Narzi? und Goldmund
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Hermann Hesses Erz?hlung ?ber den Gegensatz zwischen Geist- und Sinnenmenschen und ihre produktive Vereinigung im K?nstler ist eine moderne Gestaltung des Don-Juanund Casanova-Motivs. Sie ist aber auch ein Loblied der Freundschaft, voller Abenteuer in einem zeitlosen Mittelalter. Kl?sterlicher und st?dtischer Kunstbetrieb, Zigeunerm?dchen und Vagantenpoesie: »Alle diese Elemente deutsch-romantischer Erz?hlkunst vereinen sich hier in seltener Vollst?ndigkeit« (Rolf Schneider). Jahre bevor der Nationalsozialismus die kulturellen Traditionen Deutschlands mi?brauchte, hat Hesse in diesem Roman die Idee von Deutschland und deutschem Wesen, die er seit seiner Kindheit in sich trug, dargestellt und ihr seine »Liebe gestanden, gerade weil ich alles, was heute spezifisch deutsch ist, so sehr hasse«, schrieb er 1933. Zu Hesses Lebzeiten war Narzi? und Goldmund das erfolgreichste seiner B?cher. Die deutsche Gesamtauflage von 1930 bis heute betr?gt mehr als zwei Millionen Exemplare. ?bersetzt ist der Roman mittlerweile in drei?ig Sprachen.
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Erstes Kapitel
Vor dem von Doppelsäulchen getragenen Rundbogen des Klostereinganges von Mariabronn, dicht am Wege, stand ein Kastanienbaum, ein vereinzelter Sohn des Südens, von einem Rompilger vor Zeiten mitgebracht, eine Edelkastanie mit starkem Stamm; zärtlich hing ihre runde Krone über den Weg, atmete breitbrüstig im Winde, ließ im Frühling, wenn alles ringsum schon grün war und selbst die Klosternußbäume schon ihr rötliches Junglaub trugen, noch lange auf ihre Blätter warten, trieb dann um die Zeit der kürzesten Nächte aus den Blattbüscheln die matten, weißgrünen Strahlen ihrer fremdartigen Blüten empor, die so mahnend und beklemmend herbkräftig rochen, und ließ im Oktober, wenn Obst und Wein schon geerntet war, aus der gilbenden Krone im Herbstwind die stacheligen Früchte fallen, die nicht in jedem Jahr reif wurden, um welche die Klosterbuben sich balgten und die der aus dem Welschland stammende Subprior Gregor in seiner Stube im Kaminfeuer briet. Fremd und zärtlich ließ der schöne Baum seine Krone überm Eingang zum Kloster wehen, ein zartgesinnter und leicht fröstelnder Gast aus einer anderen Zone, verwandt in geheimer Verwandtschaft mit den schlanken sandsteinernen Doppelsäulchen des Portals und dem steinernen Schmuckwerk der Fensterbogen, Gesimse und Pfeiler, geliebt von den Welschen und Lateinern, von den Einheimischen als Fremdling begafft.
Unter dem ausländischen Baume waren schon manche Generationen von Klosterschülern vorübergegangen; ihre Schreibtafeln unterm Arm, schwatzend, lachend, spielend, streitend, je nach der Jahreszeit barfuß oder beschuht, eine Blume im Mund, eine Nuß zwischen den Zähnen oder einen Schneeball in der Hand. Immer neue kamen, alle paar Jahre waren es andere Gesichter, die meisten einander ähnlich: blond und kraushaarig. Manche blieben da, wurden Novizen, wurden Mönche, bekamen das Haar geschoren, trugen Kutte und Strick, lasen in Büchern, unterwiesen die Knaben, wurden alt, starben. Andre, wenn ihre Schülerjahre vorbei waren, wurden von ihren Eltern heimgeholt, in Ritterburgen, in Kaufmanns- und Handwerkerhäuser, liefen in die Welt und trieben ihre Spiele und Gewerbe, kamen etwa einmal zu einem Besuch ins Kloster zurück, Männer geworden, brachten kleine Söhne als Schüler zu den Patres, schauten lächelnd und gedankenvoll eine Weile zum Kastanienbaum empor, verloren sich wieder. In den Zellen und Sälen des Klosters, zwischen den runden schweren Fensterbogen und den strammen Doppelsäulen aus rotem Stein wurde gelebt, gelehrt, studiert, verwaltet, regiert; vielerlei Kunst und Wissenschaft wurde hier getrieben und von einer Generation der andern vererbt, fromme und weltliche, helle und dunkle, Bücher wurden geschrieben und kommentiert, Systeme ersonnen, Schriften der Alten gesammelt, Bilderhandschriften gemalt, des Volkes Glaube gepflegt, des Volkes Glaube belächelt. Gelehrsamkeit und Frömmigkeit, Einfalt und Verschlagenheit, Weisheit der Evangelien und Weisheit der Griechen, weiße und schwarze Magie, von allem gedieh hier etwas, für alles war Raum; es war Raum für Einsiedelei und Bußübung ebenso wie für Geselligkeit und Wohlleben; an der Person des jeweiligen Abtes und an der jeweils herrschenden Strömung der Zeit lag es, ob das eine oder das andere überwog und vorherrschte. Zuzeiten war das Kloster berühmt und besucht wegen seiner Teufelsbanner und Dämonenkenner, zuzeiten wegen seiner ausgezeichneten Musik, zuzeiten wegen eines heiligen Vaters, der Heilungen und Wunder tat, zuzeiten wegen seiner Hechtsuppen und Hirschleberpasteten, ein jedes zu seiner Zeit. Und immer war unter der Schar der Mönche und Schüler, der frommen und der lauen, der fastenden und der feisten, immer war zwischen den vielen, welche da kamen, lebten und starben, dieser und jener Einzelne und Besondere gewesen, einer, den alle liebten oder alle fürchteten, einer, der auserwählt schien, einer, von dem noch lange gesprochen wurde, wenn seine Zeitgenossen vergessen waren. Auch jetzt gab es im Kloster Mariabronn zwei Einzelne und Besondere, einen Alten und einen Jungen. Zwischen den vielen Brüdern, deren Schwärm die Dormente, Kirchen und Schulsäle erfüllte, gab es zwei, von denen jeder wußte, auf die jeder achtete. Es gab den Abt Daniel, den Alten, und den Zögling Narziß, den Jungen, der erst seit kurzem das Noviziat angetreten hatte, aber seiner besonderen Gaben wegen gegen alles Herkommen schon als Lehrer verwendet wurde, besonders im Griechischen. Diese beiden, der Abt und der Novize, hatten Geltung im Hause, waren beobachtet und weckten Neugierde, wurden bewundert und beneidet und auch heimlich gelästert.
Den Abt liebten die meisten, er hatte keine Feinde, er war voll Güte, voll Einfalt, voll Demut. Nur die Gelehrten des Klosters mischten in ihre Liebe etwas von Herablassung; denn Abt Daniel mochte ein Heiliger sein, ein Gelehrter jedoch war er nicht. Ihm war jene Einfalt eigen, welche Weisheit ist; aber sein Latein war bescheiden, und Griechisch konnte er überhaupt nicht.
Jene wenigen, welche gelegentlich die Einfalt des Abtes etwas belächelten, waren desto mehr von Narziß bezaubert, dem Wunderknaben, dem schönen Jüngling mit dem eleganten Griechisch, mit dem ritterlich tadellosen Benehmen, mit dem stillen, eindringlichen Denkerblick und den schmalen, schön und streng gezeichneten Lippen. Daß er wunderbar Griechisch konnte, liebten die Gelehrten an ihm. Daß er so edel und fein war, liebten beinahe alle an ihm, viele waren in ihn verliebt. Daß er so sehr still und beherrscht war und so höfische Manieren hatte, nahmen manche ihm übel. Abt und Novize, jeder trug auf seine Art das Schicksal des Auserwählten, herrschte auf seine Art, litt auf seine Art. Jeder der beiden fühlte sich dem andern mehr verwandt und mehr zu ihm hingezogen als zum ganzen übrigen Klostervolk; dennoch fanden sie nicht zueinander, dennoch konnte keiner beim andern warm werden. Der Abt behandelte den Jüngling mit größter Sorgfalt, mit größter Rücksicht, hatte um ihn Sorge als um einen seltenen, zarten, vielleicht allzufrüh gereiften, vielleicht gefährdeten Bruder. Der Jüngling nahm jeden Befehl, jeden Rat, jedes Lob des Abtes mit vollkommener Haltung entgegen, widersprach niemals, war nie verstimmt, und wenn das Urteil des Abtes über ihn richtig und sein einziges Laster der Hochmut war, so wußte er dies Laster wunderbar zu verbergen. Es war gegen ihn nichts zu sagen, er war vollkommen, er war allen überlegen. Nur wurden wenige ihm wirklich Freund, außer den Gelehrten, nur umgab seine Vornehmheit ihn wie eine erkältende Luft. »Narziß«, sagte der Abt nach einer Beichte zu ihm, »ich bekenne mich eines harten Urteils über dich schuldig. Ich habe dich oft für hochmütig gehalten, und vielleicht tat ich dir damit unrecht. Du bist sehr allein, junger Bruder, du bist einsam, du hast Bewunderer, aber keine Freunde. Ich wollte wohl, ich hätte Anlaß, dich zuweilen zu tadeln; aber es ist kein Anlaß. Ich wollte wohl, du wärest manchmal unartig, wie es junge Leute deines Alters sonst leicht sind. Du bist es nie. Ich sorge mich zuweilen ein wenig um dich, Narziß.« Der Junge schlug seine dunklen Augen zu dem Alten auf. »Ich wünsche sehr, gnädiger Vater, Euch keine Sorge zu machen. Es mag wohl sein, daß ich hochmütig bin, gnädiger Vater. Ich bitte Euch, mich dafür zu strafen. Ich habe selbst zuzeiten den Wunsch, mich zu strafen. Schickt mich in eine Einsiedelei, Vater, oder lasset mich niedere Dienste tun.« »Für beides bist du zu jung, lieber Bruder«, sagte der Abt. »Überdies bist du der Sprachen und des Denkens in hohem Grade fähig, mein Sohn; es wäre eine Vergeudung dieser Gottesgaben, wollte ich dir niedere Dienste auftragen. Wahrscheinlich wirst du wohl ein Lehrer und Gelehrter werden. Wünschest du dies nicht selbst?«
»Verzeiht, Vater, ich weiß über meine Wünsche nicht so sehr genau Bescheid. Ich werde stets Freude an den Wissenschaften haben, wie sollte es anders sein? Aber ich glaube nicht, daß die Wissenschaften mein einziges Gebiet sein werden. Es mögen ja nicht immer die Wünsche sein, die eines Menschen Schicksal und Sendung bestimmen, sondern anderes, Vorbestimmtes.«
Der Abt horchte und wurde ernst. Dennoch stand ein Lächeln auf seinem alten Gesicht, als er sagte: »Soviel ich die Menschen habe kennenlernen, neigen wir, zumal in der Jugend, alle ein wenig dazu, die Vorsehung und unsere Wünsche miteinander zu verwechseln. Aber sage mir, da du deine Bestimmung vorauszuwissen glaubst, ein Wort darüber. Wozu denn glaubst du bestimmt zu sein?«
Narziß schloß seine dunklen Augen halb, daß sie unter den langen schwarzen Wimpern verschwanden. Er schwieg. »Sprich, mein Sohn«, mahnte nach langem Warten der Abt. Mit leiser Stimme und gesenkten Augen begann Narziß zu sprechen.
»Ich glaube zu wissen, gnädiger Vater, daß ich vor allem zum Klosterleben bestimmt bin. Ich werde, so glaube ich, Mönch werden, Priester werden, Subprior und vielleicht Abt werden. Ich glaube dies nicht, weil ich es wünsche. Mein Wunsch geht nicht nach Ämtern. Aber sie werden mir auferlegt werden.«
Lange schwiegen beide.
»Warum hast du diesen Glauben?« fragte zögernd der Alte. »Welche Eigenschaft in dir, außer der Gelehrsamkeit, ist es wohl, die in diesem Glauben zu Wort kommt?«
»Es ist die Eigenschaft«, sagte Narziß langsam, »daß ich ein Gefühl für die Art und Bestimmung der Menschen habe, nicht nur für meine eigene, auch für die der andern. Diese Eigenschaft zwingt mich, den andern dadurch zu dienen, daß ich sie beherrsche. Wäre ich nicht zum Klosterleben geboren, so würde ich Richter oder Staatsmann werden müssen.«
»Mag sein«, nickte der Abt. »Hast du deine Fähigkeit, Menschen und ihre Schicksale zu erkennen, an Beispielen erprobt?«
»Ich habe sie erprobt.«
»Bist du bereit, mir ein Beispiel zu nennen?«
»Ich bin bereit.«
»Gut. Da ich nicht in die Geheimnisse unserer Brüder ohne deren Wissen eindringen möchte, magst du mir vielleicht sagen, was du über mich, deinen Abt Daniel, zu wissen meinst.«
Narziß hob seine Lider und blickte dem Abt in die Augen. »Ist es Euer Befehl, gnädiger Vater?«
»Mein Befehl.«
»Es fällt mir schwer, zu sprechen, Vater.«
»Auch mir fällt es schwer, junger Bruder, dich zum Sprechen zu zwingen. Ich tue es dennoch. Sprich!«
Narziß senkte den Kopf und sagte flüsternd: »Es ist wenig, was ich von Euch weiß, verehrter Vater. Ich weiß, daß Ihr ein Diener Gottes seid, dem es lieber wäre, Ziegen zu hüten oder in einer Einsiedelei das Glöckchen zu läuten und die Beichten der Bauern abzuhören, als ein großes Kloster zu regieren. Ich weiß, daß Ihr eine besondere Liebe zur heiligen Mutter Gottes habet und zu ihr am meisten betet. Ihr betet zuweilen darum, daß die griechischen und anderen Wissenschaften, die in diesem Kloster gepflegt werden, keine Verwirrung und Gefahr für die Seelen Eurer Anbefohlenen sein mögen. Ihr betet zuweilen, daß Euch gegen den Subprior Gregor die Geduld nicht verlasse. Ihr betet zuweilen um ein sanftes Ende. Und Ihr werdet, so glaube ich, erhört werden und ein sanftes Ende haben.«