Das Glasperlenspiel
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Das Glasperlenspiel ist Hermann Hesses intellektuelle Antwort auf die Barbarei des Hitlerfaschismus. Mit der Utopie seiner p?dagogischen Provinz Kastalien entwirft der Autor dar?ber hinaus eine Gegenwelt zu Diktatur und Verbrechen des Dritten Reichs und stellt die Frage nach den erzieherisch-bildenden M?glichkeiten des Geistes. Die in sich geschlossene geistige Welt der Zucht und der Askese in Kastalien findet h?chsten Ausdruck und Vollendung in der Kunst des Glasperlenspiels: einem Spiel, bei dem »s?mtliche Inhalte und Werte unserer Kultur« miteinander kommunizieren. Der Roman basiert auf der Idee einer ?berzeitlichen Biografie des Glasperlenspielmeisters Josef Knecht, der in einigen Wiedergeburten gro?e Epochen der Menschheitsgeschichte miterlebt.
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Designori lachte gequält auf. »Wie scharfsinnig du bist, Domine! Längere Zeit, meinst du? Es ist viele, viele Jahre her, seit ich auf den Meditationszauber verzichtet habe. Wie besorgt du plötzlich um mich bist! Damals, als ihr mir hier in Waldzell bei meinem Ferienkurs so viel Höflichkeit und Verachtung gezeigt und meine Werbung um Kameradschaft so vornehm abgewiesen habet, damals kam ich von hier zurück mit dem Entschluß, dem Kastaliertum in mir ein Ende für immer zu machen. Ich habe von damals an auf das Glasperlenspiel verzichtet, ich habe nicht mehr meditiert, sogar die Musik war mir für längere Zeit entleidet. Statt dessen fand ich neue Kameraden, die mir in den weltlichen Vergnügungen Unterricht gaben. Wir haben getrunken und gehurt, wir haben alle erreichbaren Betäubungsmittel durchprobiert, wir haben alles Wohlanständige, Ehrwürdige, Ideale bespien und verhöhnt. In solcher Kraßheit hat das natürlich nicht gar lange gedauert, aber lange genug, um mir den letzten kastalischen Firnis vollends wegzuätzen. Und als ich dann, um Jahre später, gelegentlich wohl einsah, daß ich allzu heftig ins Zeug gegangen war und einige Meditationstechnik sehr nötig gehabt hätte, da war ich zu stolz geworden, um damit wieder anzufangen.«
»Zu stolz?« fragte Knecht leise.
»Ja, zu stolz. Ich war inzwischen in der Welt untergetaucht und ein Weltmensch geworden. Ich wollte nichts andres sein als einer von ihnen, ich wollte kein andres Leben als das ihre haben, ihr leidenschaftliches, kindliches, grausames, unbeherrschtes und zwischen Glück und Angst flackerndes Leben; ich verschmähte es, mir mit Hilfe eurer Mittel eine gewisse Erleichterung und bevorzugte Stellung zu verschaffen.«
Scharf blickte der Magister ihn an. »Und das hast du ausgehalten, viele Jahre lang? Hast du keine andern Mittel benützt, um damit fertig zu werden?«
»O ja,« gestand Plinio, »das habe ich getan und tue es auch heute noch. Es gibt Zeiten, wo ich wieder trinke, und meistens brauche ich auch, um schlafen zu können, allerlei Betäubungsmittel.«
Knecht schloß eine Sekunde lang, wie plötzlich ermüdet, die Augen, dann hielt er den Freund aufs neue mit seinem Blicke fest. Schweigend blickte er ihm ins Gesicht, prüfend erst und ernst, allmählich aber immer sanfter, freundlicher und heiterer. Designori zeichnet auf, er sei bis dahin noch niemals einem Blick aus Menschenaugen begegnet, der zugleich so forschend und so liebevoll, so unschuldig und so richtend, so strahlend freundlich und so allwissend war. Er bekennt, daß dieser Blick ihn zuerst verwirrt und gereizt, dann beruhigt und allmählich mit sanfter Gewalt bezwungen habe. Doch versuchte er, sich noch zu wehren.
»Du sagtest,« meinte er, »daß du Mittel wissest, um mich glücklicher und heiterer zu machen. Aber du fragst gar nicht, ob ich das eigentlich begehre.«
»Nun,« lachte Josef Knecht, »wenn wir einen Menschen glücklicher und heiterer machen können, so sollten wir es in jedem Falle tun, mag er uns darum bitten oder nicht. Und wie solltest du es denn nicht suchen und begehren? Darum bist du ja hier, darum sitzen wir ja hier wieder einander gegenüber, darum bist du ja zu uns zurückgekehrt. Du hassest Kastalien, du verachtest es, du bist viel zu stolz auf deine Weltlichkeit und deine Traurigkeit, als daß du sie durch etwas Vernunft und Meditation erleichtern möchtest – und doch hat eine heimliche und unzähmbare Sehnsucht nach uns und unsrer Heiterkeit dich alle die Jahre geführt und gezogen, bis du wiederkommen und es noch einmal mit uns probieren mußtest.
Und ich sage dir, du bist diesmal zur rechten Zeit gekommen, zu einer Zeit, in der auch ich mich sehr nach einem Ruf aus eurer Welt, nach einer sich öffnenden Pforte gesehnt habe. Aber davon das nächste Mal! Du hast mir manches anvertraut, Freund, dafür danke ich dir, und du wirst sehen, daß auch ich dir einiges zu beichten haben werde. Es ist spät, du reisest morgen früh, und auf mich wartet wieder ein Amtstag, wir müssen bald schlafen gehen. Nur eine Viertelstunde schenke mir noch, bitte.«
Er erhob sich, ging zum Fenster und blickte nach oben, wo zwischen wehenden Wolken überall Streifen eines tiefklaren Nachthimmels zu sehen waren, voll von Sternen. Da er nicht sofort zurückkehrte, stand auch der Gast auf und trat zu ihm ans Fenster. Der Magister stand, nach oben blickend und mit rhythmischen Atemzügen die dünnkühle Luft der Herbstnacht genießend. Er wies mit der Hand zum Himmel.
»Sieh,« sagte er, »diese Wolkenlandschaft mit ihren Himmelsstreifen! Beim ersten Blick möchte man meinen, die Tiefe sei dort, wo es am dunkelsten ist, aber gleich nimmt man wahr, daß dieses Dunkle und Weiche nur die Wolken sind und daß der Weltraum mit seiner Tiefe erst an den Rändern und Fjorden dieser Wolkengebirge beginnt und ins Unendliche sinkt, darin die Sterne stehen, feierlich und für uns Menschen höchste Sinnbilder der Klarheit und Ordnung. Nicht dort ist die Tiefe der Welt und ihrer Geheimnisse, wo die Wolken und die Schwärze sind, die Tiefe ist im Klaren und Heiteren. Wenn ich dich bitten darf: blicke vor dem Schlafengehen noch eine Weile in diese Buchten und Meerengen mit den vielen Sternen und weise die Gedanken oder Träume nicht ab, die dir dabei etwa kommen.«
Eine eigentümlich zuckende Empfindung, ungewiß, ob Weh oder Glück, regte sich in Plinios Herzen. Mit ähnlichen Worten, so erinnerte er sich, war er einstmals, vor unausdenklich langer Zeit, in der schönen heitern Frühe seines Waldzeller Schülerlebens zu den ersten Meditationsübungen ermahnt worden.
»Und erlaube mir noch ein Wort,« fing der Glasperlenspielmeister wieder mit leiser Stimme an. »Ich möchte dir gerne noch etwas über die Heiterkeit sagen, über die der Sterne und die des Geistes, und auch über unsre kastalische Art von Heiterkeit. Du hast eine Abneigung gegen die Heiterkeit, vermutlich weil du einen Weg der Traurigkeit hast gehen müssen, und nun scheint dir alle Helligkeit und gute Laune, und namentlich unsre kastalische, seicht und kindlich, auch feige, eine Flucht vor den Schrecken und Abgründen der Wirklichkeit in eine klare, wohlgeordnete Welt bloßer Formen und Formeln, bloßer Abstraktionen und Abgeschliffenheiten. Aber, mein lieber Trauriger, mag es diese Flucht auch geben, mag es an feigen, furchtsamen, mit bloßen Formeln spielenden Kastaliern nicht fehlen, ja sollten sie bei uns sogar in der Mehrzahl sein – dies nimmt der echten Heiterkeit, der des Himmels und der des Geistes, nichts von ihrem Wert und Glanz. Den Leichtzufriedenen und Scheinheiteren unter uns stehen andere gegenüber, Menschen und Generationen von Menschen, deren Heiterkeit nicht Spiel und Oberfläche, sondern Ernst und Tiefe ist. Einen habe ich gekannt, es war unser ehemaliger Musikmeister, den du einst in Waldzell auch je und je gesehen hast; dieser Mann hat in seinen letzten Lebensjahren die Tugend der Heiterkeit in solchem Maße besessen, daß sie von ihm ausstrahlte wie das Licht von einer Sonne, daß sie als Wohlwollen, als Lebenslust, als gute Laune, als Vertrauen und Zuversicht auf alle überging und in allen weiterstrahlte, die ihren Glanz ernstlich aufgenommen und in sich eingelassen hatten. Auch ich bin von seinem Licht beschienen worden, auch mir hat er von seiner Helligkeit und seinem Herzensglanz ein wenig mitgeteilt, und ebenso unsrem Ferromonte, und noch manchem andern. Diese Heiterkeit zu erreichen, ist mir, und vielen mit mir, das höchste und edelste aller Ziele. Auch bei einigen Vätern der Ordensleitung findest du sie. Diese Heiterkeit ist weder Tändelei noch Selbstgefälligkeit, sie ist höchste Erkenntnis und Liebe, ist Bejahen aller Wirklichkeit, Wachsein am Rand aller Tiefen und Abgründe, sie ist eine Tugend der Heiligen und der Ritter, sie ist unstörbar und nimmt mit dem Alter und der Todesnähe nur immer zu. Sie ist das Geheimnis des Schönen und die eigentliche Substanz jeder Kunst. Der Dichter, der das Herrliche und Schreckliche des Lebens im Tanzschritt seiner Verse preist, der Musiker, der es als reine Gegenwart erklingen läßt, ist Lichtbringer, Mehrer der Freude und Helligkeit auf Erden, auch wenn er uns erst durch Tränen und schmerzliche Spannung führt. Vielleicht ist der Dichter, dessen Verse uns entzücken, ein trauriger Einsamer und der Musiker ein schwermütiger Träumer gewesen, aber auch dann hat sein Werk teil an der Heiterkeit der Götter und der Sterne. Was er uns gibt, das ist nicht mehr sein Dunkel, sein Leiden oder Bangen, es ist ein Tropfen reinen Lichtes, ewiger Heiterkeit. Auch wenn ganze Völker und Sprachen die Tiefe der Welt zu ergründen suchen, in Mythen, Kosmogonien, Religionen, ist das Letzte und Höchste, was sie erreichen können, diese Heiterkeit. Du erinnerst dich der alten Inder, unser Waldzeller Lehrer hat einst schön von ihnen erzählt: ein Volk des Leidens, des Grübelns, des Büßens, der Askese; aber die letzten großen Funde seines Geistes waren licht und heiter, heiter das Lächeln der Weltüberwinder und Buddhas, heiter die Gestalten seiner abgründigen Mythologien. Die Welt, wie diese Mythen sie darstellen, beginnt in ihrem Anfange göttlich, selig, strahlend, frühlingsschön, als goldenes Zeitalter; sie erkrankt sodann und verkommt mehr und mehr, sie verroht und verelendet, und am Ende von vier immer tiefer sinkenden Weltzeitaltern ist sie reif dafür, vom lachenden und tanzenden Schiwa zertreten und vernichtet zu werden – aber es endet damit nicht, es beginnt neu mit dem Lächeln des träumenden Vischnu, der mit spielenden Händen eine neue, junge, schöne, strahlende Welt erschafft. Es ist wunderbar: dieses Volk, einsichtig und leidensfähig wie kaum ein anderes, hat mit Grauen und Scham dem grausamen Spiel der Weltgeschichte zugesehen, dem ewig sich drehenden Rad von Gier und Leiden, es hat die Hinfälligkeit des Geschaffenen gesehen und verstanden, die Gier und Teufelei des Menschen und zugleich seine tiefe Sehnsucht nach Reinheit und Harmonie, und hat für die ganze Schönheit und Tragik der Schöpfung diese herrlichen Gleichnisse gefunden, von den Weltaltern und dem Zerfall der Schöpfung, vom gewaltigen Schiwa, der die verkommene Welt in Trümmer tanzt, und vom lächelnden Vischnu, der schlummernd liegt und aus goldenen Götterträumen spielend eine neue Welt werden läßt.
Was nun unsre eigene, kastalische Heiterkeit betrifft, so mag sie nur eine späte und kleine Abart dieser großen sein, aber sie ist eine durchaus legitime. Die Gelehrsamkeit ist nicht immer und überall heiter gewesen, obwohl sie es sein sollte. Bei uns ist sie, der Kult der Wahrheit, eng mit dem Kult des Schönen verknüpft und außerdem mit der meditativen Seelenpflege, kann also nie die Heiterkeit ganz verlieren. Unser Glasperlenspiel aber vereinigt in sich alle drei Prinzipien: Wissenschaft, Verehrung des Schönen und Meditation, und so sollte ein rechter Glasperlenspieler von Heiterkeit durchtränkt sein wie eine reife Frucht von ihrem süßen Saft, er sollte vor allem die Heiterkeit der Musik in sich haben, die ja nichts anderes ist als Tapferkeit, als ein heiteres, lächelndes Schreiten und Tanzen mitten durch die Schrecken und Flammen der Welt, festliches Darbringen eines Opfers. Um diese Art der Heiterkeit war es mir zu tun, seit ich sie als Schüler und Student ahnend zu verstehen begann, und ich werde sie nicht mehr preisgeben, auch nicht im Unglück und Leid.