Der Steppenwolf
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»Es war einmal einer namens Harry, genannt der Steppenwolf. Er ging auf zwei Beinen, trug Kleider und war ein Mensch, aber eigentlich war er doch eben ein Steppenwolf.« Der erstmals 1927 erschienene Roman Der Steppenwolf vor allem begr?ndet den Weltruf Hermann Hesses und ist dasjenige Buch, das die internationale Renaissance seines Autors in den sechziger und siebziger Jahren ausgel?st hat.
Der Steppenwolf ist die Geschichte von Harry Haller, der sich im Zustand v?lliger Entfremdung von seiner b?rgerlichen Welt »eine geniale, eine unbegrenzte furchtbare Leidensf?higkeit herangebildet« hat. Die innere Zerrissenheit Hallers spiegelt die Erscheinungen der modernen Massen- und Industriegesellschaft wider und reflektiert kultur- und zivilisationskritische Str?mungen des 20. Jahrhunderts.
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Lange dauerte dieser Hochzeitstanz. Zweimal, dreimal erlahmte die Musik, ließen die Bläser ihre Instrumente sinken, stand der Klavierspieler vom Flügel auf, schüttelte der Primgeiger versagend den Kopf, und jedesmal wurden sie vom flehenden Taumel der letzten Tänzer nochmals entflammt, spielten nochmals, spielten schneller, spielten wilder. Dann – wir standen noch verschlungen und schwer atmend vom letzten gierigen Tanz – schlug mit einem Knall der Klavierdeckel zu, fielen unsre Arme müde herab wie die der Bläser und Geiger, und der Flötist packte blinzelnd seine Flöte ins Futteral, Türen gingen auf, kalte Luft strömte herein, Diener erschienen mit Mänteln, und der Barkellner drehte das Licht ab. Gespenstisch und schauerlich floh alles auseinander, fröstelnd drängten sich die Tänzer, die eben noch hellauf geglüht, in ihre Mäntel und schlugen die Kragen hoch. Hermine stand bleich, aber lächelnd. Langsam hob sie die Arme und strich sich das Haar zurück, ihre Achselhöhle glänzte im Lichte auf, ein dünner, unendlich zarter Schatten lief von da zur verdeckten Brust, und die kleine schwebende Schattenlinie schien mir all ihren Reiz, alle Spiele und Möglichkeiten ihres schönen Leibes zusammenzufassen, wie ein Lächeln.
Wir standen und blickten einander an, die letzten im Saal, die letzten im Haus. Irgendwo unten hörte ich eine Tür schlagen, ein Glas zerschellen, ein Gekicher sich verlieren, vermischt mit dem bösen, eiligen Lärm ankurbelnder Automobile. Irgendwo, in einer unbestimmbaren Ferne und Höhe, hörte ich ein Gelächter klingen, ein ungemein helles und frohes, dennoch schauerliches und fremdes Gelächter, ein Lachen wie aus Kristall und Eis, hell und strahlend, aber kalt und unerbittlich. Woher doch klang dies wunderliche Lachen mir bekannt? Ich fand es nicht. Wir beide standen und blickten einander an. Einen Augenblick lang wurde ich wach und nüchtern, fühlte die durchschwitzten Kleider widerlich feucht und lau um mich hangen, sah meine Hände rot und dickgeädert aus zerdrückten und verschwitzten Manschetten hervorkommen. Aber sofort war dies wieder vorbei, ein Blick Herminens löschte es aus. Vor ihrem Blick, aus dem meine eigene Seele mich anzuschauen schien, sank alle Wirklichkeit zusammen, auch die Wirklichkeit meines sinnlichen Verlangens nach ihr. Verzaubert blickten wir einander an, blickte meine arme kleine Seele mich an.
»Du bist bereit?« fragte Hermine, und ihr Lächeln verflog, wie der Schatten über ihrer Brust verflogen war. Fern und hoch verklang jenes fremde Lachen in unbekannten Räumen.
Ich nickte. O ja, ich war bereit.
Jetzt erschien in der Tür Pablo, der Musikant, und leuchtete uns aus den frohen Augen an, welche eigentlich Tieraugen waren, aber Tieraugen sind immer ernst, und seine lachten immer, und ihr Lachen machte sie zu Menschenaugen. Mit all seiner herzlichen Freundlichkeit winkte er uns zu. Er hatte eine buntseidene Hausjacke angetan, über deren roten Aufschlägen sein durchweichter Hemdkragen und sein übermüdetes bleiches Gesicht merkwürdig welk und fahl erschien, aber die strahlenden schwarzen Augen löschten das aus. Auch sie löschten die Wirklichkeit aus, auch sie zauberten.
Wir folgten seinem Wink, und unter der Tür sagte er leise zu mir: »Bruder Harry, ich lade Sie zu einer kleinen Unterhaltung ein. Eintritt nur für Verrückte, kostet den Verstand. Sind Sie bereit?« Wieder nickte ich.
Lieber Kerl! Zart und sorglich nahm er uns am Arm, Hermine rechts, mich links, und führte uns über eine Treppe hinan in ein kleines rundes Zimmer, das war von oben bläulich erleuchtet und beinahe ganz leer, es war nichts darin als ein kleiner runder Tisch und drei Sessel, in die wir uns setzten.
Wo waren wir? Schlief ich? War ich zu Hause? Saß ich in einem Auto und fuhr? Nein, ich saß im blau erleuchteten runden Raum, in einer verdünnten Luft, in einer Schicht von sehr undicht gewordener Wirklichkeit. Warum war denn Hermine so bleich? Warum sprach Pablo so viel? War nicht vielleicht ich es, der ihn sprechen machte, der aus ihm sprach? Blickte nicht auch aus seinen schwarzen Augen nur meine eigene Seele mich an, der verlorne bange Vogel, ebenso wie aus den grauen Augen Herminens?
Mit all seiner guten und etwas zeremoniösen Freundlichkeit blickte Freund Pablo uns an und sprach, sprach viel und lang. Er, den ich nie zusammenhängend hatte reden hören, den kein Disput, keine Formulierung interessierte, dem ich kaum ein Denken zugetraut hatte, er sprach nun, er redete mit seiner guten warmen Stimme fließend und fehlerlos. »Freunde, ich habe euch zu einer Unterhaltung eingeladen, die Harry sich schon lange wünscht, von der er schon lange geträumt hat. Es ist ein wenig spät, und wahrscheinlich sind wir alle ein bißchen müde. Wir wollen darum hier erst ein wenig ausruhen und uns stärken.«
Aus einer Wandnische nahm er drei Gläschen und eine kleine drollige Flasche, nahm eine kleine exotische Schachtel aus farbigen Hölzern, schenkte aus der Flasche die drei Gläschen voll, nahm aus der Schachtel drei dünne, lange, gelbe Zigaretten, zog aus der seidenen Jacke ein Feuerzeug und bot uns Feuer. Jeder von uns rauchte nun, in seinem Sessel zurückgelehnt, langsam seine Zigarette, deren Rauch dick wie Weihrauch war, und trank in kleinen langsamen Schlucken die herbsüße, wunderlich unbekannt und fremd schmeckende Flüssigkeit, die in der Tat unendlich belebend und beglückend wirkte, als werde man mit Gas gefüllt und verliere seine Schwere. So saßen wir, rauchten in kleinen Zügen, ruhten, nippten an den Gläsern, fühlten uns leicht und froh werden. Dazu sprach Pablo gedämpft mit seiner warmen Stimme:
»Es ist mir eine Freude, lieber Harry, Sie heut ein wenig bewirten zu dürfen. Sie sind oft Ihres Lebens sehr überdrüssig gewesen. Sie strebten fort von hier, nicht wahr? Sie sehnen sich danach, diese Zeit, diese Welt, diese Wirklichkeit zu verlassen und in eine andre, Ihnen gemäßere Wirklichkeit einzugehen, in eine Welt ohne Zeit. Tun Sie das, lieber Freund, ich lade Sie dazu ein. Sie wissen ja, wo diese andre Welt verborgen liegt, daß es die Welt Ihrer eigenen Seele ist, die Sie suchen. Nur in Ihrem eigenen Innern lebt jene andre Wirklichkeit, nach der Sie sich sehnen. Ich kann Ihnen nichts geben, was nicht in Ihnen selbst schon existiert, ich kann Ihnen keinen andern Bildersaal öffnen als den Ihrer Seele. Ich kann Ihnen nichts geben, nur die Gelegenheit, den Anstoß, den Schlüssel. Ich helfe Ihnen Ihre eigene Welt sichtbar machen, das ist alles.«
Er griff wieder in die Tasche seiner bunten Jacke und brachte einen runden Taschenspiegel heraus.
»Sehen Sie: so haben Sie sich selbst gesehen!«
Er hielt mir das Spiegelchen vor die Augen (ein Kindervers fiel mir ein: »Spiegelein, Spiegelein in der Hand"), und ich sah, etwas zerflossen und wolkig, ein unheimliches, in sich selbst bewegtes, in sich selbst heftig arbeitendes und gärendes Bild: mich selber, Harry Haller, und innen in diesem Harry den Steppenwolf, einen scheuen, schönen, aber verirrt und geängstigt blickenden Wolf, die Augen bald böse, bald traurig glimmend, und diese Wolfsgestalt floß in unablässiger Bewegung durch Harry, so wie in einem Strome ein Nebenfluß von andrer Farbe wölkt und wühlt, kämpfend, leidvoll, einer im ändern fressend, voll unerlöster Sehnsucht nach Gestaltung. Traurig, traurig blickte der fließende, halbgestaltete Wolf mich aus den schönen scheuen Augen an.
»So haben Sie sich selbst gesehen«, wiederholte Pablo sanft und steckte den Spiegel wieder in die Tasche. Dankbar schloß ich die Augen und nippte am Elixier.
»Wir haben nun ausgeruht«, sagte Pablo, »wir haben uns gestärkt und haben ein wenig geplaudert. Wenn ihr euch nicht mehr müde fühlt, dann will ich euch jetzt in meinen Guckkasten führen und euch mein kleines Theater zeigen. Seid ihr einverstanden?«
Wir erhoben uns, lächelnd ging Pablo voran, öffnete eine Tür, zog einen Vorhang beiseite, und da standen wir im runden, hufeisenförmigen Korridor eines Theaters, genau in der Mitte, und nach beiden Seiten hin führte der gebogene Gang an sehr vielen, an unglaublich vielen schmalen Logentüren vorüber.
»Das ist unser Theater«, erklärte Pablo, »ein vergnügtes Theater, hoffentlich werdet ihr allerlei zu lachen finden.« Dabei lachte er laut auf, nur ein paar Töne, aber sie durchführen mich heftig, es war wieder das helle, fremdartige Lachen, das ich schon vorher von oben gehört hatte. »Mein Theaterchen hat so viele Logentüren, als ihr wollt, zehn oder hundert oder tausend, und hinter jeder Tür erwartet euch das, was ihr gerade sucht. Es ist ein hübsches Bilderkabinett, lieber Freund, aber es würde Ihnen nichts nützen, es so zu durchlaufen, wie Sie sind. Sie würden durch das gehemmt und geblendet werden, was Sie gewohnt sind, Ihre Persönlichkeit zu nennen. Ohne Zweifel haben Sie ja längst erraten, daß die Überwindung der Zeit, die Erlösung von der Wirklichkeit, und was immer für Namen Sie Ihrer Sehnsucht geben mögen, nichts andres bedeuten als den Wunsch, Ihrer sogenannten Persönlichkeit ledig zu werden. Sie ist das Gefängnis, in dem Sie sitzen. Und wenn Sie so, wie Sie sind, in das Theater träten, so sähen Sie alles mit den Augen Harrys, alles durch die alte Brille des Steppenwolfes. Sie werden darum eingeladen, sich dieser Brille zu entledigen und diese sehr geehrte Persönlichkeit freundlichst hier in der Garderobe abzulegen, wo sie auf Wunsch jederzeit wieder zu Ihrer Verfügung steht. Der hübsche Tanzabend, den Sie hinter sich haben, der Traktat vom Steppenwolf, schließlich noch das kleine Anregungsmittel, das wir eben zu uns genommen haben, dürfte Sie genügend vorbereitet haben. Sie, Harry, werden nach Ablegung Ihrer werten Persönlichkeit die linke Seite des Theaters zu Ihrer Verfügung haben, Hermine die rechte, im Innern können Sie sich beliebig wieder treffen. Bitte, Hermine, geh einstweilen hinter den Vorhang, ich möchte erst Harry einführen.«
Hermine verschwand nach rechts, an einem riesengroßen Spiegel vorbei, der die Rückwand vom Boden bis zur Wölbung bedeckte.
»So, Harry, nun kommen Sie und seien Sie recht guter Laune. Sie in gute Laune zu bringen, Sie lachen zu lehren ist der Zweck dieser ganzen Veranstaltung – ich hoffe, Sie machen es mir leicht. Sie fühlen sich doch wohl? Ja? Haben nicht etwa Angst? Also gut, sehr gut. Sie werden jetzt, ohne Angst und mit herzlichem Vergnügen, in unsre Scheinwelt eintreten, indem Sie sich durch einen kleinen Scheinselbstmord einführen, wie das so Sitte ist.«
Er zog wieder den kleinen Taschenspiegel hervor und hielt ihn mir vors Gesicht. Wieder blickte mir der wirre, wolkige, von der ringenden Wolfsgestalt durchflossene Harry entgegen, ein mir wohlbekanntes und wahrlich nicht sympathisches Bild, dessen Vernichtung mir keine Sorgen bereiten konnte.