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Ecce homo. Wie man wird, was man ist

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Ecce homo. Wie man wird, was man ist
Название: Ecce homo. Wie man wird, was man ist
Дата добавления: 15 январь 2020
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Ecce homo. Wie man wird, was man ist - читать бесплатно онлайн , автор Nietzsche Friedrich

Ecce homo. Wie man wird, was man ist ist eine autobiographische Schrift des Philosophen Friedrich Nietzsche. Nietzsche arbeitete von Oktober 1888 bis zu seinem Zusammenbruch Anfang 1889 an dem Werk, das zum ersten Mal 1908 im Auftrag des Nietzsche-Archivs ver?ffentlicht wurde. Es ist nicht vollst?ndig ?berliefert und in seiner heute anerkannten Form erst seit den 1970ern bekannt.

In Ecce homo gibt Nietzsche r?ckblickend Deutungen seiner philosophischen Schriften und pr?sentiert sich selbst und seine Erkenntnisse als schicksalhafte Ereignisse von weltbewegender Gr??e. Dabei stehen die Themen seines Sp?twerks, besonders die Kritik am Christentum und die angek?ndigte „Umwertung aller Werte“, im Vordergrund.

Es gibt unterschiedliche Ansichten dar?ber, wie glaubw?rdig Nietzsches Darstellungen sind und wie sehr die Schrift bereits von seiner Geisteskrankheit beeinflusst ist. Dennoch sind Nietzsches Selbstdeutungen in Ecce homo oft als Ausgangspunkt f?r weitere biographische und philosophische Deutungen seines Werks genommen worden. Als letztes gr??eres Werk Nietzsches – die gleichzeitig entstandenen, kleineren Werke Nietzsche contra Wagner und Dionysos-Dithyramben sind im Wesentlichen aus ?lterem Material kompiliert – nimmt es in der Nietzsche-Rezeption eine Sonderstellung ein.

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3.

Was sich damals bei mir entschied, war nicht etwa ein Bruch mit Wagner — ich empfand eine Gesammt-Abirrung meines Instinkts, von der der einzelne Fehlgriff, heisse er nun Wagner oder Basler Professur, bloss ein Zeichen war. Eine Ungeduld mit mir überfiel mich; ich sah ein, dass es die höchste Zeit war, mich auf mich zurückzubesinnen. Mit Einem Male war mir auf eine schreckliche Weise klar, wie viel Zeit bereits verschwendet sei, — wie nutzlos, wie willkürlich sich meine ganze Philologen-Existenz an meiner Aufgabe ausnehme. Ich schämte mich dieser falschen Bescheidenheit ... Zehn Jahre hinter mir, wo ganz eigentlich die Ernährung des Geistes bei mir stillgestanden hatte, wo ich nichts Brauchbares hinzugelernt hatte, wo ich unsinnig Viel über einem Krimskrams verstaubter Gelehrsamkeit vergessen hatte. Antike Metriker mit Akribie und schlechten Augen durchkriechen — dahin war es mit mir gekommen! — Ich sah mit Erbarmen mich ganz mager, ganz abgehungert: die Realitäten fehlten geradezu innerhalb meines Wissens und die »Idealitäten« taugten den Teufel was! — Ein geradezu brennender Durst ergriff mich: von da an habe ich in der That nichts mehr getrieben als Physiologie, Medizin und Naturwissenschaften, — selbst zu eigentlichen historischen Studien bin ich erst wieder zurückgekehrt, als die Aufgabe mich gebieterisch dazu zwang. Damals errieth ich auch zuerst den Zusammenhang zwischen einer, instinktwidrig gewählten Thätigkeit, einem sogenannten »Beruf«, zu dem man am letzten berufen ist und jenem Bedürfniss nach einer Betäubung des Öde- und Hungergefühls durch eine narkotische Kunst, — zum Beispiel durch die Wagnerische Kunst. Bei einem vorsichtigeren Umblick habe ich entdeckt, dass für eine grosse Anzahl junger Männer der gleiche Nothstand besteht: Eine Widernatur erzwingt förmlich eine zweite. In Deutschland, im »Reich«, um unzweideutig zu reden, sind nur zu Viele verurtheilt, sich unzeitig zu entscheiden und dann, unter einer unabwerfbar gewordnen Last, hinzusiechen... Diese verlangen nach Wagner als nach einem Opiat, — sie vergessen sich, sie werden sich einen Augenblick los ... Was sage ich! fünf bis sechs Stunden!

4.

Damals entschied sich mein Instinkt unerbittlich gegen ein noch längeres Nachgeben, Mitgehn, Mich-selbst-verwechseln. Jede Art Leben, die ungünstigsten Bedingungen, Krankheit, Armut — Alles schien mir jener unwürdigen »Selbstlosigkeit« vorziehenswerth, in die ich zuerst aus Unwissenheit, aus Jugend gerathen war, in der ich später aus Trägheit, aus sogenanntem »Pflichtgefühl« hängen geblieben war. — Hier kam mir, auf eine Weise, die ich nicht genug bewundern kann, und gerade zur rechten Zeit jene schlimme Erbschaft von Seiten meines Vaters her zu Hülfe, — im Grunde eine Vorbestimmung zu einem frühen Tode. Die Krankheit löste mich langsam heraus: sie ersparte mir jeden Bruch, jeden gewaltthätigen und anstössigen Schritt. Ich habe kein Wohlwollen damals eingebüsst und viel noch hinzugewonnen. Die Krankheit gab mir insgleichen ein Recht zu einer vollkommnen Umkehr aller meiner Gewohnheiten; sie erlaubte, sie gebot mir Vergessen; sie beschenkte mich mit der Nöthigung zum Stillliegen, zum Müssiggang, zum Warten und Geduldigsein ... Aber das heisst ja denken! ... Meine Augen allein machten ein Ende mit aller Bücherwürmerei, auf deutsch: Philologie: ich war vom »Buch« erlöst, ich las jahrelang Nichts mehr — die grösste Wohlthat, die ich mir je erwiesen habe! — Jenes unterste Selbst, gleichsam verschüttet, gleichsam still geworden unter einem beständigen Hören-Müssen auf andre Selbste (- und das heisst ja lesen!) erwachte langsam, schüchtern, zweifelhaft, — aber endlich redete es wieder. Nie habe ich so viel Glück an mir gehabt, als in den kränksten und schmerzhaftesten Zeiten meines Lebens: man hat nur die »Morgenröthe« oder etwa den »Wanderer und seinen Schatten« sich anzusehn, um zu begreifen, was diese »Rückkehr zu mir« war: eine höchste Art von Genesung selbst! ... Die andre folgte bloss daraus.

5.

Menschliches, Allzumenschliches, dies Denkmal einer rigorösen Selbstzucht, mit der ich bei mir allem eingeschleppten »höheren Schwindel«, »Idealismus«, »schönen Gefühl«, und andren Weiblichkeiten ein jähes Ende bereitete, wurde in allen Hauptsachen in Sorrent niedergeschrieben; es bekam seinen Schluss, seine endgültige Form in einem Basler Winter, unter ungleich ungünstigeren Verhältnissen als denen in Sorrent. Im Grunde hat Herr Peter Gast, damals an der Basler Universität studirend und mir sehr zugethan, das Buch auf dem Gewissen. Ich diktirte, den Kopf verbunden und schmerzhaft, er schrieb ab, er corrigirte auch, — er war im Grunde der eigentliche Schriftsteller, während ich bloss der Autor war. Als das Buch endlich fertig mir zu Händen kam — zur tiefen Verwunderung eines Schwerkranken —, sandte ich, unter Anderem, auch nach Bayreuth zwei Exemplare. Durch ein Wunder von Sinn im Zufall kam gleichzeitig bei mir ein schönes Exemplar des Parsifal-Textes an, mit Wagners Widmung an mich »seinem theuren Freunde Friedrich Nietzsche, Richard Wagner, Kirchenrath«. — Diese Kreuzung der zwei Bücher — mir war's, als ob ich einen ominösen Ton dabei hörte. Klang es nicht, als ob sich Degen kreuzten? ... Jedenfalls empfanden wir es beide so: denn wir schwiegen beide. — Um diese Zeit erschienen die ersten Bayreuther Blätter: ich begriff, wozu es höchste Zeit gewesen war. — Unglaublich! Wagner war fromm geworden ...

6.

Wie ich damals (1876) über mich dachte, mit welcher ungeheuren Sicherheit ich meine Aufgabe und das Welthistorische an ihr in der Hand hielt, davon legt das ganze Buch, vor Allem aber eine sehr ausdrückliche Stelle Zeugniss ab: nur dass ich, mit der bei mir instinktiven Arglist, auch hier wieder das Wörtchen »ich« umgieng und dies Mal nicht Schopenhauer oder Wagner, sondern einen meiner Freunde, den ausgezeichneten Dr. Paul Rée, mit einer welthistorischen Glorie überstrahlte — zum Glück ein viel zu feines Thier, als dass ... Andre waren weniger fein: ich habe die Hoffnungslosen unter meinen Lesern, zum Beispiel den typischen deutschen Professor, immer daran erkannt, dass sie, auf diese Stelle hin, das ganze Buch als höheren Réealismus verstehn zu müssen glaubten ... In Wahrheit enthielt es den Widerspruch gegen fünf, sechs Sätze meines Freundes: man möge darüber die Vorrede zur Genealogie der Moral nachlesen. — Die Stelle lautet: welches ist doch der Hauptsatz, zu dem einer der kühnsten und kältesten Denker, der Verfasser des Buchs »über den Ursprung der moralischen Empfindungen« (lisez: Nietzsche, der erste Immoralist) vermöge seiner ein- und durchschneidenden Analysen des menschlichen Handelns gelangt ist? »Der moralische Mensch steht der intelligiblen Welt nicht näher als der physische — denn es giebt keine intelligible Welt... « Dieser Satz, hart und schneidig geworden unter dem Hammerschlag der historischen Erkenntniss (lisez: Umwerthung aller Werthe) kann vielleicht einmal, in irgend welcher Zukunft — 1890! — als die Axt dienen, welche dem »metaphysischen Bedürfniss« der Menschheit an die Wurzel gelegt wird, — ob mehr zum Segen oder zum Fluche der Menschheit, wer wüsste das zu sagen? Aber jedenfalls als ein Satz der erheblichsten Folgen, fruchtbar und furchtbar zugleich und mit jenem Doppelblick in die Welt sehend, welchen alle grossen Erkenntnisse haben ...

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