Narzi? und Goldmund
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Hermann Hesses Erz?hlung ?ber den Gegensatz zwischen Geist- und Sinnenmenschen und ihre produktive Vereinigung im K?nstler ist eine moderne Gestaltung des Don-Juanund Casanova-Motivs. Sie ist aber auch ein Loblied der Freundschaft, voller Abenteuer in einem zeitlosen Mittelalter. Kl?sterlicher und st?dtischer Kunstbetrieb, Zigeunerm?dchen und Vagantenpoesie: »Alle diese Elemente deutsch-romantischer Erz?hlkunst vereinen sich hier in seltener Vollst?ndigkeit« (Rolf Schneider). Jahre bevor der Nationalsozialismus die kulturellen Traditionen Deutschlands mi?brauchte, hat Hesse in diesem Roman die Idee von Deutschland und deutschem Wesen, die er seit seiner Kindheit in sich trug, dargestellt und ihr seine »Liebe gestanden, gerade weil ich alles, was heute spezifisch deutsch ist, so sehr hasse«, schrieb er 1933. Zu Hesses Lebzeiten war Narzi? und Goldmund das erfolgreichste seiner B?cher. Die deutsche Gesamtauflage von 1930 bis heute betr?gt mehr als zwei Millionen Exemplare. ?bersetzt ist der Roman mittlerweile in drei?ig Sprachen.
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Still war es in dem kleinen Sprechzimmer des Abtes. Endlich sprach der Alte.
»Du bist ein Schwärmer und hast Gesichte«, sagte der greise Herr freundlich. »Auch fromme und freundliche Gesichte können täuschen; verlaß dich nicht auf sie, wie auch ich mich nicht auf sie verlasse. – Kannst du sehen, Bruder Schwärmer, was ich über diese Sache im Herzen denke?«
»Ich kann sehen, Vater, daß Ihr sehr freundlich darüber denket. Ihr denket das Folgende: „Dieser junge Schüler ist ein wenig gefährdet, er hat Gesichte, er hat vielleicht zu viel meditiert. Ich könnte ihm vielleicht eine Buße auferlegen, sie wird ihm nicht schaden. Ich werde aber die Buße, die ich ihm auferlege, auch selbst auf mich nehmen.“ – Dies ist es, was Ihr soeben denket.«
Der Abt erhob sich. Lächelnd winkte er dem Novizen, sich zu verabschieden.
»Es ist gut«, sagte er. »Nimm deine Gesichte nicht allzu ernst, junger Bruder; Gott fordert noch manches andere von uns, als Gesichte zu haben. Nehmen wir an, du habest einem alten Manne damit geschmeichelt, daß du ihm einen leichten Tod versprachst. Nehmen wir an, der alte Mann habe einen Augenblick lang diese Versprechung gern gehört. Es ist nun genug. Du sollst einen Rosenkranz beten, morgen nach der Frühmesse, du sollst ihn mit Demut und Hingabe beten und nicht obenhin, und ich werde dasselbe tun. Geh nun, Narziß, es ist genug geredet.«
Ein andermal hatte der Abt Daniel zu schlichten zwischen dem jüngsten der lehrenden Patres und Narziß, die sich über einen Punkt im Lehrplan nicht einigen konnten: Narziß drang mit großem Eifer auf die Einführung gewisser Änderungen im Unterricht, wußte sie auch mit überzeugenden Gründen zu rechtfertigen; Pater Lorenz aber, aus einer Art von Eifersucht, wollte nicht darauf eingehen, und jeder neuen Besprechung folgten Tage eines verstimmten Schweigens und Schmollens, bis Narziß im Gefühl des Rechthabens nochmals mit der Sache anfing. Schließlich sagte Pater Lorenz, etwas gekränkt: »Nun, Narziß, wir wollen dem Streit ein Ende machen. Du weißt ja, daß die Entscheidung bei mir und nicht bei dir läge, du bist nicht mein Kollege, sondern mein Gehilfe und hast dich mir zu fügen. Aber da die Sache dir gar so wichtig scheint und da ich dir zwar an Amtsgewalt, nicht aber an Wissen und Gaben überlegen bin, will ich nicht selbst die Entscheidung treffen, sondern wir werden sie unserem Vater Abt vortragen und ihn entscheiden lassen.«
So taten sie denn, und Abt Daniel hörte den Streit der beiden Gelehrten über ihre Auffassung des Unterrichts in der Grammatik geduldig und freundlich an. Nachdem sie beide ihre Meinungen ausführlich dargelegt und begründet hatten, blickte der alte Mann sie fröhlich an, schüttelte ein wenig das greise Haupt und sprach: »Liebe Brüder, ihr glaubet ja wohl beide nicht, daß ich von diesen Sachen ebensoviel verstünde wie ihr. Es ist löblich von Narziß, daß die Schule ihm so sehr am Herzen liegt und daß er den Lehrplan zu verbessern strebt. Wenn aber sein Vorgesetzter anderer Meinung ist, so hat Narziß zu schweigen und zu gehorchen, und alle Verbesserungen der Schule wögen es nicht auf, wenn ihretwegen Ordnung und Gehorsam in diesem Haus gestört würden. Ich tadle Narziß, daß er nicht nachzugeben wußte. Und euch beiden jungen Gelehrten wünsche ich, es möge euch nie an Vorgesetzten mangeln, welche dümmer sind als ihr; nichts ist besser gegen den Hochmut.« Mit diesem gutmütigen Scherz entließ er sie. Aber er vergaß keineswegs, während der nächsten Tage ein Auge darauf zu haben, ob zwischen den beiden Lehrern wieder ein gutes Einvernehmen bestehe.
Und nun begab es sich, daß ein neues Gesicht im Kloster erschien, das so viele Gesichter kommen und gehen sah, und daß dies neue Gesicht nicht zu den unbemerkten und schnell wieder vergessenen gehörte. Es war ein Jüngling, der, schon vorlängst von seinem Vater angemeldet, an einem Frühlingstage eintraf, um in der Klosterschule zu studieren. Beim Kastanienbaum banden sie ihre Pferde an, der Jüngling und sein Vater, und aus dem Portal kam der Pförtner ihnen entgegen.
Der Knabe blickte an dem noch winterkahlen Baum empor. »Einen solchen Baum«, sagte er, »habe ich noch nie gesehen. Ein schöner, merkwürdiger Baum! Ich möchte wohl wissen, wie er heißt.«
Der Vater, ein ältlicher Herr, mit einem versorgten und etwas verkniffenen Gesicht, kümmerte sich nicht um die Worte des Jungen. Der Pförtner aber, dem der Knabe alsbald wohlgefiel, gab ihm Auskunft. Der Jüngling dankte ihm freundlich, gab ihm die Hand und sagte: »Ich heiße Goldmund und soll hier zur Schule gehen.« Freundlich lächelte der Mann ihn an und ging den Ankömmlingen voran durchs Portal und die breiten Steintreppen hinauf, und Goldmund betrat das Kloster ohne Zagen mit dem Gefühl, an diesem Ort schon zwei Wesen begegnet zu sein, denen er Freund sein konnte, dem Baum und dem Pförtner. Die Angekommenen wurden erst vom Pater Schulvorsteher, gegen Abend auch noch vom Abt selbst empfangen. An beiden Orten stellte der Vater, ein kaiserlicher Beamter, seinen Sohn Goldmund vor, und man lud ihn ein, eine Weile Gast des Hauses zu sein. Er machte jedoch nur für eine Nacht vom Gastrecht Gebrauch und erklärte, morgen zurückreisen zu müssen. Als Geschenk bot er dem Kloster das eine seiner beiden Pferde an, und die Gabe ward angenommen. Die Unterhaltung mit den geistlichen Herren verlief artig und kühl; aber sowohl der Abt wie der Pater blickte den ehrerbietig schweigenden Goldmund mit Freude an, der.hübsche zärtliche Junge gefiel ihnen sogleich. Den Vater ließen sie andern Tages ohne Bedauern wieder ziehen, den Sohn behielten sie gerne da. Goldmund wurde den Lehrern vorgestellt und bekam ein Bett im Schlafsaal der Schüler. Ehrerbietig und mit betrübtem Gesicht nahm er Abschied von seinem wegreitenden Vater, stand und blickte ihm nach, bis er zwischen Kornhaus und Mühle durch das enge Bogentor des äußeren Klosterhofes verschwand. Eine Träne hing ihm an der langen blonden Wimper, als er sich umwandte; da empfing ihn schon der Pförtner mit einem liebkosenden Schlag auf die Schulter.
»Junges Herrchen«, sagte er tröstend, »du mußt nicht traurig sein. Die meisten haben im Anfang ein klein wenig Heimweh, nach Vater, Mutter und Geschwistern. Aber du wirst schnell sehen: es läßt sich auch hier leben, und gar nicht übel.«
»Danke, Bruder Pförtner«, sagte der Junge. »Ich habe keine Geschwister und keine Mutter, ich habe bloß den Vater.«
»Dafür findest du hier Kameraden und Gelehrsamkeit und Musik und neue Spiele, die du noch nicht kennst, und dies und jenes, du wirst schon sehen. Und wenn du einen brauchst, der es gut mit dir meint, dann komm nur zu mir.«
Goldmund lächelte ihn an. »Oh, ich danke Euch sehr. Und wenn Ihr mir eine Freude machen wollet, dann zeigt mir bitte bald, wo unser Rößlein steht, das mein Vater hiergelassen hat. Ich möchte es begrüßen und sehen, ob es ihm auch gut gehe.«
Der Pförtner nahm ihn sogleich mit und führte ihn in den Pferdestall beim Kornhaus. Da roch es in lauer Dämmerung scharf nach Pferden, nach Mist und nach Gerste, und in einem der Stände fand Goldmund das braune Pferd stehen, das ihn hierhergetragen hatte. Er legte dem Tier, das ihn schon erkannt hatte und ihm den Kopf lang entgegenstreckte, beide Hände um den Hals, legte ihm die Wange an die breite, weißgefleckte Stirn, streichelte es zärtlich und flüsterte ihm Worte ins Ohr: »Grüß dich Gott, Bleß, mein Tierchen, mein Braver, geht es dir gut? Hast du mich noch lieb? Hast du auch zu fressen? Denkst du auch noch an daheim? Bleß, Rößchen, lieber Kerl, wie gut, daß du dageblieben bist, ich will oft zu dir kommen und nach dir sehen.«
Er zog aus dem Ärmelumschlag ein Stück Frühstücksbrot, das er beiseitegebracht hatte, und gab es in kleinen Brocken dem Tier zu fressen. Dann nahm er Abschied, folgte dem Pförtner über den Hof, der breit wie der Marktplatz einer großen Stadt und zum Teil mit Linden bewachsen war. Am innern Eingang dankte er dem Pförtner und gab ihm die Hand, dann merkte er, daß er den Weg zu seinem Schulsaal nicht mehr wisse, der ihm gestern gezeigt worden war, lachte ein wenig und wurde rot, bat den Pförtner, ihn zu führen, und der tat es gerne. Dann trat er in den Schulsaal, wo ein Dutzend Knaben und Jünglinge auf den Bänken saßen, und der Lehrgehilfe Narziß wendete sich um.
»Ich bin Goldmund«, sagte er, »der neue Schüler.«
Narziß grüßte kurz, ohne Lächeln, wies ihm einen Platz in der hintern Bank an und fuhr sofort in seinem Unterricht fort.
Goldmund setzte sich. Er war erstaunt darüber, einen so jungen Lehrer zu finden, kaum einige Jahre älter als er selbst, und war erstaunt und tief erfreut darüber, diesen jungen Lehrer so schön, so vornehm, so ernst, dabei so gewinnend und liebenswert zu finden. Der Pförtner war nett mit ihm gewesen, der Abt war ihm so freundlich begegnet, drüben im Stall stand Bleß und war ein Stück Heimat, und nun war da dieser erstaunlich junge Lehrer, ernst wie ein Gelehrter und fein wie ein Prinz, und mit dieser beherrschten, kühlen, sachlichen, zwingenden Stimme! Dankbar hörte er zu, ohne doch gleich zu verstehen, von was da die Rede sei. Ihm wurde wohl. Er war zu guten, zu liebenswerten Menschen gekommen, und er war bereit, sie zu lieben und um ihre Freundschaft zu werben. Am Morgen im Bett, nach dem Erwachen, hatte er sich beklommen gefühlt, und müde von der langen Reise war er auch noch, und beim Abschied von seinem Vater hatte er etwas weinen müssen. Aber jetzt war es gut, er war zufrieden. Lange und immer wieder sah er den jungen Lehrer an, freute sich an seiner straffen schlanken Gestalt, seinem kühl blitzenden Auge, seinen straffen, klar und fest die Silben formenden Lippen, an seiner beschwingten, unermüdlichen Stimme.
Aber als die Unterrichtsstunde zu Ende war und die Schüler sich lärmend erhoben, schrak Goldmund auf und merkte etwas beschämt, daß er eine ganze Weile geschlafen hatte. Und nicht er allein merkte es, auch seine Banknachbarn hatten es gesehen und flüsternd weitergemeldet. Kaum hatte der junge Lehrer den Saal verlassen, da zupften und stießen die Kameraden Goldmund von allen Seiten.
»Ausgeschlafen?« fragte einer und grinste.
»Feiner Schüler!« höhnte einer. »Aus dem wird ein schönes Kirchenlicht werden. Dachst gleich in der ersten Stunde ein!«
»Bringt ihn zu Bett, den Kleinen«, schlug einer vor, und sie ergriffen ihn an Armen und Beinen, um ihn unter Gelächter wegzutragen.
So aufgeschreckt wurde Goldmund zornig; er schlug um sich, suchte sich zu befreien, bekam Püffe und wurde schließlich fallen gelassen, während einer ihn noch an einem Fuße festhielt. Von diesem trat er sich gewaltsam los, warf sich auf den ersten besten, der sich stellte, und war alsbald mit ihm in einen heftigen Kampf verwickelt. Sein Gegner war ein starker Kerl, und alle sahen dem Zweikampf mit Begierde zu. Als Goldmund nicht unterlag und dem Starken einige gute Fausthiebe beibrachte, hatte er schon Freunde unter den Kameraden, noch ehe er einen von ihnen mit Namen kannte. Plötzlich aber stoben alle in größter Hast davon, und kaum waren sie weg, so trat der Pater Martin herein, der Schulvorsteher, und stand dem allein zurückgebliebenen Knaben gegenüber. Verwundert sah er den Knaben an, dessen blaue Augen verlegen aus dem hochgeröteten und etwas zerschlagenen Gesicht blickten.