnee berührend, den Abhang hinunter; Dick war bereits verschwunden.
„Sie tut mir leid, die Kleine“, sagte Thomas, „sie hängt so an dem Tier.“
„Mir tut sie auch leid“, sagte Oleg. „Seltsam, Sie besitzen überhaupt keine Form mehr, sind mal dick und dann wieder ganz dünn wie ein Streichholz.“
„Ist schon klar“, erwiderte Thomas. „Entspann dich, so gut es geht. Eigenartigerweise wirkt dieses Gift zuerst aufs Sehvermögen. Ich erinnere mich noch, denn mich hat dreimal so ein Floh gebissen. Aber hab keine Angst, es bleiben keinerlei Folgen zurück, wirklich, du kannst beruhigt sein.“
„Ich glaub’s ja, trotzdem ist es furchtbar, sich zu verlieren, verstehen Sie? Eben noch bin ich es, und kurze Zeit später schon nicht mehr.“
Oleg zog es in die Tiefe, in blaues Wasser, und es war unsäglich schwer, sich an der Oberfläche zu halten, denn die Beine waren von Schlingpflanzen umwuchert, und er mußte sie losreißen, befrein, sonst würde er unweigerlich ertrinken.
Die Decke, die Marjana über Oleg gebreitet hatte, flog beiseite. Oleg, gegen die Wand gelehnt, konnte sich nicht mehr halten und fiel in den Schnee. Seine Augen waren geschlossen, die Lippen bewegten sich, das Gesicht wurde vor Anspannung und in dem Bestreben, die Fesseln zu sprengen, dunkel. Thomas wollte sich erheben, um ihm zu helfen, ihn zuzudecken oder wenigstens seinen Kopf auf die Knie zu nehmen. Es war in solchen Fällen immer günstig, den Kopf des Kranken zu halten. Thomas bemühte sich aufzustehn, doch die Beine versagten ihm den Dienst.
Oleg spannte den Rücken und schnellte buchstäblich in die Luft, er stieß sich mit den Fäusten vom Boden ab und begann den Abhang hinunterzurollen. Er überschlug sich mehrmals, prallte gegen einen aus dem Schnee ragenden Felsblock und blieb reglos liegen. Seine Jacke war zerrissen, der Schnee auf seiner nackten Brust aber taute nicht.
So geht das doch nicht, dachte Thomas entsetzt, ich muß unbedingt zu ihm! Zum Teufel mit der Ziege, zum Teufel mit Dick und seinem Komplex, unbedingt den starken Mann zu spielen. Dabei ist er davon überzeugt, im Recht zu sein, das Wohl aller im Sinn zu haben. Von seinem Standpunkt aus hat er sogar wirklich recht, aber nur, weil er unfähig ist, einen Blick in die Zukunft zu werfen … Wie schnell doch der zivilisierte, in der Gemeinschaft lebende Mensch zum Wilden wird. Wir hätten es nicht zulassen dürfen, daß unsre Kinder wie die jungen Wölfe aufwuchsen, nur damit sie sich besser im Wald zurechtfanden. Aber wir hatten ja keine Wahl. In all den fünfzehn Jahren haben wir, die Erwachsen es einfach nicht zuwege gebracht, zum Paß vorzudringen. Und es hätte auch nie Hoffnung gegeben, wären nicht solche Jungs wie Dick und Oleg herangewachsen … Himmel, muß mein Fieber hoch sein … bestimmt über vierzig … Wie weh das Atmen tut — das ist eine doppelseitige Lungenentzündung, um das zu erkennen, braucht man kein Arzt zu sein. Wenn ich das Raumschiff nicht erreiche, ist’s aus mit mir, dann hilft mir auch kein Ziegenfleisch mehr. Vor allem aber muß ich auf eignen Füßen zum Schiff gelangen — die Kinder können mich unmöglich bis zum Paß schleppen … Gott, wie mag es Oleshka gehn? Dieser Floh ist der Gipfel allen Unheils, er ist wie ein Verhängnis, das sich im Wald und in den Bergen versteckt hält, um uns daran zu hindern, zur übrigen Menschheit vorzudringen. Als wollte uns der Wald zu seinen Kindern machen, zu zweibeinigen Schakalen. Er ist bereit, unsere Siedlung zu dulden, doch nur als eine Fortsetzung seiner selbst, nicht als seine Negation … Dort hinter diesem Felsblock gähnt dunkel der Abhang. Er scheint zwar nicht sehr steil abzufallen, doch wenn Oleg in diesem Zustand abstürzt, bedeutet das seinen Tod … Wo ist hier bloß ein Strick, ich brauche einen zweiten Strick, mit dem ich Oleg an diesen Felsblock binden kann … Thomas begann sich kriechend bergab zu bewegen, ein Glück, daß es bergab ging, das war leichter, lediglich der Schnee versengte ihn. Wie war es nur möglich, daß der Schnee überallhin drang und ihm so furchtbar die Brust verbrannte. Wenn er husten mußte, tat er das möglichst sacht, damit es ihm nicht die Lungen zerfetzte. Der Husten aber sammelte sich in seiner Brust und drängte heraus, nichts konnte ihn zurückhalten.
Thomas kroch bergab und zog den Strick hinter sich her, der ihm unwahrscheinlich schwer vorkam, wie aus Blei. Der Strick verselbständigte sich und wand sich wie eine Schlange. Oleg schlug wie ein gefangener Vogel um sich, wollte die Fesseln zerreißen, und sein Nacken stieß dabei immer wieder gegen den Fels. Thomas spürte den Schmerz des Jungen fast körperlich, einen Schmerz, der Oleg zwar im Alptraum widerfuhr, nichtsdestoweniger aber real war und als Vision vor ihm erstand: Oleg glaubte in diesem Moment, ein Hausdach sei auf ihn herabgestürzt.