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Justiz

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Justiz
Название: Justiz
Дата добавления: 15 январь 2020
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Justiz - читать бесплатно онлайн , автор Дюрренматт Фридрих

Justiz ist ein (Kriminal-) Roman. Er behandelt den ?ffentlichen Mord eines schweizer Kantonsrates an einem Professoren; erz?hlt aus der Ich-Perspektive des jungen Anwaltes Sp?t, der den Auftrag des verurteilten Kantonsrates annimmt, den Mord unter der Annahme, dieser sei nicht der M?rder, erneut zu untersuchen.

Der junge Anwalt (…) erkennt zu sp?t, in welche Falle ihn die Justiz geraten l??t, weil er sie mit der Gerechtigkeit verwechselt. “ (Friedrich D?rrenmatt)

D?rrenmatt begann nach eigenen Worten mit der Arbeit an Justiz im Jahr 1957, der Roman sollte nach einigen Monaten abgeschlossen sein. Da jedoch Arbeit an anderen Werken dazwischen kam, blieb Justiz liegen, bis D?rrenmatt schlie?lich die Arbeit daran ganz einstellte. Im Jahr 1980 wollte er den Roman als 30. Band seiner Werkausgabe abschlie?en, scheiterte jedoch daran, dass er die urspr?nglich geplante Handlung nicht mehr rekonstruieren konnte. 1985 schlie?lich setzte er sich erneut daran, entwickelte auf dem vorhandenen Fragment eine neue Handlung; und so erschien der Roman, „wenn auch wohl in einem anderen Sinn als urspr?nglich geplant.

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«Junger Mann, haben Sie eine Chance«, staunte Stüssi-Leupin und schenkte sich erneut Wein ein.

«Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen«, antwortete ich unsicher.

«Natürlich verstehen Sie«, entgegnete Stüssi-Leupin; —»sonst wären Sie nicht zu mir gekommen. Machen wir einmal das Spiel Kohlers mit. Einmal angenommen, er sei nicht der Mörder, ist ein anderer Mörder verdammt leicht zu finden. Es kann nur Benno sein, darum schlottert er ja. Er hat über zwanzig Millionen von der vermeintlichen Steiermann durchgebracht, Winter hat die echte Steiermann aufgeklärt, die Verlobung geht in Brüche, Benno wird ruiniert, schießt Winter im >Du Théâtre<über den Haufen. Voilà. Das ist die Version, die Ihr Auftraggeber braucht und die Sie brauchen werden.»

Stüssi-Leupin hielt sein Glas gegen das Licht der Stehlampe. Vom Städtchen her tutete es herauf, minutenlang, nach den stehenden Lichtern der Scheinwerfer zu schließen, hatten sich die Autokolonnen ineinander verkeilt.

Stüssi-Leupin lachte:»Ausgerechnet einem Grünschnabel wie Ihnen muß der schönste Revisionsprozeß des Jahrhunderts in den Schoß fallen.»

«Ich habe keinen Auftrag, einen Revisionsprozeß zu führen«, sagte ich.

«Der Auftrag, den Sie angenommen haben, führt dazu.»

«Kohler hat Winter ermordet«, stellte ich fest.

Stüssi-Leupin wunderte sich.»Na und?«sagte er.»Sind Sie dabeigewesen?»

Hinten im Raum kam eine schwarze Gestalt die Holztreppe herunter und hinkte auf uns zu.

Beim Näherkommen erkannte ich, daß es sich um einen Priester handelte, der eine kleine schwarze Handtasche trug. Er blieb etwa drei Meter vor Stüssi-Leupin stehen, hustete, die Scheiben tauchten wieder herauf, die Scheinwerfer setzten ein, die granitenen Götter warfen ihre Schatten in den wieder geschlossenen Raum. Der Priester war uralt, schief, verrunzelt und hatte einen Klumpfuß.

«Ihre Frau hat die Letzte Ölung bekommen«, sagte er.

«In Ordnung«, sagte Stüssi-Leupin.

«Ich werde für sie beten«, versicherte der Priester.

«Für wen?«fragte Stüssi-Leupin.

«Für Ihre Frau«, präzisierte der Priester.

«Ihr Beruf«, antwortete Stüssi-Leupin gleichgültig und schaute auch nicht hin, als der Priester etwas murmelte und dem Ausgang zuhinkte, wo ihm die Hausdame, die auch mich hereingelassen hatte, die Türe öffnete.

«Meine Frau liegt im Sterben«, meinte Stüssi-Leupin beiläufig und trank sein Glas aus.

«Unter diesen Umständen…«, stammelte ich und erhob mich.

«Mein Gott, Spät, sind Sie zimperlich«, sagte Stüssi-Leupin.»Nehmen Sie wieder Platz!»

Ich setzte mich, er schenkte sich neu ein. Die Glaswände versanken in die Erde, die Scheinwerfer erloschen, wir saßen wieder im Freien.

Stüssi-Leupin starrte vor sich hin.

«Meine Frau hat die Größe, mir die Tortur zu ersparen, ihrem Sterben beizuwohnen«, sagte er, und es klang gleichgültig,»dazu ist der Priester bei ihr gewesen, und jetzt sind der Arzt und eine Krankenschwester bei ihr. Meine Frau, Spät, sie ist nicht nur saulebenslustig gewesen, saureich und saukatholisch, sie ist auch sauschön. Komisch, unser Schweizerdeutsch. Sie hat mich ein Leben lang betrogen. Der Arzt, der bei ihr sitzt, ist ihr letzter Liebhaber gewesen. Aber ich verstehe sie. Ein Mann wie ich ist Gift für die Weiber.»

Er lachte vor sich hin, wechselte dann unvermittelt das Thema.

Ich sei ein Narr, meinte er, ich hielte Dr. Isaak Kohler für schuldig. Er, Stüssi-Leupin, auch. Zwar widersprächen sich alle Zeugen, zwar sei die Mordwaffe nie gefunden worden, zwar fehle ein Motiv. Trotzdem. Wir hielten ihn für schuldig. Warum? Weil der Mord in einem überfüllten Restaurant geschehen sei. Die Anwesenden hätten es irgendwie bemerkt, auch wenn sie sich nun widersprächen. Wir wüßten es also nicht unbedingt, aber wir glaubten es unbedingt. Das habe ihn schon beim Prozeß gewundert. Weder sei nach dem Revolver gefragt noch seien Zeugen vernommen worden, auch habe sich der Richter mit der Aussage des Kommandanten zufriedengegeben, der zwar bei der Tat in der Nähe gesessen sei, aber weder erwähnt habe, ob er den Mord direkt gesehen oder Zeugen vernommen hatte, dazu sei der Verteidiger eine Niete und Jämmerlin in Hochform gewesen. Wir hätten unsere liebe Mühe, unser Wissen über Kohlers Schuld unserem Glauben an Kohlers Schuld anzugleichen. Unser Wissen hinke unserem Glauben hinterher, ein geschickter Verteidiger fabriziere allein aus dieser Diskrepanz schon einen Freispruch. Doch sollten wir unserem guten Jämmerlin noch eine Chance geben, nach einem Motiv zu suchen. Kohler habe mir den lukrativen Auftrag zugeschanzt, weil ich nichts von Billard verstehe. Ich hätte daraus den Schluß gezogen — er habe aufmerksam zugehört —, Kohler hätte getötet, um zu beobachten, gemordet, um die Gesetze der Gesellschaft zu untersuchen, und nur deshalb sein Motiv nicht angegeben, weil er damit vor Gericht keinen Glauben gefunden hätte. Lieber Freund, er könne dazu nur sagen, so ein Motiv sei zu literarisch, Schriftsteller erfänden solche Motive, wenn er auch glaube, bei einem Mann wie Kohler müsse es sich um ein besonderes Motiv handeln. Aber um welches?

Stüssi-Leupin überlegte.

«Sie haben den falschen Schluß gezogen«, sagte er dann.»Weil Sie von Billard nichts verstehen. Kohler hat à la bande gespielt.»

«A la bande«, erinnerte ich mich.»Das hat Kohler einmal gesagt. Beim Billard im >Du Théâtre<. >A la bande, so muß man den Benno schlagen.<»

«Und wie hat er gespielt?«fragte Stüssi-Leupin.

«Ich weiß nicht recht«, dachte ich nach.»Kohler hat die Kugel an die Umrandung gespielt, von dort ist die Kugel zurückgeprallt und hat Bennos Kugel getroffen.»

Stüssi-Leupin schenkte sich Wein ein.

«Kohler hat Winter erschossen, um Benno zu erledigen.»

«Warum denn?«fragte ich verständnislos.

«Spät, Sie sind auch gar zu naiv«, wunderte sich Stüssi-Leupin.»Dabei hat Ihnen die Steiermann das Stichwort geliefert. Kohler führt ihre Geschäfte. Auch vom Zuchthaus aus. Der flechtet nicht nur Körbe. Die Steiermann braucht Kohler, und Kohler braucht die Steiermann, Lüdewitz ist Attrappe. Aber wer ist Herr, wer Knecht? Irgendwie hat Kohlers Tochter recht. Es war ein Gefälligkeitsmord. Warum nicht? Auch eine Art Erpressung. Die Abermillionen liegen bei der Steiermann, die zwanzig Millionen waren ihre zwanzig Millionen, da wird Kohler gespurt haben, und so hat er über Winter Benno erledigt. Auf Wunsch der Steiermann. Vielleicht brauchte sie den Wunsch gar nicht auszusprechen. Vielleicht hat er ihn nur erraten.»

«Eine noch wahnwitzigere These als die Wahrheit«, sagte ich.»Die Steiermann hat Benno geliebt, weil Daphne ihn geliebt hat, und hat ihn erst fallenlassen, als Daphne sie verlassen hat.»

«Eine realistischere These als die Wahrheit. Die ist meistens unglaubhaft«, entgegnete er.

«Ihre These wird kein Mensch abnehmen«, sagte ich.

«Die Wahrheit wird kein Mensch abnehmen«, antwortete er,»kein Richter, kein Geschworener, nicht einmal Jämmerlin. Sie spielt sich in Etagen ab, die für die Justiz unerreichbar sind. Die einzige These, die der Justiz einleuchten wird, kommt es zum Revisionsprozeß, ist die, daß Dr. Benno der Mörder ist. Er allein hat ein handfestes Motiv. Auch wenn er unschuldig ist.»

«Auch wenn er unschuldig ist?«fragte ich.

«Stört Sie das?«antwortete er.»Auch seine Unschuld ist eine These. Er ist der einzige, der den Revolver hätte verschwinden lassen können. Mein Bester, führen Sie den Revisionsprozeß durch, und in einigen Jahren sind Sie meinesgleichen.»

Das Telefon läutete. Er nahm es ab, legte wieder auf.

«Meine Frau ist tot«, sagte er.

«Mein Beileid«, stammelte ich.

«Nicht der Rede wert«, sagte er.

Er wollte sich wieder Wein einschenken, aber die Flasche war leer. Ich stand auf und schenkte ihm ein, stellte meine Flasche neben die seine.

«lch muß noch fahren«, sagte ich.

«Verstehe«, antwortete er,»der Porsche hat auch gekostet.»

Ich setzte mich nicht mehr.»Ich übernehme den Revisionsprozeß nicht, Herr Stüssi-Leupin, und auch mit dem Auftrag will ich nichts mehr zu tun haben. Ich vernichte die Ermittlungen«, erklärte ich. j

Er hielt sein Glai gegen die Stehlampe.

«Wieviel beträgt der Vorschuß?«fragte er.

«Fünfzehntausend und zehntausend als Spesen.»

Die Treppe kam ein Mann mit einer Tasche herunter, offenbar der Arzt, zögerte, überlegte, ob er zu uns kommen solle, dann kam die Hausdame, führte ihn hinaus.

«Sie werden Mühe haben, das abzustottern«, meinte Stüssi-Leupin:»Wieviel im ganzen?»

«Dreißigtausend und die Spesen«, antwortete ich.

«Ich biete Ihnen vierzigtausend, und Sie übergeben mir, was Sie ermittelt haben.»

Ich zögerte.

«Sie wollen den Revisionsprozeß führen.»

Er betrachtete immer noch sein Glas mit dem roten Talbot.»Meine Angelegenheit. Verkaufen Sie mir nun die Papiere?»

«Ich muß wohl«, antwortete ich.

Er trank das Glas aus.»Sie müssen nicht, Sie wollen. «Dann füllte er das Glas von neuem, hielt es wieder gegen das Licht.

«Stüssi-Leupin«, sagte ich und fühlte mich gleichwertig,»kommt es zum Prozeß, werd ich Bennos Anwalt.»

Ich ging. Als ich den Schatten eines Findlings erreicht hatte, sagte er noch:»Sie sind nicht dabeigewesen, hämmern Sie sich das ein, Spät, Sie sind nicht dabeigewesen, und ich bin nicht dabeigewesen.»

Dann leerte er sein Glas und schlief wieder ein.

… Dr.h.c. Isaak Kohler hat mir telegrafisch seine Ankunft angezeigt: Er wird übermorgen um 22 Uhr 15 von Singapur kommend landen, und ich werde ihn erschießen, und dann werde ich mich erschießen. Damit bleiben mir noch zwei Nächte, meinen Bericht zu Ende zu führen. Die Ankündigung überraschte mich, vielleicht, daß ich nicht mehr an seine Rückkehr glaubte. Zugegeben, ich bin betrunken. Ich war im >Höck<, ich war in der letzten Zeit immer im >Höck<, an den langen Holztischen, zwischen ebenfalls Betrunkenen. Lebe von Giselle und von den Mädchen, die seit dem Tode des Marquis hierhergezügelt sind, nicht von Neuchâtel, sondern von Genf und Bern, während viele von hier nach Genf oder Bern gezogen sind, eine beträchtliche Umorganisiererei hat eingesetzt, mit der ich persönlich nichts zu tun habe, legal darf ich nichts tun, und illegal habe ich nichts zu tun, als auf übermorgen 20 Uhr 15 zu warten. Luckys Position hat der Orchideen-Noldi übernommen, er soll von Solothurn kommen, in Frankfurt Karriere gemacht haben und ist sehr vornehm, seine Mädchen tragen jetzt Orchideen, die Polizei ist wütend, Orchideen lassen sich nicht verbieten, eine Juristin aus Basel, die um ein Uhr nachts beim Bellevue über die Straße ging, eine Orchidee an der Bluse — sie kam von einer Diskussion über das Frauenstimmrecht im Fernsehen —, wurde verhaftet, sie hatte nichts bei sich, sich auszuweisen, es entstand ein Bombenskandal, die Polizei, der Polizeivorsteher — letzterer durch ein ungeschicktes Dementi — machten sich lächerlich. Orchideen-Noldi herrscht unumschränkt, hat sich jetzt Rechtsanwalt Wieherten geholt, einen unserer angesehensten Rechtsanwälte, der sich aus sozialen Beweggründen für das Recht jener Damen, die schließlich auch Steuern zahlen, einsetzen will und die Einführung von Massagesalons befürwortet. Mir selber deutete der Orchideen-Noldi an, daß ich» mit meinem Lebenswandel «für das Gewerbe nicht mehr tragbar sei, aber er werde mich nicht fallenlassen, das sei er Lucky schuldig, er habe mit seinem Personal, wie er sich ausdrückte, gesprochen, so daß ich einstweilen im >Höck< bleiben darf, auch der Kommandant hat mich nicht mehr belästigt, niemand scheint daran interessiert zu sein, wie Lucky und der Marquis ums Leben gekommen sind, und der doch unaufgeklärte Tod Daphnes ist in Vergessenheit geraten. So bin ich denn zwar kein Zuhälter, aber ein Ausgehaltener. Wenn mich im >Höck< die Gäste um Adressen fragen, mit denen ich, ohne Geld zu verlangen, herausrücke, worauf mir die Gäste — meist ältere Herren — den Whisky bezahlen, ist das nur nobel, eigentlich selbstverständlich. Das zur Begründung meines alkoholisierten Zustandes, meiner schlechten Handschrift und meiner Eile, denn ehrlich gesagt, als ich das Telegramm Kohlers vorfand, ging ich vorerst auf eine Sauftour, kam irgendwie in die Spiegelgasse zurück und sitze nun zwanzig Stunden später an meinem Schreibtisch. Zum Glück habe ich noch eine Flasche Johnnie Walker bei mir, zu meiner Verwunderung, aber jetzt erinnere ich mich an den Zahnarzt aus Thun, der mich im >Höck< aufgesucht hat und den ich Giselle im >Monaco< vorgestellt habe — ich bin vom >Monaco< gekommen und nicht vom >Höck<, wie ich wahrscheinlich behauptet habe —, die Eile, die bei dieser Niederschrift geboten ist, verbietet sowohl das Wiederlesen des Geschriebenen als auch das Abschweifen — die Flasche Johnnie Walker war verdient —, Giselle war vom Zahnarzt nicht angetan, es grauste ihr, er nahm beim Veuve Cliquot — bei der zweiten Flasche — seine Gebisse aus dem Mund, zuerst das obere und dann das untere, die er sich selber verfertigt hatte, zeigte er uns doch neben dem Weisheitszahn links des oberen Gebisses seine Initialen, C. V., nahm die Gebisse in die Hand, klapperte mit ihnen und versuchte, damit Giselle in den Busen zu beißen, Hindelmann am Nebentisch liefen vor Lachen die Tränen auf den Bauch, besonders als dem Zahnarzt seine Gebisse unter den Tisch fielen, und nicht nur unter den unsrigen, sondern auch unter Hindelmanns Tisch, an dem dieser mit Marilyn saß, einer Neuen aus Olten, woher auch der Orchideen-Noldi kommt — nein, aus Solothurn — oder doch aus Olten — , worauf der Zahnarzt auf allen vieren seine Gebisse suchen mußte, die keiner aufheben wollte, sondern mit den Schuhen unter den nächsten Tisch stieß. Endlich wollte Giselle doch, vor lauter Lachen war es spät geworden, und ich bekam meinen Johnnie Walker. Daß ich mich über Hindelmanns Wiehern ärgerte, liegt daran, daß er im Prozeß Kohler ein gar zu kläglicher Vertreter der Anklage war. Prozeß, nicht Revisionsprozeß. Alle erwarteten, daß Stüssi-Leupin einen Revisionsprozeß anpeile, aber er überraschte durch seine Eingabe an das Justizdepartement. Dr.h.c. Isaak Kohler habe nie zugegeben, den Germanisten Professor Adolf Winter im Restaurant >Du Théâtre< niedergeschossen zu haben. Ein bloßer Augenzeugenbericht genüge nicht, wenn der Täter die Tat abstreite, auch Augenzeugen könnten irren. Der Fall Kohler gehöre deshalb vor das Geschworenengericht und nicht vor das Obergericht. Es müsse deshalb alles juristisch und gesetzlich Mögliche unternommen werden, das alte Urteil für ungültig zu erklären und den Fall Kohler vor ein Geschworenengericht zu bringen, das ihm zukomme. Diese Eingabe Stüssi-Leupins, ein fieberhaftes Durchstöbern der Akten und Protokolle bewirkend, die zum Entsetzen des Justizvorstehers Moses Sprünglin das Fehlen eines Schuldbekenntnisses bestätigten — man hatte Kohlers philosophische Floskeln als solches genommen —, hatte zur Folge, daß der Justizvorsteher den Vorsitzenden Oberrichter Jegerlehner vorzeitig pensionierte und die vier Beisitzenden Oberrichter sowie Staatsanwalt Jämmerlin rüffelte, den Fall Kohler dem Geschworenengericht zuwies — ein rechtlich etwas überstürztes Vorgehen. Jämmerlins Tobsuchtsanfall nützte nichts, seine Eingabe ans Bundesgericht wurde mit geradezu sensationeller Eile abgelehnt, sozusagen umgehend, ein einmaliger Fall bei dieser durch Arbeitsüberlastung im Schneckentempo arbeitenden Behörde, kurz, der neue Prozeß Kohler kam schon im April 1957 zustande. Jämmerlin gab nicht nach, er wollte erneut als Ankläger auftreten, doch wurde er von Stüssi-Leupin als befangen abgelehnt. Er wehrte sich wie der Satan, gab erst nach, als er hörte, daß Stüssi-Leupin auch Lienhard als Zeugen aufgeboten hatte. Sicher, auch Feuser wäre Stüssi-Leupin nicht gewachsen gewesen, wobei mir bewußt wird, daß ich über den Prozeß selber noch nicht berichtet habe, nichts über die traurige Rolle, die der Kommandant darin spielte, der aussagte, er habe nicht gesehen, wie Kohler geschossen habe, er habe es nur angenommen. Überhaupt zog Stüssi-Leupin alle Register. Er war glänzend, ich gebe es zu. Die aufgebotenen Zeugen widersprachen sich derart, daß die Geschworenen oft das Lachen verbeißen mußten und das Publikum vor Vergnügen quietschte; daß der Revolver nie gefunden wurde, spielte Stüssi-Leupin nach Noten aus, daß dieser Umstand im ersten Prozeß übergangen, daß somit das Corpus delicti fehlte, allein schon ein Grund, Kohler des mangelnden Beweises wegen freizusprechen. Doch allmählich lenkte Stüssi-Leupin den Verdacht auf Benno, zur Tatzeit im >Du Théâtre<, immerhin auf einen Schweizermeister im Pistolenschießen, Besitzer einer Revolversammlung, die er laut Lienhard aus finanzieller Notwendigkeit heraus verkauft haben will — ein Raunen ging durch den Saal —, dann folgten Andeutungen über ein Zerwürfnis zwischen Dr. Benno und Professor Winter, ein Verhör Bennos war unumgänglich, alle sahen der Einvernahme mit Spannung entgegen, aber Dr. Benno erschien nicht vor dem Geschworenengericht. Ich hatte ihn schon tagelang gesucht. Ich war entschlossen, seine Verteidigung zu übernehmen, wie ich es Stüssi-Leupin verkündet hatte, dazu hatte ich Informationen von Benno nötig, um gegen Kohler zu recherchieren, aber auch in der >Himmmelfahrtsbar< wußte niemand Bescheid. Feuchting vermutete, er habe sich bei Daphne versteckt, diese sei eine gute Haut und lasse ihre alten Liebhaber nicht im Stich, ein gewisser Emil E., ein Deodorant-Vertreter, der letzthin bei ihr in der Aurorastraße einen Monatslohn hinterlassen habe, hätte den Eindruck gehabt, es sei noch jemand in ihrem Appartement. Er blieb unauffindbar. Man dachte, er sei geflohen. Die Polizei wurde aufgeboten, Interpol eingeschaltet, es ging beinahe zu wie bei Isaak Kohlers Verhaftung. Daphne machte Schwierigkeiten, verlangte eine richterliche Verfügung, ihre Wohnung zu durchsuchen, und als Ilse Freude am nächsten Morgen mein Büro am Zeltweg betrat, fand sie den flotten Fechter und Meisterschützen am Lüster baumelnd, vom Luftzug geschaukelt, dadurch entstanden, daß das Fenster offen und sie die Türe geöffnet hatte, Benno hatte einen Schlüssel zu seinem alten Büro behalten und war auf meinen Schreibtisch geklettert, der einst der seine war, während ich bei Daphne, um Benno doch noch auf zutreiben — ich duftete noch tagelang nach allen möglichen Essenzen, die der Deodorant-Vertreter Emil E… Vielleicht liegt darin der Grund, daß ich über diesen Prozeß so ungern berichte: Mein erneutes Verhältnis mit Daphne wäre zur Sprache gekommen, und dies in Gegenwart Hélènes, hätte Stüssi-Leupin Daphne verhört, was er sicher getan hätte, wäre ihm Benno durch seinen Selbstmord nicht zuvorgekommen, was man als Geständnis seiner Schuld interpretierte: Dr.h.c. Isaak Kohler wurde mit Glanz und Gloria freigesprochen. Als er den Saal verließ und an mir vorbeikam, blieb er stehen und betrachtete mich mit seinen kalten, leidenschaftslosen Augen und sagte, was sich jetzt abgespielt habe, sei die erbärmlichste Lösung gewesen, daß ich in finanzielle Schwierigkeiten geraten sei, mein Gott, das sei verständlich, warum ich denn nicht zu ihm gekommen sei, statt die Recherchen Stüssi-Leupin zu übergeben, der dieses häßliche Justiztheater inszeniert habe, ein Freisprüch, pfui Teufel, es sei peinlich, als ein Unschuldslamm dastehen zu müssen, wer sei denn schon ein solches, und dann sagte er einen Satz, der mich zur Weißglut brachte, der mir klarmachte, daß es meine Pflicht war, Kohler zu erschießen, denn jemand mußte die Gerechtigkeit wiederherstellen, sollte sie nicht ganz und gar zur Farce werden: Hätte ich ihm, sagte er nämlich, die Recherchen abgeliefert statt an Stüssi-Leupin verkauft, so hätte Benno auch ohne Prozeß am Lüster gebaumelt, und damit gab er mir einen Stoß, als sei ich ein Lumpenhund, daß ich auf Mock taumelte, der hinter mir stand, seinen Hörapparat in der Westentasche versorgte und» na ja «sagte. Kohler verließ das Gerichtsgebäude. Siegesfeier im Zunfthaus >Zur Ameise<. Ansprache des Stadtpräsidenten in Hexametern, dann ab nach Australien, und ich komme mit meinem Revolver zu spät angerannt. Man kennt die Geschichte. Das sind jetzt anderthalb Jahre her, und wieder ist es Herbst. Immer ist es Herbst. Mein Gott, wieder betrunken, ich fürchte, daß meine Handschrift unleserlich wird, und es ist elf Uhr mittags — noch 3 5 Stunden 15 Minuten —, saufe ich weiter, kommt es zur Katastrophe. Schrecklich, wenn Hélène mich noch lieben würde, es wäre mein Todesurteil. Ich kann nur versichern, daß ich sie liebte, ja vielleicht noch liebe, obgleich sie mit dem alten Knochen Stüssi-Leupin schläft, und letzthin sah ich sie mit Friedli, er hatte seine Rechte um ihre Schulter gelegt, als wäre sie längst sein Eigentum, aber eigentlich spielt das keine Rolle. Es ist nicht nötig, über unsere Liebe zu schreiben, ebenso unnötig wie über das Gespräch mit dem Sektenprediger Berger vorhin auf der Treppe — vorhin, ich ging doch noch einmal ins >Höck<, aber es war ein Mißerfolg, kein Whisky war aufzutreiben, die Stammgäste schauten ein Fußballspiel und waren schlechter Laune, weil die Schweizer so schlecht spielten, und die Typen, die sonst nach Adressen fragten, waren auch schlechter Laune. Das >Monaco< war geschlossen. Ich hatte kein Geld bei mir, das Portemonnaie hatte ich vergessen, ich mußte Whisky haben, ich wankte ins >Du Théâtre<, auch das war leer, Alfrede, wenn es Alfredo war, schaute mich merkwürdig an, Ella und Klara kamen entschlossen aus dem Hintergrund, jemand rief meinen Namen. Stüssi-Leupin saß am Tisch, wo James Joyce immer gesessen hatte, und lud mich mit einer Handbewegung ein, mich zu ihm zu setzen. Ella und Klara sahen es ungern, aber Stüssi-Leupin ist Stüssi-Leupin. Ich solle mir die Hose zuknöpfen, sagte er, und als ich mich gesetzt hatte, meinte er, ich ließe mich verdammt gehen, und goß Kirsch in seinen Kaffee. Ich brauche eine Flasche Whisky, sagte ich gedankenabwesend, mein Zustand war hoffnungslos, ich begriff, daß ich ohne Whisky nicht mehr leben konnte, eine panische Furcht ergriff mich, keinen Whisky auftreiben zu können, alles wehrte sich in mir, etwas anderes als Whisky zu trinken, etwa Wein oder Bier oder Schnaps oder gar jenen sauren Apfelmost, den hier die Clochards saufen (weshalb sie zwar eine Säuferleber, aber keinen Rheumatismus haben), ein Rest von Menschenwürde in mir verlangte, nur Whisky zu trinken, der Gerechtigkeit zuliebe, die mich zugrunde richtet, und da stellte Ella schon ein Glas vor mich hin. Das Stüssi-Tal hätte wieder einen Rechtsanwalt nötig, meinte Stüssi-Leupin trocken, sein Nachfolger, der Fürsprecher Stüssi-Sütterlin, sei auf der Jagd erschossen worden, jemand habe ihn für eine Gemse gehalten, entweder ein Stüssi-Bierlin oder ein Stüssi-Feusi, auch ein Stüssi-Moosi komme in Frage, der Untersuchungsrichter in Flötigen habe den Fall ad acta gelegt, hoffnungslos, ihn aufzuklären, das wäre doch ein Posten für mich, ich wäre der erste Nicht-Stüssi als Fürsprecher, daß ich wieder zu meinem Anwaltspatent käme, ließe sich schon einrichten. Ausgerechnet mir mache er diesen Vorschlag, antwortete ich und trank den Whisky in einem Zug aus, ausgerechnet Ihnen, antwortete er, wissen Sie, Spät, fuhr er fort, es sei Zeit, daß ich aus allem meine Schlüsse ziehe, wenn es seine, Stüssi-Leupins, Leidenschaft sei, auch Schuldige aus dem Haifischrachen der Justiz zu retten, wenn sie eine Chance hätten, ihm zu entgehen, um einmal dieses Bild zu brauchen, so nicht, um die Justiz zum Narren zu halten. Ein Rechtsanwalt sei kein Richter, ob er an die Gerechtigkeit und an die aus dieser Idee deduzierten Gesetze glaube oder nicht, sei seine Sache, das sei letztlich eine metaphysische Angelegenheit, wie etwa die Frage nach dem Wesen der Zahl, aber als Rechtsanwalt habe er zu untersuchen, ob ein von der Justiz erfaßtes Subjekt von ihr als schuldig oder unschuldig betrachtet werden dürfe, gleichgültig, ob es schuldig oder unschuldig sei. Hélène habe ihm von meinem Verdacht erzählt, aber meine Recherchen seien ungenügend gewesen, Hélène sei damals zwar Stewardeß gewesen — Herrgott, zu jener Zeit glaubte man noch, jener Beruf sei etwas Besonderes —, aber nicht im Flugzeug, in welchem der englische Minister nach seiner Insel zurückgeflogen sei. Der sei mit einem englischen Militärflugzeug zurückgeflogen worden, und dabei würde wohl kaum eine Swissair-Stewardeß gebraucht. Daß Hélène damals auf meine Frage so unbestimmt geantwortet habe, sei begreiflich, sie hätte die Bedeutung der Frage nicht gleich begriffen, was dagegen die Worte Kohlers betreffe, die er an mich gerichtet und von denen ihm Mock berichtet habe, so seien sie ihm unverständlich. Kohler habe einen neuen Prozeß gewollt, er hätte ja nur, um nicht als Unschuldsengel dazustehen, erklären müssen, er habe den alten PEN-Bruder abgeknallt und wie, verflixt einmal, er den Revolver habe verschwinden lassen, er, Stüssi-Leupin, habe ein verdammt ungutes Gefühl, daß er den Alten freibekommen habe, sei seine juristische Pflicht gewesen, aber nun dünke ihn, er habe ein Raubtier freigelassen, einen Einzelgänger, die immer am gefährlichsten seien, hinter Kohlers Vorgehen stecke ein Motiv, mit dem er nicht herausrücke, zuerst habe er geglaubt, die Steiermann bediene sich des Kohlers, jetzt scheine ihm, Kohler bediene sich der Steiermann. Winter, Benno, Daphne, die beiden Zuhälter, etwas viel Tote, und plötzlich würde ich, gäbe ich mich nicht zufrieden, aus der Sihl gefischt. Na ja, dann hatte ich eben meine Flasche, und wie ich in die Spiegelgasse geraten bin, weiß ich nicht — Ella hatte, während mir Stüssi-Leupin seine Weisheiten auftischte, noch einen Whisky hingestellt —, daß ich überhaupt imstande war, sein Gespräch wiederzugeben, ist ein Wunder, es ist schon halb zwei nachts, ich muß inzwischen eingenickt sein — noch etwas mehr als zwanzig Stunden — neunzehn Stunden, ich habe mich verschaut, es ist halb drei Uhr nachts — wird Kohler — Dr.h.c. Isaak Kohler —, das Gespräch mit Simon Berger muß auf der Treppe stattgefunden haben, als ich mit dem Whisky Stüssi-Leupins in die Spiegelgasse zurückgekehrt bin. Es müssen Wochen vergangen sein, seit die Psalmen der Letzten vom Uetli verstummt sind, plötzlich hatten sie aufgehört zu dröhnen — Stuber von der Sitte hatte mich aufgesucht und mir nicht undeutliche Winke gegeben, daß man amtlicherseits einen Zusammenhang zwischen mir und dem organisierten Strich weiterhin vermute, als der Psalm >Jesu Christ, an deinen Wunden< jäh abbrach, darauf ertönte ein Schreien, Protestieren, Aufheulen, ein Lärm sondergleichen, darauf ein Treppen-Hinunterpoltern von vielen Füßen, dann Totenstille, und Stuber setzte seine Vermutungen fort: Darum hätte ich eigentlich erstaunt sein müssen, vor der Türe des Sektenlokals im Stockwerk unter mir den Prediger vorzufinden. Er lehnte gegen die Türe, unbeweglich, ich wollte an ihm vorbei, er taumelte gegen mich. Er wäre gefallen, hätte ich ihn nicht aufgefangen. Wie ich ihn von mir schob, sah ich, daß sein Gesicht verbrannt und augenlos war. Entsetzt wollte ich weitergehen, die Treppe hinauf, in mein Zimmer, aber Berger ließ mich nicht los, er umklammerte mich und schrie, er habe in die Sonne gestarrt, um Gott zu schauen, und wie er Gott erblickt habe, sei er sehend geworden, vorher sei er blind gewesen, aber nun sehe er, sehe er, und dies schreiend, riß er mich nieder, worauf wir auf die Treppe zu liegen kamen, die zu meinem Zimmer führte. Ich weiß nicht, was er mir alles erzählte, ich war zu betrunken, um es zu begreifen, wahrscheinlich war es Unsinn, was er vom Innern der Sonne schwatzte, von der totalen Finsternis, die dort herrsche, die eins sei mit der Verborgenheit Gottes, die man nur zu erkennen vermöge, wenn man sich von der Sonne die Augen ausbrennen lasse, erst dann nehme man wahr, wie sich Gott als dimensionsloser Punkt vollendeter Schwärze im Sonneninnern vertiefe, mit unendlichem Durst die Sonne in sich aufsauge, in sich hineinschlürfe, ohne größer zu werden, als sei er ein Loch ohne Boden, der Abgrund des Abgrunds, und wie sich die Sonne nach innen entleere, so weite sie sich aus, noch bemerke man nichts, doch morgen halb elf Uhr nachts werde es soweit sein, die Sonne werde, nur noch Licht geworden, aufstrahlen und sich ausweiten, mit Lichtgeschwindigkeit, und alles versengen, die Erde werde im ungeheuren Lichtschein verdampfen, so ungefähr, er sprach wie betrunken zu einem Betrunkenen, der ich damals war und der ich jetzt noch betrunkener bin und nicht weiß, warum ich von diesem Sektenprediger schreibe, der verhüllt vor seine Gemeinde trat, ihr den Weltuntergang verkündete und mit der Aufforderung, seine Anhänger sollten sich wie er die Augen von der Sonne ausglühen lassen, das Tuch vom Kopf riß: Das Schreien, Protestieren, Aufheulen, der Lärm sondergleichen, den ich gehört hatte, die die Treppe hinunterpolternde Gemeinde war die Antwort gewesen. Wiedergelesen, was ich geschrieben habe. Noch drei Stunden etwa, bis ich zum Flughafen aufbrechen muß. Der Kommandant war schon um halb acht morgens gekommen, oder noch früher, er saß vor meiner Couch, ich war erstaunt, als ich erwachte, ihn dasitzen zu sehen, das heißt, ich bemerkte ihn erst, als ich mich übergeben hatte und vom wc zurückkam und mich wieder auf die Couch legen wollte. Der Kommandant fragte, ob er Kaffee zubereiten solle, er ging dann, ohne meine Antwort abzuwarten, zur Kochnische, ich schlief wieder ein, als ich zu mir kam, war der Kaffee schon bereit, wir tranken schweigend. Ob ich wisse, fragte dann der Kommandant, daß ich ein jeder zehnte sei, und auf meine Frage nach der Bedeutung seiner sonderbaren Frage antwortete er, daß er jeden zehnten laufenlasse, und ich sei einer von diesen. Sonst hätte er mich am Grabe Daphnes verhaften müssen, er sei wie ich Rechtsanwalt gewesen, ein erfolgloser wie ich, nur hin und wieder sei er als Pflichtverteidiger eingesetzt worden, und so sei er denn bei der Polizei gelandet, als Sozialist hätten ihm Parteifreunde, die nie im Traume daran gedacht hätten, sich an ihn zu wenden, hätten sie privat einen Rechtsanwalt gebraucht, einen Posten in der Kriminalabteilung der Stadtpolizei zugeschanzt, als Rechtsberater, daß er nach oben gerutscht und schließlich Kommandant geworden sei, stelle nicht das Ergebnis von besonderen Leistungen dar, es seien die Intrigen der Politik gewesen, die ihn hinaufgespült hätten, und bei den anderen Instanzen des Justizapparates sei es ebenso, nicht daß er von Korruption sprechen wolle, aber der Anspruch der Justiz, etwas Objektives darzustellen, ein von jeder gesellschaftlichen Rücksicht und Vorurteilen keimfreies Instrumentarium, sei derart weit davon entfernt, was es in Wirklichkeit sei, daß er den Fall Kohler nicht so tragisch zu sehen vermöge wie ich, gewiß, es sei meinerseits ein Fehler gewesen, den Auftrag anzunehmen und Stüssi-Leupin das Material zu liefern, womit er Benno an den Lüster hetzen und den Prozeß gewinnen konnte, aber — ob nun Kohler schuldig sei hin oder her — und es wisse im Grunde ja jeder, daß der Kantonsrat den Universitätsprofessor niedergeschossen habe, auch er, der Kommandant, zweifle nicht daran — wenn er mich nun betrachte und überlege, wohin mich mein Aufbegehren gegen einen juristisch gesehen außergewöhnlichen, aber einwandfreien und damit berechtigten Freispruch gebracht habe — auch wenn damit die Gerechtigkeit schachmatt gesetzt worden sei —, so bliebe mir nichts anderes übrig, wolle ich in dieser Angelegenheit noch Gerechtigkeit üben, als Kohler und mich selber zum Tode zu verurteilen und an beiden das Todesurteil zu vollziehen, den Revolver zu nehmen, den ich hinter meiner Couch versteckt halte, und damit Kohler und dann mich selber ins Jenseits zu befördern, was er, der Kommandant, zwar für logisch, aber auch für unsinnig halte, denn vor der Gerechtigkeit, absolut genommen, was sie als Idee nun einmal sei, stünde ich nicht besser da als Kohler, er brauche nur an meine Rolle, die ich bei Daphnes Tod gespielt habe, zu erinnern. Vor der Gerechtigkeit stünden sich Kohler und ich als zwei Mörder gegenüber. Ein Richter dagegen übe ein diskutables Amt aus. Er habe dafür zu sorgen, daß eine so unvollkommene Institution funktioniere, wie es die Justiz nun einmal sei, die dazu diene, im Diesseits für ein gewisses Einhalten menschlicher Spielregeln zu sorgen. Ein Richter brauche persönlich ebensowenig gerecht zu sein wie der Papst gläubig. Wenn jedoch einer auf eigene Faust Gerechtigkeit ausüben wolle, gehe es verdammt unmenschlich zu. Dieser übersehe, daß Gaunereien bisweilen humaner seien als Korrektheiten, weil das Weltgetriebe nun einmal von Zeit zu Zeit geschmiert werden müsse, eine Funktion, die unserem Land ja besonders liege. So ein Gerechtigkeitsfanatiker müsse selber gerecht sein, und ob ich das sei, sei an mir zu beantworten. Sie sehen, Kommandant, ich bin in der Lage, unser Gespräch — oder besser Ihren Vortrag, denn ich sprach ja kein Wort, lag einfach da, verkotzt wie ich war, und hörte Ihnen zu — seinem Sinn nach halbwegs genau wiederzugeben, ich war auch nicht verwundert, daß sie erraten hatten, was zu tun ich von Anfang an beschlossen hatte, und vielleicht ließ ich mich nur deshalb fallen, möglicherweise verhalf ich nur deshalb Lucky und dem Marquis aus Neuchâtel zu ihrem Alibi, wahrscheinlich wurde ich nur deshalb zu dem, was ich bin, selbst für einen Orchideen-Noldi zu schäbig und unter der Würde der Damen, die er vertritt, um auf meine Weise ebenso schuldig zu werden wie Dr.h.c. Isaak Kohler, aber dann ist mein Urteil und die Ausführung meines Urteils durch mich die gerechteste Sache der Welt, denn die Gerechtigkeit kann sich nur unter Gleichschuldigen vollziehen, so wie es nur eine Kreuzigung gibt, jene des Isenheimer Altars, ein gekreuzigter Riese hängt am Kreuz, ein gräßlicher Leichnam, unter dessen Gewicht sich die Balken biegen, an die er genagelt ist, ein Christus, noch entsetzlicher als jene, für welche dieses Altarbild gemalt wurde, für die Aussätzigen, wenn diese jenen Gott hängen sahen, stellte sich zwischen ihnen und diesem Gott, der ihnen doch nach ihrem Glauben den Aussatz geschickt hatte, Gerechtigkeit ein: dieser Gott war für sie gerecht gekreuzigt worden. Ich schreibe nüchtern, Herr Staatsanwalt Feuser, ich schreibe nüchtern, und gerade deshalb bitte ich Sie, dem Kommandanten nicht vorzuwerfen, er hätte meinen Revolver zu sich nehmen sollen, das ganze Gespräch oder besser die ganze kreuzbrave Ansprache des Kommandanten war nicht väterlich gemeint, die Geschichte mit jedem zehnten, den er springen lasse, glaube, wer will, wahrscheinlich wäre er froh, wenn er jeden zehnten Verbrecher fangen würde, das Ganze war eine Provokation: Er wird sich nachträglich ärgern, mich damals nicht verhaftet zu haben, als er mir bei der Beerdigung, als das Schirmdach davonflog, das Stilett aus der Hand nahm, aber ich kenn ihn, er denkt schnell, er begriff, daß dann nicht nur die Frage nach den Mördern der armen Daphne Müller neu gestellt werden mußte, sondern auch die nach den Mördern der Mörder, daß er dann in die Bezirke der Monika Steiermann geraten wäre, und wer legt sich schon gern mit einem Prothesen-Imperium an, das sich anschickt, wieder ins Waffengeschäft einzusteigen, aber wenn ich in zwei Stunden — genauer in zwei Stunden und dreizehn Minuten — auf Dr.h.c. Isaak Kohler schieße, wird der Kommandant zugreifen, auch wenn die Schüsse ohne Wirkung wären — doch, Herr Staatsanwalt, einigen wir uns beide dahin: Einerseits versuchte der Kommandant mit seiner rührenden Ansprache zu verhindern, daß die Schüsse, wenn ich schon schösse, gefährlich würden, daß ich schon längst die Platzpatronen gegen echte umgetauscht habe, konnten Sie wirklich nicht ahnen, Herr Kommandant (ich wende mich wieder an Sie). Darum bin ich denn wohl auch nie näher auf den Trödler eingegangen im Parterre. Instinktiv. Damit Sie nicht näher auf ihn eingehen. Der Einäugige ist ein Original, und bei ihm war alles aufzutreiben. War. Denn auch das ist jetzt Vergangenheit, der Trödler ist seit drei Wochen ausgezogen, der Laden im Parterre und die Wohnung im ersten Stock sind leer, und da es auch bei den Heiligen vom Uetli still und verlassen geworden ist und ich außerdem gestern (oder vorgestern oder vorvorgestern) einen eingeschriebenen Brief gefunden habe, den ich vor Monaten empfangen, aber nicht gelesen hatte, des Inhalts, daß das Haus an der Spiegelgasse, unter Denkmalschutz stehend, aus Gründen seiner Baufälligkeit dringend der Renovation bedürfe, durch Friedli, der es innen umbauen und im alten Gehäuse Luxuswohnungen einrichten wird, seine neue Tätigkeit, so daß ich denn bis zum 1.10. meine Wohnung zu verlassen habe, und weil dieser 1.10. längst vorüber ist, mußte ich in der Stadt herumirren, um meine letzte Flasche Whisky aufzutreiben, irgendwann, gestern, bei Stüssi-Leupin im >Du Théâtre<, sonst hätte ich beim Einäugigen in seiner Wohnung zwar nicht den Whisky, doch eine Flasche Grappa aufgetrieben, so wie ich in seinem Trödlerladen im Trichter eines Alphorns die Patronen gefunden und die Platzpatronen hineingeschüttet habe, mit denen Sie, Herr Kommandant, meinen Revolver geladen hatten. Dr.h.c. Isaak Kohler und ich werden volksmusikalisch sterben. Doch bevor ich — wenn auch meine Nüchternheit immer bedrohlicher wird, so bedrohlich, als ob vor mir eine Sonne auftauche, in die ich wie der wahnsinnige Prediger zu starren gezwungen bin —, bevor ich in nicht ganz einer Stunde zum Flughafen fahre (mit meinem VW, er hat die Reparatur nur mäßig überstanden, das heißt, ich ließ sie abbrechen, Geldmangel), ein letztes Wort an Sie, Kommandant: Ich nehme meinen Verdacht zurück. Sie haben anständig gehandelt. Sie wollten mir die Freiheit der Entscheidung überlassen, meine Würde nicht antasten. Es tut mir leid, daß ich anders entschieden habe, als Sie gehofft haben. Und jetzt ein letztes Geständnis: Ich habe in diesem Spiel um die Gerechtigkeit nicht nur mich verspielt, sondern auch Hélène, die Tochter des von mir Ermordeten, der mein Mörder ist. Ich werde mich erschießen müssen, weil ich ihn erschossen haben werde. Futurum exactum. Die Lateinstunden fallen mir wieder ein, die mir im Waisenhaus ein alter Pfarrer gab, mich auf das Gymnasium in der Stadt vorzubereiten. Ich habe immer gern vom Waisenhaus erzählt, sogar bei Mock erzählte ich davon, obgleich es schwer war, sich mit ihm zu unterhalten. Als ein Schriftsteller vom Tod seiner Mutter berichtete, an der er offenbar sehr gehangen hatte, und ich die Vorzüge des Waisenhauses zu erläutern begann und die Familie als Brutstätte des Verbrechens bezeichnete, dieses ewig gepriesene Familienglück sei zum Kotzen, was den Schriftsteller sichtlich irritierte, lachte Mock, von dem man nie weiß, was von einem Gespräch er realisiert und was nicht — daß er von den Lippen zu lesen versteht, hat er wieder einmal seinen Hörapparat verlegt, nehme ich an, was er zwar bestreitet (auch eine List von ihm), wenn ich mich brüste, meinte er, ohne Vater und Mutter aufgewachsen zu sein, komme ihm das unheimlich vor, zum Glück, führte er in seiner umständlichen Art aus — der Schriftsteller war längst gegangen —, sei ich Jurist geworden und hätte nicht im Sinn, Politiker zu werden, was zwar immer noch möglich sei, aber ein Mensch, der für ein Waisenhaus schwärme, sei schlimmer als einer, der sich in seiner Jugend entweder mit seinem Vater oder mit seiner Mutter oder gar mit beiden herumgeschlagen habe wie er, Mock, der seine Alten, wie er sich ausdrückte, wie die Pest gehaßt habe, obgleich sie herzensgute Christenmenschen gewesen seien, aber er habe sie gehaßt, weil sie acht Kinder und ihn noch dazu gezeugt hätten, ohne jemanden von der weit überdurchschnittlichen Kinderschar zu fragen, ob er oder sie es gestatte, geboren zu werden, Zeugen sei ein Verbrechen sondergleichen, wenn er jetzt an einem Chemp (er meinte damit einen Stein) wütend herummeißle, so bilde er sich zwar ein, es sei entweder sein Vater oder seine Mutter, an dem oder an der er sich räche, aber bei mir müsse er sich fragen, was für einer ich denn sei mit meinem Waisenhausfimmel. Schön, er, Mock, habe einen Haß im Bauch, gegen die, welche ihn gezeugt, geboren und dann nicht in den nächsten Kehrichteimer geschmissen hätten, und haue diesen Haß aus dem Stein heraus zu einer Gestalt, zu einer Form, die er liebe, weil er sie geschaffen habe, und die, wenn sie fühlen könnte, ihn wiederum hassen könnte, wie er seine Eltern gehaßt habe, die ihn auch geliebt hätten, deren Sorgenkind er gewesen sei, das alles sei menschlich, ein Kreislauf von Haß und Liebe zwischen Schöpfer und Geschöpf, aber wenn er sich dagegen so einen wie mich vorstelle, der, statt zu hassen, durch wen er sei und daß er sei, eine Institution liebe, die ihn hervorgebracht und abgerichtet habe, und der damit prädestiniert werde, eine Leidenschaft für etwas Nicht-Menschliches auszubrüten, für eine Ideologie, oder sei es nur für ein Prinzip, für die Gerechtigkeit zum Beispiel, und wenn er sich dann noch ausdenke, wie so einer wie ich darauf mit Menschen umgehen werde, die seinem Prinzip, das der Gerechtigkeit, um beim Beispiel zu bleiben, nicht entsprächen, und wer entspreche dem schon, so breche ihm der pure Angstschweiß aus. Sein Haß sei produktiv, der meine destruktiv, der Haß eines Mörders.»Mensch, Spät«, schloß er seinen kaum verständlichen Gedankengang,»Sie tun mir leid. Sie sind verdammt schief gewickelt. «Daraufhin habe ich sein Atelier nie mehr betreten. Warum ich von diesem Gespräch erzähle, Herr Kommandant: weil dieser Bildhauer, der soeben in Venedig gefeiert wurde, verdammt recht hat. Ich bin ein Retortenmensch, gezüchtet in einem Musterlaboratorium, geleitet nach den Prinzipien der Erzieher und Psychiater, die unser Land nebst Präzisionsuhren, Psychopharmaka, Bankgeheimnis und ewiger Neutralität hervorgebracht hat. Ich wäre ein Musterprodukt dieser Versuchsanstalt geworden, nur eines fehlte in ihr: ein Billardtisch. So wurde ich in die Welt gesetzt, ohne sie durchschauen zu können, weil ich mich nie mit ihr auseinandergesetzt hatte, weil ich mir vorstellte, in ihr müsse die Waisenhausordnung herrschen, in der ich aufgewachsen war. Unvorbereitet wurde ich in die Raubtierordnung der Menschen gestoßen, unvorbereitet sah ich mich den Trieben gegenüber, durch die sie geformt wird, Gier, Haß, Furcht, List, Macht, aber ebenso hilflos wurde ich jenen Gefühlen ausgesetzt, welche die Raubtierordnung menschlich macht, der Würde, dem Maß, der Vernunft, der Liebe endlich. Ich wurde von der menschlichen Wirklichkeit weggetrieben wie ein Nichtschwimmer von einem reißenden Fluß, mit meinem Untergang kämpfend, wurde ich im Untergang selber ein Raubtier, zu welchem nach dem nächtlichen Gespräch mit Stüssi-Leupin, in welchem ich das Material verkaufte, das dazu dienen sollte, einen Mörder freizusprechen, dessen Tochter kam: Hélène erwartete mich in meiner Anwaltspraxis am Zeltweg, in meiner piekfeinen Dreizimmerwohnung, die ich von Benno übernommen hatte. Erst jetzt fällt mir auf, daß sie mich in und nicht vor der Wohnung erwartete. Im Sessel vor meinem Schreibtisch. Und daß sie sich in der Wohnung auskannte. Aber Benno — wer fiel nicht auf ihn herein. So kam sie, weil sie mir vertraute, und so gab sie sich hin, weil ich sie begehrte, aber den Mut, mich auch ihr anzuvertrauen, und den Glauben, daß auch sie mich begehrte, weil sie mich liebte, hatte ich nicht. So verfehlten wir unsere Liebe. Ich verschwieg ihr, daß ihr Vater nicht gezwungen war zu morden (auch wenn es die teuflische Zwergin gewünscht haben soll), daß es ihm nur gefiel, auf diesem armseligen Planeten den Herrgott zu spielen, und daß ich mich zweimal hatte kaufen lassen, von ihm und von einem Staranwalt, der Freude daran hatte, das Spiel der Justiz zu Ende zu spielen, wie ein Großmeister, der eine Schachpartie großmütig übernimmt, die ein Anfänger begann. So schliefen wir miteinander, ohne miteinander zu sprechen, ahnungslos, daß es kein Glück ohne Sprache gibt. Vielleicht gibt es darum nur das momentane Glück, das Glück, das ich in jener Nacht spürte, als ich ahnte, was aus mir hätte werden können, eine unfaßliche Möglichkeit, die in mir lag und die ich dann nicht verwirklicht habe, und weil ich damals glücklich war, eine Nacht lang, war ich überzeugt, daß ich würde, was ich nicht wurde. Als wir uns am Morgen anstarrten, wußten wir, daß alles vorüber war. Nun muß ich zum Flughafen.

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