Zerfetzte Flaggen: Leutnant Richard Bolitho in der Karibik
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1777 — Aus der Rebellion der amerikanischen Kolonien ist ein erbitterter Krieg gegen England geworden, der die Royal Navy vor eine harte Bew?hrungsprobe stellt. Als blutjunger Offizier nimmt Richard Bolitho an den gef?hrlichen Eins?tzen des mit 80 Kanonen best?ckten Linienschiffs Trojan und den dramatischen Seegefechten in den Gew?ssern der Bahamas teil. Nach der Eroberung einer Brigg erh?lt er das Kommando ?ber diese Prise und damit die Gelegenheit, sich durch einen weiteren gewagten Handstreich ruhmreich auszuzeichnen.
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XVI Ein eigenes Kommando
Als sie weiter aus dem Schutz der Insel ins offene Wasser trieb, wurde die Yawl rasch manövrierunfähig. Mit den schweren Schäden im Schiffskörper und dem Gewicht der Waffen und Munition ging sie mit jeder Welle ihrem sicheren Untergang entgegen.
Die Brigg hatte wieder gewendet und lag nun annähernd auf Parallelkurs, während ihre Geschützbedienungen weiter auf das kleinere Fahrzeug einhämmerten, um es zur Aufgabe zu zwingen. Da gab es keinen Gedanken an Schonung oder Rettung; selbst viele der entsetzten Gefangenen fielen unter dem mörderischen Feuer.
Bolitho fand immerhin noch so viel Zeit festzustellen, daß die Brigg, offensichtlich von einer hervorragenden Werft erst vor kurzem gebaut, nicht voll bewaffnet war, sonst wäre das Gefecht längst vorüber gewesen. Nur aus der Hälfte ihrer Stückpforten wurde gefeuert, und er nahm an, daß der Rest der Geschütze wohl noch im Laderaum seiner Yawl lag. Dies war der zweite Versuch: der erste hatte viele Menschenleben und den Verlust der Spite gekostet. Es schien, als sei die Brigg gefeit gegen alle Gefahren und würde auch jetzt wieder entkommen.
Es gab einen gewaltigen Ruck an Deck, der Großtopp stürzte mitsamt der Saling in einem Gewirr von Takelage und flatterndem Segeltuch herab. Sofort bekam das Schiff schwere Schlagseite, die Männer rutschten auf dem schiefliegenden Deck, und noch mehr abgetrennte Takelage kam von oben.
Aus der offenen Luke hörte Bolitho den heftigen Wassereinbruch und die Schreie der Gefangenen, als die See durch die zersplitterten Planken der Bordwand über sie hereinbrach. Er klammerte sich an die Reling und rief:»Entlassen Sie diese Männer, Mr. Couzens! Helft den Verwundeten!«Er starrte Stockdale an, der das nutzlos gewordene Ruder losließ.»Helfen Sie ihnen!«Er bückte sich, als weiteres Gewehrfeuer dicht über ihre Köpfe pfiff.»Wir müssen von Bord!»
Stockdale warf sich einen bewußtlosen Seemann über die Schulter und schritt dann an die Reling, um sich zu vergewissern, daß der übriggebliebene Kutter noch schwimmfähig war.
«Ins Boot! Reicht die Verwundeten hinunter!»
Bolitho spürte, wie das Schiff sich noch mehr überlegte, das schrägliegende Deck noch steiler wurde. Sie sackte über den Achtersteven ab, die Heckreling und der Stumpf des Besanmastes wurden schon überspült.
Wenn nur die Brigg mit dem verdammten Beschuß aufgehört hätte! Es bedurfte nur noch einer einzigen Kugel, und die Yawl mußte den Kutter mit sich in die Tiefe reißen. Er musterte die bewegte Wasserfläche mit ihren lebhaften, weißen Schaumkämmen. Sie hatten ohnehin nur eine geringe Überlebenschance. Auf der Insel, die Meilen entfernt schien, konnte er ein paar Rotröcke erkennen und vermutete, daß der größte Teil der Marineinfanteristen zurückrannte, um in die Boote zu gehen. Aber die Rotröcke waren keine Seeleute. Bis sie sie erreicht hatten, war vermutlich alles vorbei.
Couzens stolperte keuchend heran.»Der Bug ist noch aus dem Wasser, Sir!«Er duckte sich, als ein weiterer Schuß das Großsegel in Fetzen riß.
Stockdale versuchte, wieder an Deck zu klettern, aber Bolitho rief:»Bleiben Sie weg, sie sinkt rasch!»
Mit versteinertem Gesicht, das wie eine Maske wirkte, warf Stockdale die Fangleine los und ließ den Kutter mit der Strömung freitreiben. Bolitho sah Frowd mit seinem zerschmetterten Knie sich im Boot nach achtern kämpfen, um die sinkende Yawl im Auge zu behalten, sah ihn mit blutigen Fingern den hocherhobenen Degen über seinem Kopf schwenken.
Die Brigg kürzte Segel, die Fock verschwand ganz und gab den Blick auf den Rest ihres schnittigen Rumpfes frei.
Wollen sie uns retten oder umbringen? Bolitho sagte:»Wir müssen schwimmen, Mr. Couzens.»
Der Knabe nickte heftig, unfähig zu sprechen, schleuderte die Schuhe von den Füßen und zerrte krampfhaft an seinem nassen Hemd.
Ein Schatten bewegte sich in der offenen Luke, und Bolitho glaubte, ein Verwundeter sei noch unten, aber es war ein Leichnam, der in dem jetzt hochstehenden Wasser trieb.
Couzens starrte ins Wasser und murmelte:»Ich bin kein guter Schwimmer, Sir!«Er klapperte trotz der heißen Sonne mit den Zähnen.
Bolitho blickte ihn an.»Warum, in Dreiteufels Namen, sind Sie dann nicht in den Kutter gegangen?«Im selben Augenblick bereute er seine Worte und fügte ruhiger hinzu:»Wir werden zusammenbleiben. Ich sehe dort eine geeignete Spiere…»
Die Brigg feuerte wieder, die Kugel sprang über die Wellenkämme, an dem schwankenden Kutter vorbei und schlug wie ein angreifender Schwertfisch zwischen einige zappelnde Schwimmer.
Das war also der Grund des Segelkürzens! Sie wollten sichergehen, daß die britischen Streitkräfte auch wirklich vollständig vernichtet wurden, so daß jeder Offizier es sich künftig überlegen würde, wenn er ihnen den dringend benötigten Nachschub wegnehmen wollte.
Die Yawl legte sich jetzt ganz auf die Seite, wobei sie loses Gerät und Leichen in die Wassergänge und Speigatten kippte.
Bolitho behielt die Brigg im Auge. Ohne Couzens wäre er an Bord geblieben und hier gestorben, das war ihm klar. Wenn er ohnehin sterben mußte, war es besser, dem Gegner sein Gesicht zu zeigen. Aber Couzens verdiente einen solchen Tod nicht. Für ihn mußte es noch eine Chance geben.
Die Brigg legte das Ruder hart über, ihre Rahen gerieten in Unordnung, als sie von dem treibenden Wrack abdrehte. Er konnte den
Namen lesen, als sie ihm das Heck zuwandte: White Hills. Aus dem Heckfenster starrte ihn ein entsetztes Gesicht an.
«Er dreht ab! Was denkt sich dieser Verbrecher?«Bolitho sprach laut mit sich selbst, ohne es zu wissen.»Gleich wird er sich festsegeln!»
Der Wind war zu stark für die wenigen noch stehenden Segel der Brigg. In kürzester Zeit war sie hilflos, ihre Segel standen alle back, ein einziger chaotischer Protest.
Dann gab es einen halberstickten Knall, und im ersten Augenblick glaubte Bolitho, ein Mast oder eine der großen Rahen sei gebrochen. Dann sah er mit ungläubigen Augen ein riesiges Loch im Vormarssegel der Brigg klaffen, das nun vom Wind in Streifen gerissen und an den Mast geklatscht wurde.
Er fühlte, wie Couzens ihn am Arm packte:»Das war die Trojan, Sir! Sie ist gekommen!»
Bolitho wandte sich um und sah den Zweidecker scheinbar bewegungslos im Dunst stehen, starr wie eine Fortsetzung der Inselkette.
Pears mußte es auf die Sekunde genau berechnet, mußte abgewartet haben, bis der die Brigg behindernde Wind ihn langsam quer vor deren einzigen Fluchtweg trieb.
Zwei leuchtende Zungen zuckten aus der Back, Bolitho sah im Geiste die Geschützführer vor sich, als sei er mitten unter ihnen. Wahrscheinlich überwachte Bill Chimmo, der Stückmeister der Trojan, selbst jeden sorgfältig gezielten Schuß.
Er hörte den splitternden Krach, mit dem die beiden Achtzehnpfundkugeln sich ihren Weg ins Innere der Brigg bohrten.
Dann begann das Deck unter seinen Füßen wegzusacken, und während Couzens sich wie eine Riesenschnecke an ihn klammerte, sprang er über das Schanzkleid, aber nicht bevor er ein wildes Jubelrufen vom Kutter gehört und gesehen hatte, wie die leuchtende neue Flagge an der Gaffel der Brigg niedergeholt wurde!
Selbst auf diese Entfernung hätte die Trojan mit ihrer Steuerbordbreitseite die Brigg in wenigen Minuten zerschmettern können, und ihr Kapitän wußte es. Ein bitterer Augenblick für ihn, aber viele seiner Leute würden ihm dafür danken.
Keuchend und spuckend erreichte Bolitho mit Couzens die treibende Spiere und klammerte sich daran fest.
Er brachte es fertig zu sagen:»Ich denke, Sie haben mich gerettet!«Denn im Gegensatz zu Couzens hatte er vergessen, sich seiner Sachen zu entledigen oder wenigstens seinen Degen abzuschnallen; jetzt war er dankbar für den Halt, den die Spiere ihnen gab.
Als er den Kopf über die steilen Wellenkämme zu heben versuchte, sah er den Kutter wenden und auf sie zukommen; die Seeleute lehnten sich über Bord, um einige der Schwimmer aufzunehmen oder ihnen zu gestatten, sich außen am Boot anzuklammern, da es total überfüllt war. Weiter entfernt näherten sich jetzt auch die anderen Boote: die Marineinfanteristen und die kleine, zurückgelassene Bootswache, die aus Seeleuten bestand, schafften es besser und schneller, als Bolitho erwartet hatte.