Justiz
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Justiz ist ein (Kriminal-) Roman. Er behandelt den ?ffentlichen Mord eines schweizer Kantonsrates an einem Professoren; erz?hlt aus der Ich-Perspektive des jungen Anwaltes Sp?t, der den Auftrag des verurteilten Kantonsrates annimmt, den Mord unter der Annahme, dieser sei nicht der M?rder, erneut zu untersuchen.
„Der junge Anwalt (…) erkennt zu sp?t, in welche Falle ihn die Justiz geraten l??t, weil er sie mit der Gerechtigkeit verwechselt. “ (Friedrich D?rrenmatt)
D?rrenmatt begann nach eigenen Worten mit der Arbeit an Justiz im Jahr 1957, der Roman sollte nach einigen Monaten abgeschlossen sein. Da jedoch Arbeit an anderen Werken dazwischen kam, blieb Justiz liegen, bis D?rrenmatt schlie?lich die Arbeit daran ganz einstellte. Im Jahr 1980 wollte er den Roman als 30. Band seiner Werkausgabe abschlie?en, scheiterte jedoch daran, dass er die urspr?nglich geplante Handlung nicht mehr rekonstruieren konnte. 1985 schlie?lich setzte er sich erneut daran, entwickelte auf dem vorhandenen Fragment eine neue Handlung; und so erschien der Roman, „wenn auch wohl in einem anderen Sinn als urspr?nglich geplant. “
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Nachschrift: Es ist festzustellen, rein technisch, daß der Versuch, meine erste Begegnung mit Hélène zu erzählen, mißglückt ist. Ich erzählte meine letzte Begegnung. Daher sind in Zukunft Vorsichtsmaßregeln zu ergreifen. Das Schreiben in alkoholischer Trunkenheit verlangt einen vorsichtigen Stil. Kurze Sätze. Nebensätze können gefährlich werden. Syntax stiftet Verwirrung. Dann ist ein Nachspiel festzuhalten (erhielt eben von Kohler wieder eine Ansichtskarte, diesmal aus Rio de Janeiro, herzliche Grüße, er fliege von dort nach San Francisco, dann nach Hawaii, dann nach Samoa, ich habe also Zeit). Der Kommandant der Kantonspolizei besuchte mich nämlich. Der Besuch war wichtig. Darüber bin ich mir im klaren. Er ist wohl auch der Grund meiner nun gänzlichen Nüchternheit. Beweisen läßt sich noch nichts, doch vermute ich, daß der Kommandant ahnt, was ich vorhabe. Das wäre fatal. Dagegen spricht, daß er mir den Revolver ließ. Er kam völlig unerwartet, gegen zehn, zwei Tage nach der unglücklichen Szene im Café. Auf den Straßen Schneematsch. Er stand plötzlich in der Mansarde. Von unten her jubilierte die Sekte:»Mach dich bereit, du guter Christ, erscheint der jüngste Tag, sorg daß die Seel gerettet ist, er kommt mit Donnerschlag. «Der Kommandant war etwas verlegen. Er schaute geniert zu meinem Schreibtisch hinüber, auf dem meine vollgekritzelten Papiere lagen.
«Sie werden hoffentlich nicht auch noch Schriftsteller«, brummte er.
«Warum nicht, Herr Kommandant. Wenn man was zu erzählen hat«, antwortete ich.
«Klingt wie eine Drohung.»
«Nehmen Sie das, wie Sie wollen.»
Er schaute sich um, eine Flasche unter dem Arm. Auf der Couch lag leider irgendein Mädchen, das ich nicht kannte, es war einfach mitgelaufen, vielleicht ein Geschenk von Lucky, hatte sich offenbar ausgezogen und hingelegt, in falsch verstandenem Berufsethos (das Arbeitsklima unseres Landes macht sich überall bemerkbar). Es war mir völlig egal, ich hatte mich hinter die Arbeit gemacht; meine Papiere hervorgenommen.
«Zieh dich an«, befahl er.»Du wirst dich sonst erkälten, und dann habe ich mit dem Rechtsanwalt zu reden.»
Er stellte die Flasche auf den Tisch.
«Cognac«, sagte er.»Adet. Eine seltene Marke. Von einem Freund in der Westschweiz. Wollen ihn doch mal probieren. Holen Sie zwei Gläser, Spät. Sie trinkt heute nicht mehr.»
«Jawohl, Herr Kommandant«, sagte das Mädchen.
«Du gehst nach Haus. Arbeitsschluß.»
«Jawohl, Herr Kommandant.»
Sie war beinahe angezogen. Er schaute sie an, ruhig.
«Gute Nacht.»
«Gute Nacht, Herr Kommandant.»
Das Mädchen ging. Wir hörten es die Treppe hinunter eilen.
«Sie kennen die?«fragte ich.
«Ich kenne sie«, antwortete der Kommandant.
Im unteren Stockwerk sang die Sekte immer noch ihren Weltuntergangschoral:»Es platzt die Sonn' mit großer Wucht, der Erdengrund vergeht. Wer dann die Seel' zu retten sucht, vor Jesu Christ besteht.»
Der Kommandant schenkte ein.»Auf Ihr Wohl.»
«Auf Ihr Wohl.»
«Besitzen Sie einen Revolver?«fragte er.
Es hatte keinen Sinn zu leugnen. Ich nahm ihn aus der Schreibtischschublade. Er untersuchte ihn, gab ihn mir wieder zurück:»Sie halten Kohler immer noch für schuldig?»
«Sie etwa nicht?»
«Vielleicht«, antwortete er und setzte sich auf die Couch.
«Warum geben Sie das Spiel dann auf?«fragte ich ihn.
Er sah mich an.
«Sie wollen es noch gewinnen?»
«Auf meine Weise.»
Er schaute auf den Revolver. Ich versorgte ihn.
«Ihre Sache«, sagte er, schenkte von neuem ein.»Nun, wie gefällt Ihnen der Adet?»
«Großartig.»
«Ich lasse Ihnen die Flasche hier.»
«Lieb von Ihnen.»
Von unten war nun eine Predigt zu hören oder ein Gebet.»Sehen Sie, Spät«, sagte der Kommandant,»Sie sind in eine etwas unglückliche Situation geraten. Ich will nun nichts gegen den ehrenwerten Herrn Lucky sagen, noch weniger gegen das arme Ding vorhin, daß es so was gibt, ist ja der Hauptsache nach nicht der Fehler der beiden, aber wie weit Sie als Hurenanwalt kommen, steht wohl auf einem anderen Blatt. Daß demnächst die Aufsichtskommission gegen Sie vorgehen muß, dürfte Ihnen wohl klar sein. Sie hat nichts gegen einen Milieuanwalt, der verdient, aber alles gegen einen, der nichts verdient. Da rebelliert die Standesehre.»
«Na und?»
«Sie haben mich vorhin gefragt, weshalb ich das Spiel aufgegeben habe, Spät«, fuhr der Kommandant fort, sich eine seiner dicken Bahianos anzündend, sorgfältig, ohne im geringsten zu zittern.»Ich will Ihnen gegenüber zugeben, daß ich den alten Kohler auch für schuldig halte und alles, was geschehen ist, für eine Komödie, die ich gerne verhütet hätte. Aber ich besitze keine Beweise. Sind Sie in dieser Sache weitergekommen?»
«Nein«, sagte ich.
«Wirklich nicht?«fragte er erneut.
Ich verneinte zum zweiten Mal.
«Sie mißtrauen mir?«fragte er.
«Ich mißtraue jedem.»
«Schön«, sagte er.»Wie Sie wollen. Die Sache mit Kohler ist für mich erledigt, sie endigte mit meiner Niederlage. Viele Angelegenheiten haben für mich so geendigt. Bedauerlich, aber man muß Niederlagen einstecken können in meinem Beruf. Und ich denke, auch in Ihrem. Sie sollten sich aufrappeln, Spät, neu beginnen.»
«Das ist nicht mehr möglich«, antwortete ich.
Drunten jubilierten sie wieder:»Klappt einst der Höllenrachen zu, qualmt noch der Hölle Flamm', dann ist's zu spät, o Menschlein du, es kracht die Welt zusamm'.»
Ich hatte auf einmal einen Verdacht:»Verschweigen Sie mir etwas, Kommandant?»
Er rauchte, sah mich an, rauchte, erhob sich.
«Schade«, antwortete er und reichte mir die Hand.»Leben Sie wohl. Vielleicht muß ich Sie mal beruflich vorladen.»
«Leben Sie wohl, Herr Kommandant«, sagte ich.
Beginn einer Liebe: Ich stocke aufs neue. Ich weiß, daß es keine Ausflüchte mehr geben kann. Ich habe auf meine erste Begegnung mit Hélène zu sprechen zu kommen. Ich habe zu gestehen, daß ich Hélène liebte. Ich habe auch hinzuzufügen: von Anfang an. Folglich seit unserer ersten Begegnung. Das Geständnis fällt schwer, und ich bin erst jetzt dazu imstande. Doch ist diese Liebe unmöglich geworden. Ich muß deshalb von einer Liebe berichten, die ich mir nicht zugegeben habe, als ich sie vielleicht hätte verwirklichen können, und die nicht mehr zu verwirklichen ist. Das ist nicht leicht. Nun weiß ich natürlich, daß Hélène nicht das war, was ich in ihr sah. Erst jetzt sehe ich, wie sie ist. Sie ist mitschuldig. Natürlich verstehe ich sie. Es ist menschlich, daß sie den unmenschlichen Vater deckt. Es ist undenkbar, von ihr zu verlangen, den Vater zu verraten. Nur ihr Geständnis könnte den Kantonsrat vernichten. Dieses Geständnis wird sie nie ablegen. Ich bin schließlich Jurist genug, eine solche Forderung nicht zu stellen. Ich habe meinen Weg zu gehen, sie gehe den ihren. Aber ich kann das Bild nicht verleugnen, das ich mir einmal von ihr gemacht habe. Daß sie diesem Bild nicht entspricht, nie entsprochen hat, ist nicht ihr Fehler. Ich bedaure meine heftigen Worte. Ich weiß, es ist kindisch, wie ich mich aufgeführt habe. Auch mein Herumhuren und Saufen. Sie hat das Recht, so zu sein, wie sie ist, ich habe mir das Recht genommen, einmal ihren Vater zu ermorden. Hätte ich ihren Vater damals im Flughafen noch erreicht, wäre er tot und ich auch. Die Sache wäre in Ordnung, die Welt schon längst zur Tagesordnung übergegangen. Mein Leben hat nur noch einen Sinn: mit Kohler abzurechnen. Die Abrechnung ist einfach. Ein Schuß genügt. Aber nun muß ich warten. Dies habe ich nicht einkalkuliert. Auch nicht die Nerven, die es kostet. Die Gerechtigkeit zu vollziehen ist etwas anderes, als in Erwartung dieses Vollzugs leben zu müssen. Ich komme mir wie ein Rasender vor. Daß ich so viel trinke, ist nur ein Ausdruck meiner absurden Lage: ich bin von der Gerechtigkeit wie betrunken. Das Gefühl, im Recht zu sein, vernichtet mich. Es gibt nichts Entsetzlicheres als dieses Gefühl. Ich richte mich hin, weil ich den alten Kohler nicht hinrichten kann. In dieser Raserei sehe ich mich und Hélène, blicke ich auf unsere erste Begegnung zurück. Ich weiß, daß ich alles verloren habe. Das Glück ist durch nichts zu ersetzen. Auch wenn sich das Glück als Wahnsinn herausstellt und mein heutiger Wahnsinn in Wirklichkeit Nüchternheit ist. Unbarmherzige Erkenntnis des Wirklichen. So denke ich mit Traurigkeit zurück. Ich wünsche zu vergessen und bin dazu nicht fähig. Alles haftet so deutlich in meiner Erinnerung, als wäre es eben geschehen. Ich höre noch den Ton ihrer Stimme, sehe noch ihre Blicke, ihre Bewegungen, ihr Kleid. Und auch mich sehe ich. Wir waren beide jung. Unverbraucht. Nicht einmal anderthalb Jahre sind es her. Jetzt bin ich alt, uralt. Wir brachten uns Vertrauen entgegen. Dabei wäre es natürlich gewesen, wenn sie mir mißtraut hätte. Sie mußte in mir nichts anderes als einen Rechtsanwalt sehen, der Geld wollte. Aber sie vertraute mir von Anfang an. Dies spürte ich damals, und ich vertraute ihr ebenfalls. Ich war bereit, ihr zu helfen. Es war schön. Auch wenn wir uns nur gegenübersaßen, auch wenn wir nur sachlich miteinander sprachen. Natürlich weiß ich, daß es nicht so war, daß alles Schein, Traum, Illusion, weniger noch, eine faule Intrige war, die Hélène mit mir und gerade mit mir spielte, aber damals, damals, als ich es noch nicht wußte, nicht einmal ahnte, war ich glücklich.
«Nehmen Sie Platz, Herr Spät«, sagte sie. Ich dankte. Sie hatte sich in einen der tiefen Ledersessel niedergelassen. Ich setzte mich ihr gegenüber. Auch in einen tiefen Ledersessel. Es war alles etwas merkwürdig, das Mädchen, etwa zweiundzwanzig, braun, lächelnd, gelöst und doch wieder zaghaft, die vielen Bücher, der schwere Schreibtisch, der Billardtisch im Hintergrund mit den Kugeln, die einfallenden Sonnenstrahlen, der Park hinter der halboffenen Glastüre, durch die Hélène gekommen war. Mit einem älteren Herrn namens Förder. Er war tadellos gekleidet gewesen, war als Kohlers Privatsekretär vorgestellt worden, hatte mich stumm und beinahe drohend gemustert. Dann war er wieder gegangen, ohne Gruß, ohne überhaupt ein Wort gesagt zu haben. Nun waren wir allein, Hélène war verlegen. Ich auch. Die Vision ihres Vaters lahmte mich, machte mich unfähig zu sprechen. Ich hatte Mitleid mit ihr. Ich begriff, daß sie ihren Vater nie verstehen würde, daß sie unter der Unbegreiflichkeit seiner Handlungsweise litt.
«Herr Spät«, sagte sie,»mein Vater hat mir immer viel von Ihnen erzählt.»
Das überraschte mich. Ich schaute sie verwundert an:»Immer?»
«Seit er Sie im >Du Théâtre< getroffen hat.»