Justiz
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Justiz ist ein (Kriminal-) Roman. Er behandelt den ?ffentlichen Mord eines schweizer Kantonsrates an einem Professoren; erz?hlt aus der Ich-Perspektive des jungen Anwaltes Sp?t, der den Auftrag des verurteilten Kantonsrates annimmt, den Mord unter der Annahme, dieser sei nicht der M?rder, erneut zu untersuchen.
„Der junge Anwalt (…) erkennt zu sp?t, in welche Falle ihn die Justiz geraten l??t, weil er sie mit der Gerechtigkeit verwechselt. “ (Friedrich D?rrenmatt)
D?rrenmatt begann nach eigenen Worten mit der Arbeit an Justiz im Jahr 1957, der Roman sollte nach einigen Monaten abgeschlossen sein. Da jedoch Arbeit an anderen Werken dazwischen kam, blieb Justiz liegen, bis D?rrenmatt schlie?lich die Arbeit daran ganz einstellte. Im Jahr 1980 wollte er den Roman als 30. Band seiner Werkausgabe abschlie?en, scheiterte jedoch daran, dass er die urspr?nglich geplante Handlung nicht mehr rekonstruieren konnte. 1985 schlie?lich setzte er sich erneut daran, entwickelte auf dem vorhandenen Fragment eine neue Handlung; und so erschien der Roman, „wenn auch wohl in einem anderen Sinn als urspr?nglich geplant. “
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«Von sieben bis neun.»
«Hatte es schon geregnet, als sie gekommen sind?«fragte der Kommandant.
«Sie sind gekommen, bevor es geregnet hat«, antwortete ich.»Um nicht durchnäßt zu werden. Warum?»
Der Kommandant betrachtete den Aschenbecher.»Stuber von der Sitte hat Sie, Lucky und den Marquis gesehen, als Sie um neun Ihre Bude verlassen haben. Wo sind Sie dann hingegangen?»
«Ich?»
«Sie.»
«Ins >Höck<. Ich habe zwei Whisky getrunken. Lucky und der Marquis sind ins >Monaco< gegangen.»
«Das weiß ich«, sagte der Kommandant.»Ich habe sie dort verhaftet. Aber nun muß ich sie freilassen. Sie haben ein Alibi. Sie haben bei Ihnen geraucht. Zwei Stunden lang. «Er betrachtete wieder den Aschenbecher.»Ich muß Ihnen glauben, Spät. Einer, dem es um die Gerechtigkeit geht, liefert zwei Mördern kein Alibi. Das wäre absurd.»
«Wer ist ermordet worden?«fragte ich.
«Daphne«, antwortete der Kommandant.»Das Mädchen, das sich als Monika Steiermann ausgegeben hat.»
Ich setzte mich hinter meinen Schreibtisch.
«Ich weiß, Sie sind im Bild«, sagte der Kommandant.»Sie haben die echte Monika Steiermann besucht, die hat die falsche fallenlassen, und so ist Daphne Müller denn auf den Strich gegangen. Ohne sich mit Lucky und Zuppey zu einigen. Und jetzt hat man sie tot in ihrem Mercedes auf dem Parkplatz am Hirschenplatz gefunden. Gegen halb neun. Um sieben ist sie gekommen, aber im Wagen geblieben. Es hat ja mordsmäßig gewittert. Na, Lucky und Zuppey haben jetzt ein Alibi und hatten keine Waffe bei sich, und ihre Regenmäntel sind trocken gewesen. Ich muß sie laufenlassen. «Er schwieg.»Ein verdammt schönes Mädchen«, sagte er dann.»Haben Sie mit ihr geschlafen?»
Ich antwortete nicht.
«Ist ja auch nicht wichtig«, meinte der Kommandant und zündete sich eine seiner Bahianos an, hustete.
«Sie rauchen zuviel, Kommandant.»
«Ich weiß, Spät«, antwortete der Kommandant.»Wir alle rauchen zuviel. «Er schaute wieder auf den Aschenbecher.»Aber ich sehe, daß Sie mir eine gewisse Aufmerksamkeit schenken. Nun, ich schenke Ihnen ja auch eine gewisse Aufmerksamkeit: Ein undurchsichtiger Mensch, wie Sie einer sind, ist mir noch nie vorgekommen. Haben Sie eigentlich keinen Freund?»
«Ich schaffe mir nicht gern einen Feind an«, antwortete ich.»Wollen Sie mich verhören, Kommandant?»
«Nur neugierig, Spät«, wich der Kommandant aus.»Sie sind noch nicht einmal dreißig.»
«Ich hab es mir nicht leisten können, mein Studium zu verbummeln«, antwortete ich.
«Sie sind unser jüngster Rechtsanwalt gewesen«, meinte der Kommandant,»und jetzt sind Sie keiner mehr.»
«Die Aufsichtskommission ist ihrer Pflicht nachgekommen«, sagte ich.
«Wenn ich mir nur ein Bild von Ihnen machen könnte«, sagte der Kommandant,»fiele es mir dann leichter, Sie zu verstehen. Aber ich kann mir kein Bild machen. Als ich Sie zum ersten Mal besucht habe, hat mir Ihr Kampf für die Gerechtigkeit eingeleuchtet, und ich bin mir schäbig vorgekommen, aber jetzt leuchten Sie mir nicht ein. Das Alibi nehme ich Ihnen noch ab, aber daß es Ihnen um die Gerechtigkeit geht, nehme ich Ihnen nicht mehr ab.»
Der Kommandant erhob sich.»Sie tun mir leid, Spät. Daß Sie in eine absurde Geschichte verstrickt sind, ist mir klar, daß Sie dabei selber absurd werden, ist wohl nicht zu ändern. Ich denke, darum lassen Sie sich fallen. Hat Kohler wieder einmal geschrieben?»
«Aus Jamaika«, antwortete ich.
«Wie lange ist er jetzt weg?»
«Über ein Jahr«, sagte ich,»fast anderthalb Jahre.»
«Der Mensch saust kreuz und quer um den Erdball«, sagte der Kommandant.»Aber vielleicht kommt er doch bald zurück. «Dann ging er.
Nachschrift. Wieder drei Tage später: Daß ich mit Daphne geschlafen hatte, verschwieg ich dem Kommandanten. Er fragte ja auch nicht weiter, und es war ihm nicht wichtig. Ich habe lange überlegt, ob ich es niederschreiben soll. Aber der Kommandant hat recht, es ist alles so unsinnig geworden, daß es keinen Sinn hat, etwas zu verschweigen: Zur Realität gehört auch das Schändlichste, zu diesem Schändlichen gehört meine Rolle, die ich beim Untergang Daphnes spielte, auch wenn der Grund ein Racheakt der» echten «Monika Steiermann war. Nach dem Skandal war Daphne fast ein Jahr lang unauffindbar gewesen. Kein Mensch wußte, wo sie war, auch Lienhard nicht, wie er behauptete. Ihre Wohnung in der Aurorastraße blieb leer, die Miete wurde bezahlt. Von wem, war nicht auszumachen. Dann war sie wieder aufgetaucht. In ihrer alten Pracht. Wie wenn nichts geschehen wäre, wenn auch mit neuem Gefolge. Was sie verschwenderisch getrieben hatte, betrieb sie nun beruflich. Von ihren Freunden im Stich gelassen, machte sie nun in ihrem weißen Mercedes die Runde, verlangte horrende Preise und kam finanziell wieder auf die Beine. Auch nach Abzug der Steuern. Gemeindesteuer, Staatssteuer, Wehrsteuer, Alters- und Hinterbliebenenversicherung. Es galt als chic, mit ihr zu schlafen; es ist überflüssig, episch zu werden. Nur daß sie einmal bei mir erschien, will ich nicht verschweigen: Sie klopfte gegen zwei Uhr nachts an meine Wohnungstür in der Spiegelgasse. Ich kroch von der Couch, auf der ich schlief, dachte, es sei Lucky, machte Licht, öffnete, und sie trat ein. Sie schaute sich um. Das Fenster halb offen, das Zimmer eisig (es war Mitte Februar), an der kitschigen Tapete wieder die >Beobachter<-Bilder, auf dem Schreibtischsessel meine Kleider, auf dem Lehnstuhl mein Mantel. Sie trug einen Chinchilla — das mit den Preisen mußte wahr sein, oder die» echte «Steiermann zahlte noch immer —, zog sich aus, warf alles auf den Lehnstuhl und legte sich auf die Couch. Ich legte mich zu ihr. Sie war schön, und es war kalt. Sie blieb nicht lange. Sie zog sich wieder an, griff dann nach ihrem Chinchilla und legte einen Tausender auf meinen Schreibtisch. Als ich protestierte, schlug sie mir mit der rechten Hand mit aller Kraft ins Gesicht. Solche Geschichten erzählt man nicht gern, und ich habe sie auch niemandem erzählt. Wenn ich sie jetzt niederschreibe, so nur, weil mir die Felle davonschwimmen. Heute morgen, kurz vor sechs, war Freund Stuber von der Sitte bei mir und berichtete, man hätte Lucky und den Marquis bei Zollikon aus dem See gezogen (die Steiermannsche Villa ist nicht weit von der Fundstelle). Ich war etwas beleidigt, als der glückliche Stuber wieder ging: Er hatte mir nicht einmal Fragen gestellt, wenigstens einen vom Morddezernat hätte mir der Kommandant schicken können. Lucky und der Marquis hatten sich nicht schnell genug ins Ausland abgesetzt. So begann unser Nationalfeiertag, der Erste August 1958, recht trübselig. Außerdem war es ein Freitag, außerdem wurde Daphne beerdigt, die Gerichtsmedizin hatte sie zur Beerdigung freigegeben. Um zehn Uhr. Am Ersten August arbeitet man am Vormittag, auch die Totengräber, ein ganzer Nationalfeiertag ist für einen Kleinstaat zuviel, er kennt seine Dimensionen. Ich hatte eben mein Zimmer verlassen, als es donnerte, wie überhaupt die Gewitter in diesem Sommer etwas Alltägliches sind. Mein VW ist in Reparatur. (Ich hatte irgendwo über einem See gegessen, war dann unter einem wilden Nachthimmel mit meinem Porsche — na ja, Herr Staatsanwalt, um auch das zu beichten —, ich schlitterte mit ihm und mit Madeleine [war's Madeleine?] irgendwo vom Tüfweg ab in ein Gehölz, Lucky brachte die Sache in Ordnung, die Kleine lag zwei Monate im Spital, und ich hatte meinen alten VW wieder. Hatte. Ich hatte ihn wieder gehabt. Ich hätte ihn zwar längst holen können, aber habe beim Garagisten keinen Kredit mehr. Ich fürchte mich vor der Rechnung.) So mußte ich denn mit der Straßenbahn zu Daphnes Beerdigung fahren. Warum ich freilich die Türfalle des Vereinssälchens der Heiligen vom Uetli niederdrückte und warum ich, als die Tür sich öffnete, einen der beiden Schirme ergriff, die ich vor sechs Tagen hineingestellt hatte, ist nicht mehr auszumachen. Geschah es aus Gedankenlosigkeit oder aus einem makabren Humor heraus, ich weiß es nicht mehr. Der Himmel war schon tiefschwarz, obwohl es erst halb zehn war, als ich durch die Altstadt zum Bellevue lief, den Schirm wie einen Stock benutzend. Alles war nervös, und ich hatte es eilig wie vor jedem Gewitter, und das hereinbrechende mußte ein besonderes sein, weil es ja erst Vormittag war. Typisch Daphne, dachte ich. Beim Bellevue nahm ich die Straßenbahn. Eigentlich war es unter diesen Wetterbedingungen Unsinn, zur Beerdigung zu gehen, aber ich stieg gleichsam mechanisch in den überfüllten Tramwagen. Hin und wieder durchbrach die Sonne die schwarze Wolkenwand, sie war dann wie ein Scheinwerfer, der aufleuchtete und erlosch. Am Kreuzplatz stieg ein schwerer, schwarz gekleideter, eher kleingewachsener Mann mit leuchtender Glatze, gepflegtem schwarzem Vollbart mit weißen Strähnen und mit einer goldenen randlosen Brille in den Wagen. Ich glaubte zuerst unwillkürlich, es müsse sich um den ermordeten Winter handeln, der als Gespenst wiederkehre, um dem Begräbnis seiner Tochter beizuwohnen, so sehr glich der Mann dem Verstorbenen, auch trug er einen Totenkranz, dessen Schleife ich freilich nicht zu lesen vermochte. Im Friedhofwaren schon viele versammelt. Die ganze Prominenz war anwesend, gegen Nostalgie ist niemand gefeit, von ihren neuen Kunden war niemand erschienen. Aber Daphne Müller war nicht der einzige Grund, diesen Vormittag unseren schmuck angelegten städtischen Friedhof zu besuchen. Im Grab neben ihr wurde Staatsanwalt Jämmerlin der Ewigkeit übergeben. Auch sein Ableben wurde allgemein bedauert, gibt es doch nichts Traurigeres, als sich nicht mehr ärgern zu können. Zum Glück mischte sich in die Trauer Schadenfreude. Sein Ende entbehrte nicht der Komik. Er war in der Sauna, die er wöchentlich besuchte, nackt neben den nackten Lienhard zu sitzen gekommen und nicht mehr imstande gewesen, den Schreck zu überleben. So trauerte man auf den Stockzähnen. Auch die gleichzeitigen Beerdigungen hatten ihr Gutes. Man konnte an beiden zusammen teilnehmen. Ich überlegte, wer zu wessen Beerdigung gekommen war, der Stadtpräsident, Staatsanwalt Feuser und einige freigesprochene Unzüchtler, weil sie den Verstorbenen noch im Grab ärgern wollten, zu Jämmerlins, Lienhard, Leuppinger, Stoss und Stüssi-Leupin zu beiden, Friedli, Lüdewitz, Mondschein dagegen wohl nur zur Beisetzung Daphnes. Jedermann hatte einen Schirm bei sich. Pfarrer Senn stand an Daphnes, Pfarrer Wattenwyl an Jämmerlins Grab. Beide startbereit. Ich wartete ungeduldig, trat von einem Bein aufs andere. Es donnerte. Doch weder Pfarrer Senn noch Pfarrer Wattenwyl begannen zu beten. Der ältere Mann, dem ich im Tram begegnet war, hatte seinen Kranz niedergelegt (es war sonst kein anderer beim Sarg), seiner halbschwester daphne, hugo winter. Es mußte sich um den Primarschullehrer Winter handeln. Es donnerte wieder, diesmal ein gewaltiges Krachen. Ein Windstoß. Alles wartete und wartete, sogar die vom Nachbargrab sahen zu uns herüber, man wartete auf etwas, ich wußte nicht worauf, bis ich begriff: Vom Eingang des Friedhofs her wurde auf einem Rollstuhl die» echte «Monika Steiermann von einer hageren Krankenschwester in Marschschritten an den Sarg gestoßen. Die Zwergin hatte sich grell geschminkt, auf ihrem Kopf saß eine zinnoberrote Perücke, den Haaren Daphnes nachgebildet, eine Perücke, die den Kopf des kleinen Wesens noch größer machte, dazu trug sie einen Minirock, der wie ein Kinderkleid wirkte, mit einer Perlenkette, die zwischen den verkrüppelten Beinchen über den Rollstuhl hing, auf dem Schoß hielt sie einen Gegenstand, der in ein schwarzes Tuch gewickelt war. Neben ihr schritt ein gedrungener Mann in einem dunklen Anzug, der zu kurz und zu eng war, der schwerreiche Grobian, Nationalrat Äschisburger. Er schleppte einen Kranz hinter sich her. Sogar der Stadtpräsident und Feuser, ja auch die Totengräber verließen das Grab Jämmerlins und wechselten zu Daphne Müllers hinüber. Pfarrer Wattenwyl stand allein. Er wäre wohl am liebsten auch gekommen. Erneutes Krachen, erneute Böen.