Der Steppenwolf
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»Es war einmal einer namens Harry, genannt der Steppenwolf. Er ging auf zwei Beinen, trug Kleider und war ein Mensch, aber eigentlich war er doch eben ein Steppenwolf.« Der erstmals 1927 erschienene Roman Der Steppenwolf vor allem begr?ndet den Weltruf Hermann Hesses und ist dasjenige Buch, das die internationale Renaissance seines Autors in den sechziger und siebziger Jahren ausgel?st hat.
Der Steppenwolf ist die Geschichte von Harry Haller, der sich im Zustand v?lliger Entfremdung von seiner b?rgerlichen Welt »eine geniale, eine unbegrenzte furchtbare Leidensf?higkeit herangebildet« hat. Die innere Zerrissenheit Hallers spiegelt die Erscheinungen der modernen Massen- und Industriegesellschaft wider und reflektiert kultur- und zivilisationskritische Str?mungen des 20. Jahrhunderts.
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Wir sahen uns wieder, hier und dort, auf den Felsen, bei den Gartenzäunen, diesen ganzen Frühling lang, und gaben uns, als der Flieder anfing zu blühen, den ersten ängstlichen Kuß. Wenig war es, was wir Kinder einander geben konnten, und unser Kuß war noch ohne Glut und ohne Fülle, und das lose Haargekräusel um ihre Ohren wagte ich nur leise zu streicheln, aber alles war unser, wessen wir an Liebe und Freude fähig waren, und mit jeder schüchternen Berührung, mit jedem unreifen Liebeswort, mit jedem bangen Aufeinanderwarten lernten wir ein neues Glück, stiegen wir eine kleine Stufe an der Liebesleiter empor.
So lebte ich, mit Rosa und den Veilchen beginnend, mein ganzes Liebesleben noch einmal durch, unter glücklicheren Sternen. Rosa verlor sich, und Irmgard erschien, und die Sonne wurde heißer, die Sterne trunkener, aber nicht Rosa noch Irmgard wurde mein, Stufe um Stufe mußte ich steigen, viel erleben, viel lernen, mußte auch Irmgard, auch Anna wieder verlieren. Jedes Mädchen, das ich einst in meiner Jugend geliebt, liebte ich wieder, aber jedem vermochte ich Liebe einzuflößen, jeder etwas zu geben, von jeder beschenkt zu werden. Wünsche, Träume und Möglichkeiten, die einst einzig in meiner Phantasie gelebt hatten, waren jetzt Wirklichkeit und wurden gelebt. O ihr schönen Blumen alle, Ida und Lore, ihr alle, die ich einst einen Sommer lang, einen Monat lang, einen Tag lang geliebt habe!
Ich begriff, daß ich jetzt der hübsche glühende kleine Jüngling war, den ich zuvor so eifrig nach der Liebespforte hatte laufen sehen, daß ich jetzt dies Stück von mir, dies nur zu einem Zehntel, einem Tausendstel erfüllte Stück meines Wesens und Lebens auslebte und wachsen ließ, unbeschwert von allen den andern Figuren meines Ichs, ungestört vom Denker, ungequält vom Steppenwolf, ungeschmälert vom Dichter, vom Phantasten, vom Moralisten. Nein, jetzt war ich nichts andres als Liebender, atmete kein andres Glück und kein andres Leid als das der Liebe. Schon Irmgard hatte mich tanzen, Ida mich küssen gelehrt, und die Schönste, Emma, war die erste, die mir, am Herbstabend unterm wehenden Ulmenlaub, ihre bräunlichen Brüste zu küssen und den Becher der Lust zu trinken gab.
Vieles erlebte ich in Pablos kleinem Theater, und kein Tausendstel davon ist mit Worten zu sagen. Alle Mädchen, die ich je geliebt, waren nun mein, jede gab mir, was nur sie allein zu geben hatte, jeder gab ich, was nur sie von mir zu nehmen wußte. Viel Liebe, viel Glück, viel Wollust, viel Verwirrung auch und Leid bekam ich zu kosten, alle versäumte Liebe meines Lebens blühte in dieser Traumstunde zauberhaft in meinem Garten, keusche zarte Blumen, grelle lodernde Blumen, dunkle schnellwelkende Blumen, flackernde Wollust, innige Träumerei, glühende Schwermut, angstvolles Sterben, strahlende Neugeburt. Ich fand Frauen, die nur eilig und im Sturm zu gewinnen waren, und andre, um welche lang und sorgfältig zu werben ein Glück war; jeder dämmernde Winkel meines Lebens tauchte wieder auf, in welchem einst, sei es nur eine Minute lang, die Stimme des Geschlechts mir gerufen, ein Frauenblick mich entzündet, ein Schimmer weißer Mädchenhaut mich gelockt hatte, und alles Versäumte ward eingeholt. Jede wurde mein, jede auf ihre Art. Die Frau mit den merkwürdigen tiefbraunen Augen unter flachshellem Haar war da, neben der ich einst eine Viertelstunde am Fenster im Gang eines Schnellzuges gestanden und die später mehrmals in meinen Träumen erschienen war – sie sprach kein Wort, aber sie lehrte mich ungeahnte, erschreckende, tödliche Liebeskünste. Und die glatte, stille, glasig lächelnde Chinesin vom Hafen in Marseille, mit dem glatten, tiefschwarzen Haar und den schwimmenden Augen, auch sie wußte Unerhörtes. Jede hatte ihr Geheimnis, duftete nach ihrem Erdreich, küßte, lachte auf ihre Weise, war auf ihre besondere Art schamhaft, auf ihre besondere Art schamlos. Sie kamen und gingen, der Strom führte sie zu mir, spülte mich zu ihnen hin, von ihnen weg, es war ein spielendes, kindliches Schwimmen im Strom des Geschlechts, voll Reiz, voll Gefahr, voll Überraschung. Und ich staunte darüber, wie reich mein Leben, mein scheinbar so armes und liebloses Steppenwolfleben, an Verliebtheiten, an Gelegenheiten, an Lockungen gewesen war. Ich hatte sie fast alle versäumt und geflohen, war über sie hinweggestolpert, hatte sie schleunigst vergessen – aber hier waren sie alle aufbewahrt, lückenlos, Hunderte. Und jetzt sah ich sie, gab mich ihnen hin, stand ihnen offen, sank in ihre rosig dämmernde Unterwelt hinab. Auch jene Verführung kehrte wieder, die mir Pablo einst angeboten hatte, und andre, frühere, die ich zu ihrer Zeit nicht einmal begriffen hatte, phantastische Spiele zu dreien und vieren, lächelnd nahmen sie mich in ihren Reigen mit. Viele Dinge geschahen, viele Spiele wurden gespielt, nicht mit Worten zu sagen.
Aus dem unendlichen Strom der Lockungen, der Laster, der Verstrickungen tauchte ich wieder empor, still, schweigend, gerüstet, mit Wissen gesättigt, weise, tief erfahren, reif für Hermine. Als letzte Figur in meiner tausendgestaltigen Mythologie, als letzter Name in der unendlichen Reihe tauchte sie auf, Hermine, und zugleich kehrte mir das Bewußtsein wieder und machte dem Liebesmärchen ein Ende, denn ihr wollte ich nicht hier in der Dämmerung eines Zauberspiegels begegnen, ihr gehörte der ganze Harry. Oh, ich würde nun mein Figurenspiel so umbauen, daß alles sich auf sie bezog und zur Erfüllung führte.
Der Strom hatte mich an Land gespült, wieder stand ich im schweigenden Logengang des Theaters. Was nun? Ich griff nach den Figürchen in meiner Tasche, aber schon war dieser Antrieb wieder verblaßt. Unerschöpflich umgab mich diese Welt der Türen, der Inschriften, der magischen Spiegel. Willenlos las ich die nächste Aufschrift und schauderte:
Wie man durch Liebe tötet
stand da geschrieben. Schnell aufzuckend leuchtete ein Erinnerungsbild in mir, eine Sekunde lang: Hermine, am Tisch eines Restaurants, plötzlich von Wein und Speisen weg in ein abgründiges Gespräch verloren, furchtbaren Ernst im Blick, wie sie mir sagte, daß sie mich nur darum in sich verliebt machen werde, um von meiner Hand getötet zu werden. Eine schwere Woge von Angst und Dunkelheit flutete über mein Herz, plötzlich stand wieder alles vor mir, plötzlich spürte ich im Innersten wieder Not und Schicksal. Verzweifelnd griff ich in meine Tasche, um die Figuren hervorzulangen, um ein wenig Magie zu treiben und die Ordnung meines Schachbrettes umzustellen. Es waren keine Figuren mehr da. Statt der Figuren zog ich ein Messer aus der Tasche. Zu Tode erschrocken lief ich durch den Korridor, an den Türen vorbei, stand plötzlich dem riesigen Spiegel gegenüber, blickte hinein. Im Spiegel stand, hoch wie ich, ein riesiger, schöner Wolf, stand still, blitzte scheu aus unruhigen Augen. Flackernd blinzelte er mich an, lachte ein wenig, daß die Lefzen sich einen Augenblick trennten und die rote Zunge zu sehen war.
Wo war Pablo? Wo war Hermine? Wo war der kluge Kerl, der so hübsch vom Aufbau der Persönlichkeit geschwatzt hatte?
Nochmals blickte ich in den Spiegel. Ich war toll gewesen. Kein Wolf stand hinter dem hohen Glas und rollte die Zunge im Maul. Im Spiegel stand Ich, stand Harry, mit grauem Gesicht, von allen Spielen verlassen, von allen Lastern ermüdet, scheußlich bleich, aber immerhin ein Mensch, immerhin jemand, mit dem man reden konnte.
»Harry«, sagte ich, »was tust du da?«
»Nichts«, sagte der im Spiegel, »ich warte nur. Ich warte auf den Tod.«
»Wo ist denn der Tod?« fragte ich.
»Er kommt«, sagte der andere. Und ich hörte, aus den leeren Räumen im Innern des Theaters her, eine Musik tönen, eine schöne und schreckliche Musik, jene Musik aus dem »Don Juan«, die das Auftreten des steinernen Gastes begleitet. Schauerlich hallten die eisigen Klänge durch das gespenstische Haus, aus dem Jenseits, von den Unsterblichen kommend.
»Mozart!« dachte ich und beschwor damit die geliebtesten und höchsten Bilder meines inneren Lebens.
Da klang hinter mir ein Gelächter, ein helles und eiskaltes Gelächter, aus einem den Menschen unerhörten Jenseits von Gelittenhaben, von Götterhumor geboren. Ich wandte mich um, durchfroren und beseligt von diesem Lachen, und da kam Mozart gegangen, lachend ging er an mir vorüber, schlenderte gelassen auf eine der Logentüren zu, öffnete sie und trat ein, und ich folgte ihm begierig, dem Gott meiner Jugend, dem lebenslangen Ziel meiner Liebe und Verehrung. Die Musik erklang weiter. Mozart stand an der Logenbrüstung, vom Theater war nichts zu sehen, den grenzenlosen Raum füllte Finsternis.
»Sie sehen«, sagte Mozart, »es geht auch ohne Saxophon. Obwohl ich diesem famosen Instrument gewiß nicht zu nahe treten möchte.«
»Wo sind wir?« fragte ich.
»Wir sind im letzten Akt des ,Don Giovanni', Leporello liegt schon auf den Knien. Eine vortreffliche Szene, und auch die Musik kann sich hören lassen, nun ja. Wenn sie auch noch allerlei sehr Menschliches in sich hat, man spürt doch schon das Jenseits heraus, das Lachen – nicht?«
»Es ist die letzte große Musik, die geschrieben worden ist«, sagte ich feierlich Wie ein Schullehrer. »Gewiß, es kam noch Schubert, es kam noch Hugo Wolf, und auch den armen herrlichen Chopin darf ich nicht vergessen. Sie runzeln die Stirn, Maestro – o ja, auch Beethoven ist ja da, auch er ist wunderbar. Aber das alles, so schön es sei, hat schon etwas von Bruchstück, von Auflösung in sich, ein Werk von so vollkommenem Guß ist seit dem ,Don Giovanni' nicht mehr von Menschen gemacht worden.«
»Strengen Sie sich nicht an«, lachte Mozart, furchtbar spöttisch. »Sie sind ja wohl selber Musikant? Nun, ich habe das Metier aufgegeben, ich habe mich zur Ruhe gesetzt. Nur spaßeshalber sehe ich zuweilen dem Betrieb noch zu.«
Er hob die Hände, als dirigierte er, und ein Mond oder sonst ein bleiches Gestirn ging irgendwo auf, über die Brüstung blickte ich in unmeßbare Raumtiefen. Nebel und Wolken zogen darin, Gebirge dämmerten und Meergestade, unter uns dehnte sich weltenweit eine wüstenähnliche Ebene. In dieser Ebene sahen wir einen ehrwürdig aussehenden alten Herrn mit langem Barte, der mit wehmütigem Gesicht einen gewaltigen Zug von einigen zehntausend schwarzgekleideten Männern anführte. Er sah betrübt und hoffnungslos aus, und Mozart sagte:
»Sehen Sie, das ist Brahms. Er strebt nach der Erlösung, aber damit hat es noch eine gute Weile.«
Ich erfuhr, daß die schwarzen Tausende alle die Spieler jener Stimmen und Noten waren, welche nach göttlichem Urteil in seinen Partituren überflüssig gewesen wären.
»Zu dick instrumentiert, zuviel Material vergeudet«, nickte Mozart.
Und gleich darauf sahen wir an der Spitze eines ebenso großen Heeres Richard Wagner marschieren und fühlten, wie die schweren Tausende an ihm zogen und sogen; müde mit Dulderschritten sahen wir auch ihn sich schleppen.