Der Wiedersacher
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Auf der Suche nach einer Tankstelle sto?en Brenner und Astrid auf ein seltsames, uraltes Kloster, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Doch allzuschnell holt sie die Gegenwart ein. ?ber ihren H?uptern bricht ein flammendes Inferno aus, als ein arabischer Terrorist und die US-Luftwaffe sich ein letztes Gefecht liefern. Danach geschehen Zeichen und Wunder: Menschen, die Brenner vergl?hen sah, sind noch am Leben, und ein unheimlicher Priester enth?llt ihm die unglaubliche Kunde, da? das Ende der Welt angebrochen sei und der Widersacher nun auf Erden wandle.
"Mit diesem neuen Roman wird Bestseller-Autor Wolfgang Hohlbein seine Fan-Gemeinde sicher noch vergr??ern k?nnen. Die irrwitzige Mischung aus Spannung, Fantasy und Horror l??t den Leser eintauchen in eine atemberaubene Lekt?re, von der man nicht so schnell los kommt." Berliner Morgenpost
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Was er sah, konnte nicht sein. Es durfte nicht sein. Er würde sich selbst beweisen, daß nichts von dem, was er zu sehen glaubte, Wirklichkeit war. Er mußte. Er würde den Verstand verlieren, wenn er es nicht tat.
Steif wie ein Roboter und Zentimeter um Zentimeter bewegte sich Weichsler vor und in die Hocke und streckte die Arme nach dem Plastiksack aus. Die Bewegung kostete ihn unendliche Mühe, denn all seine Muskeln waren zum Zerreißen gespannt. Mühsam drehte er den Sack herum und tastete nach dem Reißverschluß. Er ließ sich nicht öffnen. Die billige Mechanik war verklemmt, vielleicht waren seine Finger auch nur zu ungelenk. Aber er mußte die Tote sehen. Er mußte sich mit eigenen Augen davon überzeugen, daß sie tot war!
Weichsler hörte auf, sich mit dem Reißverschluß abzumühen. Statt dessen tastete er nach einem der Risse, die der Sack beim Zusammenbruch der Liege davongetragen hatte. Er grub die Hände hinein und zerrte mit aller Kraft, doch so dünn das schwarze Kunststoffmaterial auch war, so zäh war es. Weichsler zog und zerrte mit aller Gewalt, aber es gelang ihm kaum, den Riß über der Hüfte zu verlängern. Der Kunststoff dehnte sich einfach unter seinen Fingern und veränderte seine Farbe in Streifen von Schwarz zu schmutzigem Grau; aber er riß nicht.
Weichsler wurde immer verzweifelter. Mit einem heftigen Ruck drehte er die Tote auf den Rücken, versuchte sein Glück noch einmal mit dem Reißverschluß und kam endlich auf die Idee, sein Messer zu ziehen. Er war so ungeschickt, daß er sich selbst einen Schnitt in den Daumen zuzog; es blutete, aber das spürte er gar nicht. Endlich hatte er die Klinge vollends heraus, geklappt.
Als er sie durch den schwarzen Kunststoff stoßen wollte, fiel sein Blick auf das Gesicht derToten. Er konnte es sehen. Nicht ungefähr. Nicht in groben Umrissen. In allen Details. Die schwarze Folie hatte sich wie eine zweite Haut über ihr Gesicht gelegt und zeichnete jedes noch so winzige Detail nach, jedes Fältchen, jede Unebenheit der Haut, jede Wimper. Er konnte die feinen, leicht geschwungenen Augenbrauen erkennen; die hochgezogenen Wangenknochen, die dem gesamten Gesicht etwas leicht Asiatisches zu verleihen schienen; die gerade Nase; selbst die grobere Hautstruktur der Lippen. Sie waren leicht geöffnet. Die schwarze Folie dazwischen bewegte sich vor und zurück. DieTote atmete.
Weichsler hatte jetzt zwei Möglichkeiten: er konnte verrückt werden – falls er es nicht schon war – , oder sein Verstand konnte eine Erklärung für das finden, was er sah, ganz gleich, wie unwahrscheinlich sie auch klingen mochte. Die Tote atmete. Aber Tote atmen nicht. Deshalb war sie nicht tot. So einfach war das.
In die Mischung aus Panik und brodelndem Wahnsinn, die Weichslers rationales Denken verschlungen hatte, mischte sich eine neue, aber gänzlich andere Furcht, als er die einzig logische Erklärung für das begriff, was sich da vor seinen Augen abspielte: Die Männer, die draußen ihren Job taten, hatten einen Fehler gemacht. Die junge Frau war nicht tot.
»O mein Gott!« flüsterte Weichsler.
Die dünne Kunststoffmembran zwischen den Lippen bewegte sich weiter, dann schlug das Material ein Stück höher Falten; die vermeintliche Tote versuchte die Augen zu öffnen, schaffte es aber nicht.
»Warten Sie! « sagte Weichsler. »Strengen Sie sich nicht an! Ich … ich helfe Ihnen! « Diese Idioten! Diese verdammten Idioten hatten eine Lebende gefunden! Sie hatten eine Überlebende der Katastrophe gefunden – vielleicht die einzige Uberlebende! – und einfach zwischen all die Toten gelegt. Diese gottverdammten Idioten hatten sie wie ein Stück Abfall in eine Mülltüte gestopft und auf den Wagen geworfen, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, ihren Puls zu fühlen!
»Nur eine Sekunde noch! « stammelte er. »Ich helfe Ihnen! Warten Sie!« Diese verdammten Idioten! Diese verfluchten, hirnrissigen Idioten! Mit seiner blutverschmierten Hand hob er das Messer auf und führte einen geraden, erstaunlich sicheren Schnitt, der die Folie von der Hüfte bis über die Schulter der jungen Frau aufklaffen ließ. »Warten Sie! Wir haben es gleich! Noch eine Sekunde, und Sie können wieder atmen. Ich hole Sie raus! «
Das Mädchen arbeitete jetzt nach Kräften mit. Eine wachsbleiche, mit Blut und Schmutz verkrustete Hand erschien in dem Riß und verbreiterte ihn, dann eine zweite. Weichsler fiel auf, daß die meisten Fingernägel gesplittert und bis weit in das empfindliche Fleisch darunter abgebrochen waren. Und noch etwas fiel ihm auf: Dem Leichensack entströmte ein klebrigsüßer Geruch. Der gleiche Geruch, der permanent seit drei Tagen die gesamte Turnhalle ausfüllte, nur ungleich intensiver. Für das Mädchen war ein Alptraum wahr geworden; vielleicht der schlimmste aller vorstellbarenTräume. Sie war lebendig begraben worden und in der Welt derToten wieder erwacht.
»Mein Gott!« stammelte Weichsler, immer und immer wieder. »Mein Gott, mein Gott! « Seine Hände zerrten und rissen an der Folie, halfen dem Mädchen, den Riß weiter zu vergrößern. Seine Finger streiften die des Mädchens, und sein Schrecken wuchs weiter, als er spürte, daß sich selbst ihre Haut wie die einer Toten anfühlte, kalt und glitschig und zu weich; nicht wie lebendes Fleisch, sondern wie Schaumgummi. Diese Frau hatte mehr erlebt als die Hölle. Weichsler riß mit aller Gewalt an der Folie, die ihren Kopf bedeckte, so daß sie sich mit einem saugenden Geräusch von ihrem Gesicht löste. Für den Bruchteil einer Sekunde blieb dessen Abdruck noch darin, es sah aus, als hätte er tatsächlich das Gesicht des Mädchens abgerissen.
Was darunter zum Vorschein kam, war auch nicht wirklich das Gesicht einer Lebenden.
Weichsler schrie. Diesmal war er nicht paralysiert, und diesmal war es kein halbersticktes Keuchen, das über seine Lippen kam, sondern ein gellender, spitzer Schrei, der als dünner Schmerz in seinem Kopf widerhallte. Das Gesicht des Mädchens war schlaff und grau, verschmiert mit eingetrocknetem Blut und Schleim.
Weichsler erinnerte sich schlagartig wieder daran, was er über die Wirkung des Kampfstoffes gehört hatte: Er tötete schnell und ausnahmslos, aber er beschränkte sich nicht darauf, das Nervensystem zu zerstören und den Kreislauf zusammenbrechen zu lassen. Seine tödliche Wirkung bestand darin, den betroffenen Organismus dazu anzuregen, ein gewisses Enzym zu produzieren, das der Natur zwar nicht unbekannt war, im Körper eines Säugetieres aber nichts zu suchen hatte, und es ähnelte vage dem Stoff, den Spinnen ihrer Beute injizieren, um das Fleisch zu verflüssigen. Die Wirkung
dieses Enzyms war nicht ganz so drastisch, aber ebenso tödlich: Das Fleisch des Be. troffenen verlor seinen inneren Halt. Es verflüssigte sich nicht, aber es wurde mürbe. Das war, was Weichsler über den Kampfstoff gehört hatte.
Jetzt sah er seine Wirkung.
Ein gut fünfmarkstückgroßes Stück aus der linken Wange des Mädchens war an der Innenseite der Folie klebengeblieben und einfach abgerissen; darunter kam weißer Knochen und ein Teil der Muskelmechanik zum Vorschein, die das Gesicht bewegt hatte, als es noch lebte. Der Mund der Toten stand immer noch offen, und das Fleisch darin hatte nicht mehr die Kraft, die Zähne zu halten; sie ragten krumm und schief hervor. Das Allerschrecklichste aber waren die Augen. Weichsler hätte es vielleicht noch ertragen, sie als ausgelaufene Höhlen zu erblicken, denen alles Menschliche fehlte; aber es waren Augen, groß und fast unversehrt, die ihn anstarrten. Was nicht stimmte, war die Farbe. Sie schienen nur noch aus Pupillen zu bestehen und hatten einen milchig-blauvioletten Ton, die Augen einerToten. Und trotzdem war Leben darin, oder wenigstens etwas wie Leben; etwas, das vor drei Tagen daraus gewichen und nun wieder hineingezwungen worden war, gegen seinen Willen, gegen alle Gesetze der Natur – und Gottes? und gegen alles, was recht war.
Weichsler erwachte endgültig aus seiner Lähmung, kippte mit wild rudernden Armen nach hinten und versuchte rücklings von dem Etwas davonzukriechen, das sich da vor ihm aus seinem schwarzen Kokon schälte. Er stieß dabei gegen eine weitere Liege und riß sie um, aber das registrierte er gar nicht. Wimmernd vor Angst kroch er weiter, stieß gegen eine weitere Liege und noch eine, bis die Wand ihn schließlich stoppte.