Der Wiedersacher
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Auf der Suche nach einer Tankstelle sto?en Brenner und Astrid auf ein seltsames, uraltes Kloster, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Doch allzuschnell holt sie die Gegenwart ein. ?ber ihren H?uptern bricht ein flammendes Inferno aus, als ein arabischer Terrorist und die US-Luftwaffe sich ein letztes Gefecht liefern. Danach geschehen Zeichen und Wunder: Menschen, die Brenner vergl?hen sah, sind noch am Leben, und ein unheimlicher Priester enth?llt ihm die unglaubliche Kunde, da? das Ende der Welt angebrochen sei und der Widersacher nun auf Erden wandle.
"Mit diesem neuen Roman wird Bestseller-Autor Wolfgang Hohlbein seine Fan-Gemeinde sicher noch vergr??ern k?nnen. Die irrwitzige Mischung aus Spannung, Fantasy und Horror l??t den Leser eintauchen in eine atemberaubene Lekt?re, von der man nicht so schnell los kommt." Berliner Morgenpost
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Am Ende des letzten Zimmers angekommen, trat er ans Fenster und sah auf den Hof hinaus. Der Sturm war so spurlos verschwunden, als hätte es ihn niemals gegeben, und die Temperaturen schienen ebenso schlagartig wieder gestiegen zu sein, wie sie vorhin ins Bodenlose gefallen waren. Der Asphalt glänzte feucht, aber er sah nirgendwo Schnee. Fünf Meter unter ihm lag eine reglose Gestalt in geflecktenTarnhosen und mit nacktem Oberkörper; ansonsten war der Hof leer.
Weichsler wandte sich vom Fenster ab und ging, noch immer von dem gleichen leeren Gefühl erfüllt, zurTür zurück – im Grunde, ohne zu wissen, warum. Ein sonderbares Gefühl von Endgültigkeit hatte ihn erfaßt. Er hatte keine Angst mehr, und selbst das Entsetzen war einem dumpfen Druck gewichen, der nach den Erlebnissen der vergangenen Stunden fast wie eine Erleichterung war; aber er konnte sich einfach nicht vorstellen,daß er als einziger Überlebender einfach hier weggehen konnte, und noch viel weniger, daß er sein Leben so weiterführen würde, als wäre nichts geschehen.
Als er den Klassenraum verlassen wollte, fiel sein Blick in das Gesicht einer toten Frau, die quer vor der Tür lag. Vorhin war er einfach über sie hinweggestiegen, fast ohne sie zur Kenntnis zu nehmen, nur eine weitere Leiche unter vielen. Jetzt sah er ihr Gesicht, und er erkannte es wieder.
Eigentlich hätte er es nicht erkennen dürfen, denn es hatte sich radikal verändert. Als er es das letzte Mal gesehen hatte, war ihr Gesicht entstellt gewesen, grau und schaumgummiartig, beherrscht von zwei blauvioletten toten Augen, die ihn voller verzweifeltem Flehen anblickten. Wenn das Schicksal tatsächlich mehr war als ein abstrakter Begriff, sondern eine lenkende Macht, dann mußte es über einen wahrlich rabenschwarzen Humor verfügen. Es war das Mädchen, das unter seinen Händen aufgewacht war. Aber nun war ihr Antlitz unversehrt.
Weichsler stand minutenlang einfach da und starrte auf das Mädchen hinab, und er brauchte all diese Zeit, um einen einzigen Gedanken zu denken. Er war nicht klar formuliert, denn dazu war er zu schrecklich, und er lief auf eine Erkenntnis hinaus, die noch entsetzlicher war; so schlimm, daß er dieses Begreifen nur ganz langsam in sein Bewußtsein tröpfeln lassen konnte. DieToten waren nicht einfach aufgestanden. Sie waren geheilt. Was aus derTurnhalle herausgekommen war, das waren nicht George Romeros Zombies gewesen, sondern Brüder und Schwestern des Lazarus. Das Wunder, das das Leben zu ihnen zurückgebracht hatte, hatte auch die Spuren des Giftes getilgt.
Weichsler ließ sich neben dem toten Mädchen zu Boden sinken und streckte die Hand nach ihrem Gesicht aus, aber er wagte es nicht, sie zu berühren. Vorhin war ihr Gesicht nichts als eine Zombie-Fratze gewesen. Jetzt war es wunderschön, erfüllt von einem Zauber, den die geringste Berührung zerstören würde. Statt dessen ließ er seine Fingerspitzen einen Zentimeter über ihrer Haut entlangwandern und zeichnete so die Konturen ihres Gesichtes nach, dann auch die ihres Körpers. Über den beiden großen Blutflecken in ihrem Leib stockte er. Der zweite Tod war endgültiger gewesen als der erste, aber vielleicht auch gnädiger; auf jeden Fall aber schneller. Er hatte sich geirrt, als er vorhin geglaubt hatte, nur seine eigenen Kameraden wären Opfer der modernen Vernichtungsmaschinen geworden. Er hatte sich auch geirrt, was die Zerstörungskraft der Waffen anging, an denen er und seine Kameraden jahrelang ausgebildet worden waren. Daß sie Leben auslöschen konnten, hatte er gewußt.
Daß sie sich am Ende selbst mächtiger als die Kraft eines Wunders erweisen konnten, nicht. Der Gedanke erschreckte ihn nicht einmal, aber er überraschte ihn.
Er stand auf und untersuchte noch zwei oder drei weitere Tote, aber es blieb dabei: Die einzigen Verletzungen, die sie hatten, waren die tödlichen Schußwunden großkalibriger automatischer Waffen.
Weichsler ging in den Klassenraum zurück, trat ans Fenster und sah die Gestalt auf der anderen Seite des Schulhofes. Sie stand reglos da und sah zu ihm hinauf, und obwohl sie viel zu weit entfernt war, um ein Gesicht zu haben, spürte Weichsler den Blick ihrer dunklen Augen wie die Berührung einer warmen, sehr starken Hand. Das Gefühl war ungleich intensiver als zuvor in der Halle, obwohl er den Augen da viel näher gewesen war, aber es war keine Drohung darin, kein Zorn, nicht einmal ein Vorwurf. Aber vielleicht so etwas wie ein Urteil, das noch nicht gefällt, geschweige denn ausgesprochen war. Nur der Weg dorthin war bereits vorgezeichnet.
Zum drittenmal in dieser Nacht hatte Weichsler jenes seltsame Gefühl von Endgültigkeit, aber nun wußte er, was es bedeutete. Er trat vom Fenster zurück und sah noch einmal zu dem toten Mädchen an derTür. Dann zog er seine Pistole und schoß sich eine Kugel in den Kopf.
Das Heulen der Polizeisirene war lauter geworden, kaum daß sie die Klinik verlassen hatten, und sie waren noch keine zehn Meter weit gekommen, da gesellte sich ein zweiter, gleichartiger Ton hinzu, der aus der entgegengesetzten Richtung kam. Brenner erwartete spätestens jetzt, daß Salid anfangen würde zu laufen, aber der Palästinenser tat nichts dergleichen, sondern machte im Gegenteil eine knappe, aber äußerst bestimmte Geste, als Johannes zusammenfuhr und sich erschrocken umsehen wollte.
»Ganz ruhig«, sagte er. »Gehen Sie ganz ruhig weiter. Keine Panik. «
Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen – Brenner konnte ihn mittlerweile tatsächlich sehen, obwohl es hier draußen weitaus dunkler war als in der hellerleuchteten Eingangshalle der Klinik – , war er längst in Panik, aber er gehorchte trotzdem. Wahrscheinlich hatte er einfach nur Angst vor Salid – obwohl Brenner sich dies im Grunde gar nicht vorstellen konnte. Im nächsten Moment schon fragte er sich, wieso eigentlich. Daß Johannes Geistlicher war, bedeutete schließlich noch lange nicht, daß er nicht das Recht hatte, um sein Leben zu fürchten. Brenner selbst widerstand der Versuchung zwar, sich immer wieder nervös umzusehen, aber das lag wohl mehr daran, daß er sowieso nicht viel gesehen hätte.
Sie gingen in raschem Tempo weiter, allerdings nicht so schnell, daß sie Aufsehen erregt hätten, hätte sie jemand beobachtet, obwohl das Heulen der aus entgegengesetzten Richtungen näherkommenden Sirenen immer rascher anzuschwellen schien. Brenner begann sich zu fragen, ob Salid tatsächlich so gute Nerven hatte, wie es schien – oder vielleicht einfach nur lebensmüde war. Irgend etwas im Klang der Sirene hinter ihnen änderte sich. Sie wurde nicht wirklich lauter, aber sie klang jetzt irgendwie präsenter. Der Wagen war in die Straße eingebogen und näherte sich ihnen nun in direkter Linie. Spätestens jetzt, dachte Brenner, wäre eigentlich der Zeitpunkt gekommen, zu rennen.
Statt dessen blieb Salid stehen, warf einen raschen Blick nach rechts und links und deutete dann auf die Ecke des Klinikgebäudes, von der sie noch fünf oder sechs Meter entfernt waren. Die Klinik grenzte nicht unmittelbar an ein weiteres Gebäude, sondern an einen kleinen Park, der von einer gut zwei Meter hohen, weißgestrichenen Mauer umgeben war.
»Können Sie klettern?«
Die Frage galt Brenner, der sie mit einem energischen Kopfschütteln beantwortete. Die anstrengendste Sportart, zu der er sich in den letzten fünf oder sechs Jahren durchgerungen hatte, war Computerschach. Unter normalen Umständen hätte er sich vielleicht trotzdem zugetraut, das Hindernis zu überwinden, aber das hier war schließlich nicht normal: Er war noch immer halb blind und – da machte er sich nichts vor – am Ende seiner Kräfte. Im Augenblick war er schon heilfroh, wenn er ohne fremde Hilfe eineTürschwelle überwinden konnte.
»Dann wird es Zeit, daß Sie es lernen«, antwortete Salid. »Aber – «
Salid nahm seinen Protest nicht einmal zur Kenntnis, sondern versetzte ihm einen Stoß, der ihn gegen seinen Willen auf die Mauer zustolpern ließ, so daß er ganz instinktiv die Arme ausstreckte, um irgendwo Halt zu finden. Seine rechte Hand protestierte mit wütend pochenden Schmerzen, als sie unsanft über den weißgestrichenen Zement schrammte, aber Salid war bereits neben ihm, umschlang mit erstaunlicher Kraft seine Hüften und hob ihn einfach in die Höhe. Brenner griff ganz instinktiv nach der Oberkante der Mauer, und Salid machte das Kunststück komplett, indem er ihm einen weiteren Stoß versetzte, der ihn regelrecht über das Hindernis hinwegkatapultierte. Vermutlich war alles, was ihn vor einer ernsthaften Verletzung rettete, der weiche Grasboden auf der anderen Seite. Nur einen Augenblick später folgte ihm Johannes – auf weit elegantere Weise, aber offensichtlich auch nicht ganz aus freien Stücken – , und praktisch im gleichen Moment landete Salid mit einem federnden Satz zwischen ihnen. Wortlos beugte er sich zu Brenner herab und zog ihn auf die Füße.
