Narzi? und Goldmund
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Hermann Hesses Erz?hlung ?ber den Gegensatz zwischen Geist- und Sinnenmenschen und ihre produktive Vereinigung im K?nstler ist eine moderne Gestaltung des Don-Juanund Casanova-Motivs. Sie ist aber auch ein Loblied der Freundschaft, voller Abenteuer in einem zeitlosen Mittelalter. Kl?sterlicher und st?dtischer Kunstbetrieb, Zigeunerm?dchen und Vagantenpoesie: »Alle diese Elemente deutsch-romantischer Erz?hlkunst vereinen sich hier in seltener Vollst?ndigkeit« (Rolf Schneider). Jahre bevor der Nationalsozialismus die kulturellen Traditionen Deutschlands mi?brauchte, hat Hesse in diesem Roman die Idee von Deutschland und deutschem Wesen, die er seit seiner Kindheit in sich trug, dargestellt und ihr seine »Liebe gestanden, gerade weil ich alles, was heute spezifisch deutsch ist, so sehr hasse«, schrieb er 1933. Zu Hesses Lebzeiten war Narzi? und Goldmund das erfolgreichste seiner B?cher. Die deutsche Gesamtauflage von 1930 bis heute betr?gt mehr als zwei Millionen Exemplare. ?bersetzt ist der Roman mittlerweile in drei?ig Sprachen.
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»Kann man ihn erwecken?« fragte er.
»Ich möchte noch warten. Das Herz ist gesund. Wir dürfen niemand zu ihm lassen.«
»Ist Gefahr?«
»Ich glaube nicht. Nirgends Verletzungen, keine Spuren von Schlag oder Sturz. Er ist ohnmächtig, vielleicht war es eine Kolik. Bei sehr starken Schmerzen verliert man das Bewußtsein. Wenn es eine Vergiftung wäre, käme Fieber. Nein, er wird wieder aufwachen und am Leben bleiben.«
»Kann es nicht vom Gemüt her gekommen sein?«
»Ich will es nicht verneinen. Weiß man denn nichts? Hat er vielleicht einen starken Schrecken gehabt? Eine Todesnachricht? Einen heftigen Streit, eine Beleidigung? Dann wäre alles erklärt.«
»Wir wissen es nicht. Traget Sorge, daß niemand zu ihm gelassen wird. Ich bitte Euch, bei ihm zu bleiben, bis er erwacht. Sollte es schlimm werden, so rufet mich, auch wenn es in der Nacht wäre.«
Vor dem Weggehen beugte der Greis sich nochmals über den Kranken; er dachte an dessen Vater und dachte an den Tag, an dem dieser hübsche heitere Blondkopf ihm zugebracht worden war, und wie sie alle ihn gleich gern gehabt hatten. Auch er hatte ihn gern gesehen. Aber darin hatte Narziß wirklich recht: in nichts erinnerte dieser Knabe an seinen Vater! Ach, wieviel Sorgen überall, wie unzulänglich war all unser Tun! Hatte er nicht vielleicht an diesem armen Knaben etwas versäumt? Hatte er den richtigen Beichtvater gehabt? War es in Ordnung, daß niemand im Hause über diesen Schüler so gut Bescheid wußte wie Narziß? Konnte denn der ihm helfen, der noch im Noviziat stand, der weder Bruder war noch die Weihen hatte und dessen Gedanken und Anschauungen alle etwas so unangenehm Überlegenes, ja fast Feindseliges hatten. Weiß Gott, ob nicht auch Narziß seit langem falsch behandelt worden war? Weiß Gott, ob er nicht hinter der Maske des Gehorsams Schlimmes verbarg, vielleicht ein Heide war? Und alles, was aus diesen beiden jungen Menschen einst werden würde, dafür war er mitverantwortlich.
Als Goldmund zu sich kam, war es dunkel. Er fühlte seinen Kopf leer und schwindlig. Er fühlte sich in einem Bett liegen, er wußte nicht, wo er war, er dachte auch nicht darüber nach, es war ihm gleichgültig. Aber wo war er gewesen? Wo kam er her, aus welcher Fremde von Erlebnissen? Er war irgendwo gewesen, sehr weit fort, er hatte etwas gesehen, etwas Außerordentliches, etwas Herrliches, etwas Furchtbares auch und Unvergeßliches – und doch hatte er es vergessen. Wo war es? Was war da vor ihm aufgetaucht, so groß, so schmerzlich, so selig, und war wieder hingeschwunden?
Tief horchte er in sich hinein, dorthin, wo heute etwas aufgebrochen, etwas geschehen war – was war es gewesen? Wüste Bilderknäuel wälzten sich herauf, er sah Hundeköpfe, drei Hundeköpfe, und er roch den Duft von Rosen. O wie weh war ihm gewesen! Er schloß die Augen. O wie furchtbar weh war ihm gewesen! Er schlief wieder ein.
Wieder erwachte er, und eben noch im Entschwinden der eilig weggleitenden Traumwelt sah er es, fand das Bild wieder und zuckte wie in schmerzlicher Wollust zusammen. Er sah, er war sehend geworden. Er sah Sie. Er sah die Große, Strahlende, mit dem voll blühenden Munde, mit den leuchtenden Haaren. Er sah seine Mutter. Zugleich meinte er eine Stimme zu hören: »Du hast deine Kindheit vergessen.«
Wessen Stimme war doch dies? Er horchte, er sann und fand. Es war Narziß. Narziß? Und in einem Augenblick, mit einem jähen Ruck war alles wieder da: er erinnerte sich, er war wissend. O Mutter, Mutter! Berge von Schutt, Meere von Vergessenheit waren weg, waren verschwunden; aus königlichen, hellblauen Augen blickte die Verlorene ihn wieder an, die unsäglich Geliebte.
Pater Anselm, der im Lehnstuhl neben dem Bett eingeschlummert war, erwachte. Er hörte den Kranken sich bewegen, hörte ihn atmen. Vorsichtig erhob er sich.
»Ist jemand da?« fragte Goldmund.
»Ich bin es, sei ohne Sorge. Ich mache Licht.«
Er brachte die Ampel zum Brennen, der Schein fiel über sein faltiges wohlwollendes Gesicht.
»Bin ich denn krank?« fragte der Jüngling.
»Du bist ohnmächtig gewesen, mein Söhnchen. Gib mir die Hand, wir wollen nach dem Puls sehen. Wie fühlst du dich?«
»Gut. Ich danke Euch, Pater Anselm, Ihr seid sehr gütig. Es fehlt mir nichts mehr, ich bin nur müde.«
»Natürlich bist du müde. Bald wirst du wieder schlafen. Nimm vorher einen Schluck heißen Wein, er steht bereit. Wir wollen einen Becher miteinander leeren, mein Junge, auf gute Kameradschaft.«
Sorglich hatte er ein Krüglein Glühwein bereit gehalten und in ein Gefäß mit heißem Wasser gestellt.
»Da haben wir also beide eine ganze Weile geschlafen«, lachte der Arzt. »Ein feiner Krankenwärter, wirst du denken, der sich nicht munter halten kann. Na ja, wir sind Menschen. Jetzt trinken wir ein wenig von diesem Zaubertrank, mein Kleiner, nichts Hübscheres als so eine kleine heimliche Zecherei in der Nacht. Also Prosit!«
Goldmund lachte, stieß an und kostete. Der warme Wein war mit Zimmet und Nelken gewürzt und mit Zucker gesüßt, das hatte er noch nie getrunken. Es fiel ihm ein, daß er schon einmal krank gewesen sei, da hatte Narziß sich seiner angenommen. Diesmal war es Pater Anselm, der lieb mit ihm war. Es gefiel ihm sehr, es war höchst angenehm und wunderlich, beim Lämpchenschein dazuliegen und mitten in der Nacht mit dem alten Pater einen Becher süßen warmen Wein zu trinken.
»Hast du Bauchweh?« fragte der Alte.
»Nein.«
»Ja, ich dachte, du müßtest Kolik haben, Goldmund. Also damit ist es nichts. Zeig deine Zunge. Na, es ist gut, euer alter Anselm hat wieder einmal nichts gewußt. Du bleibst morgen hübsch liegen, ich komme dann und untersuche dich. Und mit dem Wein bist du schon fertig? Recht so, es möge dir wohl bekommen. Laß mich sehen, ob noch etwas da ist. Zu einem halben Becher für jeden von uns reicht es noch, wenn wir redlich teilen. – Du hast uns schön erschreckt, Goldmund! Liegst da im Kreuzgang wie eine Kinderleiche. Hast du wirklich kein Bauchweh?«
Sie lachten und teilten redlich den Rest des Krankenweins, der Pater machte seine Spaße, und Goldmund blickte ihn dankbar und belustigt aus den wieder hell gewordenen Augen an. Dann ging der Alte fort, um sich zu Bett zu legen. Goldmund lag noch eine Weile wach, langsam traten die Bilder wieder aus seinem Innern hervor, flammten die Worte seines Freundes wieder auf, und nochmals erschien in seiner Seele die blonde strahlende Frau, die Mutter; wie Föhnwind ging ihr Bild durch ihn hin, wie eine Wolke von Leben, von Wärme, von Zärtlichkeit und inniger Mahnung. O Mutter? O wie war es möglich gewesen, daß er sie hatte vergessen können!