Ansichten eines Clowns
Ansichten eines Clowns читать книгу онлайн
Внимание! Книга может содержать контент только для совершеннолетних. Для несовершеннолетних чтение данного контента СТРОГО ЗАПРЕЩЕНО! Если в книге присутствует наличие пропаганды ЛГБТ и другого, запрещенного контента - просьба написать на почту [email protected] для удаления материала
Marie zog das dunkelgrüne Kleid an, und obwohl sie Schwierigkeiten mit dem Reißverschluß hatte, stand ich nicht auf, ihr zu helfen: es war so schön anzusehen, wie sie sich mit den Händen auf den Rücken griff, ihre weiße Haut, das dunkle Haar und das dunkelgrüne Kleid; ich war auch froh zu sehen, daß sie nicht nervös dabei wurde; sie kam schließlich ans Bett, und ich richtete mich auf und zog den Reißverschluß zu. Ich fragte sie, warum sie denn so schrecklich früh aufstehe, und sie sagte, ihr Vater schliefe erst gegen Morgen richtig ein und würde bis neun im Bett bleiben, und sie müsse die Zeitungen unten reinnehmen und den Laden aufmachen, denn manchmal kämen die Schulkinder schon vor der Messe, um Hefte zu kaufen, Bleistifte, Bonbons, und »Außerdem«, sagte sie, »ist es besser, wenn du um halb acht aus dem Haus bist. Ich mache jetzt Kaffee, und in fünf Minuten kommst du leise in die Küche runter.« Ich kam mir fast verheiratet vor, als ich in die Küche runterkam, Marie mir Kaffee einschenkte und mir ein Brötchen zurechtmachte. Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Nicht gewaschen, nicht gekämmt, kommst du immer so zum Frühstück?« und ich sagte ja, nicht einmal im Internat hätten sie es fertiggebracht, mich zum regelmäßigen Waschen am frühen Morgen zu erziehen.
»Aber was machst du denn?« fragte sie, »irgendwie mußt du dich doch frisch machen?«
»Ich reibe mich immer mit Kölnisch Wasser ab«, sagte ich.
»Das ist ziemlich teuer«, sagte sie und wurde sofort rot.
»Ja«, sagte ich, »aber ich bekomme es immer geschenkt, eine große Flasche, von einem Onkel, der Generalvertreter für das Zeug ist.« Ich sah mich vor Verlegenheit in der Küche um, die ich so gut kannte: sie war klein und dunkel, nur eine Art Hinterzimmer zum Laden; in der Ecke der kleine Herd, in dem Marie die Briketts bei Glut gehalten hatte, auf die Weise wie alle Hausfrauen es tun: sie wickelt sie abends in nasses Zeitungspapier, stochert morgens die Glut hoch und entfacht mit Holz und frischen Briketts das Feuer. Ich hasse diesen Geruch von Brikettasche, der morgens in den Straßen hängt und an diesem Morgen in der muffigen kleinen Küche hing. Es war so eng, daß Marie jedesmal, wenn sie den Kaffeetopf vom Herd nahm, aufstehen und den Stuhl wegschieben mußte, und wahrscheinlich hatten ihre Großmutter und ihre Mutter es genau so machen müssen. An diesem Morgen kam mir die Küche, die ich so gut kannte, zum ersten Mal alltäglich vor. Vielleicht erlebte ich zum ersten Mal, was Alltag ist: Dinge tun müssen, bei denen nicht mehr die Lust dazu entscheidet. Ich hatte keine Lust, dieses enge Haus je wieder zu verlassen und draußen irgendwelche Pflichten auf mich zu nehmen; die Pflicht, für das, was ich mit Marie getan hatte, einzustehen, bei den Mädchen, bei Leo, sogar meine Eltern würden es irgendwo erfahren. Ich wäre am liebsten hier geblieben und hätte bis an mein Lebensende Bonbons und Sütterlinhefte verkauft, mich abends mit Marie oben ins Bett gelegt und bei ihr geschlafen, richtig geschlafen bei ihr, so wie die letzten Stunden vor dem Aufstehen, mit ihren Händen unter meinen Achseln. Ich fand es furchtbar und großartig, diesen Alltag, mit Kaffeetopf und Brötchen und Maries verwaschener blauweißer Schürze über dem grünen Kleid, und mir schien, als sei nur Frauen der Alltag so selbstverständlich wie ihr Körper. Ich war stolz darauf, daß Marie meine Frau war, und fühlte mich selbst nicht ganz so erwachsen, wie ich mich von jetzt an würde verhalten müssen. Ich stand auf, ging um den Tisch herum, nahm Marie in die Arme und sagte: »Weißt du noch, wie du nachts aufgestanden bist und die Bettücher gewaschen hast?« Sie nickte. »Und ich vergesse nicht«, sagte sie, »wie du meine Hände unter den Achseln gewärmt hast — jetzt mußt du gehen, es ist gleich halb acht, und die ersten Kinder kommen.« Ich half ihr, die Zeitungspakete von draußen hereinzuholen und auszupacken. Drüben kam gerade Schmitz mit seinem Gemüseauto vom Markt, und ich sprang in den Flur zurück, damit er mich nicht sehen sollte — aber er hatte mich schon gesehen. Nicht einmal der Teufel kann so scharfe Augen haben wie Nachbarn. Ich stand da im Laden und blickte auf die frischen Morgenzeitungen, auf die die meisten Männer so verrückt sind. Mich interessieren Zeitungen nur abends oder in der Badewanne, und in der Badewanne kommen mir die seriösesten Morgenzeitungen so unseriös wie Abendzeitungen vor. Die Schlagzeile an diesem Morgen lautete: »Strauß: mit voller Konsequenz!« Vielleicht wäre es doch besser, die Abfassung eines Leitartikels oder der Schlagzeilen einer kybernetischen Maschine zu überlassen. Es gibt Grenzen, über die hinaus Schwachsinn unterbunden werden sollte. Die Ladenklingel ging, ein kleines Mädchen, acht oder neun Jahre alt, schwarzhaarig mit roten Wangen und frisch gewaschen, das Gebetbuch unterm Arm, kam in den Laden. »Seidenkissen«, sagte sie, »für einen Groschen.« Ich wußte nicht, wieviel Seidenkissen es für einen Groschen gab, ich machte das Glas auf und zählte zwanzig Stück in eine Tüte und schämte mich zum ersten Mal meiner nicht ganz sauberen Finger, die durch das dicke Bonbonglas noch vergrößert wurden. Das Mädchen sah mich erstaunt an, als zwanzig Bonbons in die Tüte fielen, aber ich sagte: »Stimmt schon, geh«, und ich nahm ihren Groschen von der Theke und warf ihn in die Kasse.
Marie lachte, als sie zurückkam und ich ihr stolz den Groschen zeigte. »Jetzt mußt du gehen«, sagte sie.
»Warum eigentlich?« fragte ich, »kann ich nicht warten, bis dein Vater herunterkommt?«
»Wenn er herunterkommt, um neun, mußt du wieder hier sein. Geh«, sagte sie, »du mußt es deinem Bruder Leo sagen, bevor ers von irgend jemand anderem erfährt. «
»Ja«, sagte ich, »du hast recht — und du«, ich wurde schon wieder rot, »mußt du nicht zur Schule?«
»Ich geh heute nicht«, sagte sie, »nie mehr gehe ich. Komm rasch zurück.«
Es fiel mir schwer, von ihr wegzugehen, sie brachte mich bis zur Ladentür, und ich küßte sie in der offenen Tür, so daß Schmitz und seine Frau drüben es sehen konnten. Sie glotzten herüber wie Fische, die plötzlich überrascht entdecken, daß sie den Angelhaken schon lange verschluckt haben.
Ich ging weg, ohne mich umzusehen. Mir war kalt, ich schlug den Rockkragen hoch, steckte mir eine Zigarette an, machte einen kleinen Umweg über den Markt, ging die Franziskanerstraße runter und sprang an der Ecke Koblenzer Straße auf den fahrenden Bus, die Schaffnerin drückte mir die Tür auf, drohte mir mit dem Finger, als ich bei ihr stehen blieb, um zu bezahlen, und deutete kopfschüttelnd auf meine Zigarette. Ich knipste sie aus, schob den Rest in meine Rocktasche und ging zur Mitte durch. Ich stand nur da, blickte auf die Koblenzer Straße und dachte an Marie. Irgend etwas in meinem Gesicht schien den Mann, neben dem ich stand, wütend zu machen. Er senkte sogar die Zeitung, verzichtete auf sein »Strauß: mit voller Konsequenz!«, schob seine Brille vorne auf die Nase, sah mich kopfschüttelnd an und murmelte »Unglaublich.« Die Frau, die hinter ihm saß — ich war fast über einen Sack voll Mohren, den sie neben sich stehen hatte, gestolpert — nickte zu seinem Kommentar, schüttelte auch den Kopf und bewegte lautlos ihre Lippen.
Ich hatte mich sogar ausnahmsweise vor Maries Spiegel mit ihrem Kamm gekämmt, trug meine graue, saubere, ganz normale Jacke, und mein Bartwuchs war nie so stark, daß ein Tag ohne Rasur mich zu einer »unglaublichen« Erscheinung hätte machen können. Ich bin weder zu groß, noch zu klein, und meine Nase ist nicht so lang, daß sie in meinem Paß unter besondere Merkmale eingetragen ist. Dort steht: keine. Ich war weder schmutzig noch betrunken, und doch regte die Frau mit dem Möhrensack sich auf, mehr als der Mann mit der Brille, der schließlich nach einem letzten verzweifelten Kopfschütteln seine Brille wieder hochschob und sich mit Straußens Konsequenzen beschäftigte. Die Frau fluchte lautlos vor sich hin, machte unruhige Kopfbewegungen, um den übrigen Fahrgästen mitzuteilen, was ihre Lippen nicht preisgaben. Ich weiß bis heute nicht, wie Juden aussehen, sonst könnte ich ermessen, ob sie mich für einen gehalten hat, ich glaube eher, daß es nicht an meinem Äußeren lag, eher an meinem Blick, wenn ich aus dem Bus auf die Straße blickte und an Marie dachte. Mich machte diese stumme Feindseligkeit nervös, ich stieg eine Station zu früh aus, und ich ging zu Fuß das Stück die Ebertallee hinunter, bevor ich zum Rhein hin abschwenkte.