Der Steppenwolf
Der Steppenwolf читать книгу онлайн
»Es war einmal einer namens Harry, genannt der Steppenwolf. Er ging auf zwei Beinen, trug Kleider und war ein Mensch, aber eigentlich war er doch eben ein Steppenwolf.« Der erstmals 1927 erschienene Roman Der Steppenwolf vor allem begr?ndet den Weltruf Hermann Hesses und ist dasjenige Buch, das die internationale Renaissance seines Autors in den sechziger und siebziger Jahren ausgel?st hat.
Der Steppenwolf ist die Geschichte von Harry Haller, der sich im Zustand v?lliger Entfremdung von seiner b?rgerlichen Welt »eine geniale, eine unbegrenzte furchtbare Leidensf?higkeit herangebildet« hat. Die innere Zerrissenheit Hallers spiegelt die Erscheinungen der modernen Massen- und Industriegesellschaft wider und reflektiert kultur- und zivilisationskritische Str?mungen des 20. Jahrhunderts.
Внимание! Книга может содержать контент только для совершеннолетних. Для несовершеннолетних чтение данного контента СТРОГО ЗАПРЕЩЕНО! Если в книге присутствует наличие пропаганды ЛГБТ и другого, запрещенного контента - просьба написать на почту [email protected] для удаления материала
Es kam ein Straßenhändler mit gebratenen Kastanien, und ich kaufte ihm eine Handvoll ab. Es kam eine alte Frau mit Blumen, ich kaufte ein paar Nelken von ihr und schenkte sie der Wirtin. Erst als ich zahlen wollte und vergebens nach der gewohnten Rocktasche griff, merkte ich wieder, daß ich im Frack war. Maskenball! Hermine!
Aber es war noch reichlich früh, ich konnte mich nicht entschließen, schon jetzt in die Globussäle zu gehen. Auch spürte ich, wie es mir bei all diesen Vergnügungen in letzter Zeit ergangen war, mancherlei Widerstände und Hemmungen, eine Abneigung gegen das Eintreten in große, überfüllte, geräuschvolle Räume, eine schülerhafte Schüchternheit vor der fremden Atmosphäre, vor der Welt der Lebemänner, vor dem Tanzen.
Im Schlendern kam ich an einem Kino vorüber, sah Lichtbündel und farbige Riesenplakate aufglänzen, ging ein paar Schritte weiter, kehrte wieder um und ging hinein. Da konnte ich bis gegen elf Uhr hübsch ruhig im Dunkeln sitzen. Vom Boy mit der Blendlaterne geführt, stolperte ich durch die Vorhänge in den finstern Saal, fand einen Platz und war plötzlich mitten im Alten Testament. Der Film war einer von jenen, welche angeblich nicht des Geldverdienens wegen, sondern um edler und heiliger Ziele willen mit großem Aufwand und Raffinement hergestellt worden sind und zu welchem am Nachmittag sogar Schüler von ihren Religionslehrern geführt wurden. Es wurde da die Geschichte des Moses und der Israeliten in Ägypten gespielt, mit einem gewaltigen Aufgebot an Menschen, Pferden, Kamelen, Palästen, Pharaonenglanz und Judenmühsal im heißen Wüstensand. Ich sah den Moses, der ein wenig nach dem Vorbilde von Walt Whitman frisiert war, einen prachtvollen Theatermoses, am langen Stab mit Wotansschritten feurig und düster durch die Wüste wandern, den Juden voraus. Ich sah ihn am Roten Meer zu Gott beten und sah das Rote Meer auseinandergehen und eine Straße freigeben, einen Hohlweg zwischen gestauten Wasserbergen (auf welche Weise dies von den Kinoleuten bewerkstelligt worden war, darüber konnten sich die vom Pfarrer in diesen Religionsfilm geführten Konfirmanden lange streiten), ich sah den Propheten und das furchtsame Volk hindurchschreiten, sah hinter ihnen die Streitwagen des Pharao auftauchen, sah die Ägypter am Meeresufer stutzen und scheuen, sich dann mutig hineinwagen, und sah über dem prächtigen, goldgeharnischten Pharao und all seinen Wagen und Mannen die Wasserberge zusammenschlagen, nicht ohne mich eines wundervollen Duetts für zwei Bässe von Händel zu erinnern, worin dies Ereignis herrlich besungen wird. Ich sah weiterhin den Moses auf den Sinai steigen, einen düstren Helden in düstrer Felsenwildnis, und sah zu, wie ihm dort Jehova vermittelst Sturm, Gewitter und Lichtsignalen die Zehn Gebote mitteilte, während unterdessen sein nichtswürdiges Volk am Fuß des Berges das Goldene Kalb aufrichtete und sich ziemlich heftigen Belustigungen hingab. Es war mir so wunderlich und unglaublich, dies alles mit anzusehen, und die heiligen Geschichten, ihre Helden und Wunder, die über unsre Kindheit einst die erste dämmernde Ahnung einer ändern Welt, eines Übermenschlichen ergehen ließen, hier vor dankbarem Publikum, welches still seine mitgebrachten Brötchen aß, gegen Eintrittsgeld vorgespielt zu sehen, ein hübsches kleines Einzelbild aus dem riesigen Ramsch und Kulturausverkauf dieser Zeit. Mein Gott, um diese Schweinerei zu verhüten, hätten damals, außer den Ägyptern, auch die Juden und alle andern Menschen lieber gleich untergehen sollen, eines gewaltsamen und anständigen Todes, statt dieses grausigen Schein- und Halbundhalbtodes, den wir heute starben. Na ja!
Meine heimlichen Hemmungen, meine uneingestandene Scheu vor dem Maskenball war durch das Kino und dessen Anregungen nicht kleiner geworden, sondern unangenehm angewachsen, und ich mußte mir, in Gedanken an Hermine, einen Ruck geben, um nun endlich zu den Globussälen zu fahren und dort einzutreten. Es war spät geworden und der Ball längst in vollem Gang, nüchtern und schüchtern geriet ich sogleich, noch eh ich abgelegt hatte, in ein heftiges Maskengewühl, wurde vertraulich angepufft, von Mädchen zum Besuch der Champagnerstuben aufgefordert, von Clowns auf die Schulter gehauen und mit du angeredet. Ich ging auf nichts ein, drückte mich in den überfüllten Räumen mühselig zur Garderobe durch, und als ich meine Garderobennummer bekam, steckte ich sie mit großer Sorgfalt in die Tasche, im Gedanken, sie vielleicht schon bald wieder zu brauchen, wenn ich genug von dem Trubel hätte.
In allen Räumen des großen Gebäudes war Festbetrieb, in allen Sälen wurde getanzt, auch im Kellergeschoß, alle Korridore und Treppen waren von Masken, Tanz, Musik, Gelächter und Gejage überflutet. Beklommen schlich ich durch das Gewühl, von der Negerkapelle zur Bauernmusik, vom großen strahlenden Hauptsaal in die Gänge, Stiegen, in die Bars, zu den Büfetts, in die Sektstuben. Die Wände waren zumeist mit wilden lustigen Malereien der jüngsten Künstler behangen. Alles war da, Künstler, Journalisten, Gelehrte, Geschäftsleute, dazu natürlich die ganze Lebewelt der Stadt. In einem der Orchester saß Mister Pablo und blies begeistert in sein geschweiftes Rohr; als er mich erkannte, sang er mir laut seinen Gruß entgegen. Von der Menge geschoben, gelangte ich in diesen und jenen Raum, Treppen hinauf, Treppen hinunter; ein Gang im Kellergeschoß war von den Künstlern als Hölle ausgestattet, und eine Musikbande von Teufeln paukte darin wie rasend. Allmählich begann ich nach Hermine, nach Maria auszuspähen, begab mich auf die Suche, bemühte mich mehrmals, in den Hauptsaal zu dringen, lief aber jedesmal fehl oder hatte den Strom der Menge gegen mich. Um Mitternacht hatte ich noch niemand gefunden; obwohl ich noch nicht getanzt hatte, war mir schon heiß und schwindlig, ich warf mich in den nächsten Stuhl, zwischen lauter Fremden, ließ mir Wein geben und fand, das Mitmachen solcher lärmiger Feste sei nichts für einen alten Mann wie mich. Resigniert trank ich mein Glas Wein, starrte auf die nackten Arme und Rücken der Weiber, sah die vielen grotesken Maskenfiguren vorbeiwehen, ließ mich puffen und schickte die paar Mädchen schweigend weiter, die auf meinem Schoß sitzen oder mit mir tanzen wollten. »Alter Brummbär«, rief eine und hatte recht. Ich beschloß, mir etwas Mut und Laune anzutrinken, aber auch der Wein schmeckte mir nicht, ich brachte kaum das zweite Glas hinunter. Und allmählich spürte ich, wie der Steppenwolf hinter mir stand und die Zunge herausstreckte. Es war nichts los mit mir, ich war hier am falschen Ort. Ich war ja in bester Absicht gekommen, aber konnte hier nicht froh werden, und die laute brausende Freude, das Gelächter und die ganze Tollerei ringsum erschien mir dumm und erzwungen.
So kam es, daß ich um ein Uhr enttäuscht und böse mich wieder zur Garderobe zurückpirschte, um den Mantel anzuziehen und zu gehen. Es war eine Niederlage, ein Rückfall in den Steppenwolf, und Hermine würde es mir kaum verzeihen. Aber ich konnte nicht anders. Ich hatte auf dem mühsamen Weg durchs Gedränge bis zur Garderobe nochmals sorgfältig um mich geschaut, ob ich keine der Freundinnen sähe. Vergebens. Nun stand ich am Schalter, der höfliche Mann hinter der Schranke hielt schon die Hand nach meiner Nummer ausgestreckt, ich griff in die Westentasche – die Nummer war nicht mehr da! Teufel, das hatte noch gefehlt. Mehrmals während meiner traurigen Wanderungen durch die Säle, während meines Sitzens beim faden Wein hatte ich in die Tasche gegriffen, mit dem Entschluß zum Wiederfortgehen kämpfend, und hatte stets die runde flache Marke an ihrem Ort gefühlt. Und jetzt war sie fort. Alles war gegen mich.
»Nummer verloren?« fragte ein kleiner rot und gelber Teufel neben mir mit schriller Stimme. »Da, Kamerad, kannst die meine haben«, und streckte sie mir auch schon dar. Während ich sie mechanisch annahm und in den Fingern drehte, war der flinke kleine Kerl schon wieder verschwunden.
Als ich aber die kleine runde Kartonmünze ans Auge hob, um nach der Nummer zu sehen, stand gar keine Nummer darauf, sondern ein Gekritzel in kleiner Schrift. Ich bat den Garderobenmann zu warten, ging unter den nächsten Leuchter und las. Da stand in kleinen taumelnden Buchstaben, schwer zu lesen, etwas gekritzelt:
Heute nacht von vier Uhr an magisches Theater
– nur für Verrückte –
Eintritt kostet den Verstand.
Nicht für jedermann. Hermine ist in der Hölle.
Wie eine Marionette, deren Draht dem Spieler einen Augenblick entglitten war, nach kurzem, steifem Tod und Stumpfsinn wieder auflebt, wieder ins Spiel gehört, tanzt und agiert, so lief ich, am magischen Draht gerissen, in das Getümmel, dem ich soeben müde, lustlos und alt entflohen war, elastisch, jung und eifrig wieder zurück. Nie hat ein Sünder es eiliger gehabt, in die Hölle zu kommen. Eben noch hatten mich die Lackschuhe gedrückt, hatte mich die dicke parfümierte Luft angewidert, die Hitze mich erschlafft; jetzt lief ich hurtig auf federnden Füßen im Onesteptakt durch alle Säle, der Hölle entgegen, fühlte die Luft voller Zauber, wurde gewiegt und getragen von der Wärme, von all der brausenden Musik, vom Taumel der Farben, vom Duft der Frauenschultern, vom Rausch der Hunderte, vom Lachen, vom Tanztakt, vom Glanz all der entzündeten Augen. Eine spanische Tänzerin flog mir in die Arme: »Tanz mit mir!« – »Geht nicht«, sagte ich, »ich muß in die Hölle. Aber einen Kuß von dir nehm ich gerne mit.« Der rote Mund unter der Maske kam mir entgegen, und erst im Kuß erkannte ich Maria. Fest schloß ich sie in die Arme, wie eine reife Sommerrose blühte ihr voller Mund. Und nun tanzten wir auch schon, die Lippen noch aufeinander, und tanzten an Pablo vorbei, der hing verliebt über seiner zärtlich heulenden Tonröhre, strahlend und halb abwesend umfing uns sein schöner Tierblick. Aber eh wir zwanzig Tanzschritte getan hatten, brach die Musik ab, ungern ließ ich Maria aus meinen Händen.
»Gern hätte ich noch einmal mit dir getanzt«, sagte ich, berauscht von ihrer Wärme, »komm ein paar Schritte mit, Maria, ich bin verliebt in deinen schönen Arm, laß ihn mir noch einen Augenblick! Aber sieh, Hermine hat mich gerufen. Sie ist in der Hölle.«
»Ich dachte es mir. Leb wohl, Harry, ich behalte dich lieb.« Sie nahm Abschied. Abschied war es, Herbst war es, Schicksal war es, wonach die Sommerrose so reif und voll geduftet hatte.
Weiter lief ich, durch die langen Korridore voll zärtlichen Gedränges, die Treppen hinab, in die Hölle. Dort brannten an pechschwarzen Wänden grelle böse Lampen, und die Teufelskapelle spielte fiebernd. Auf einem hohen Barstuhl saß ein hübscher Jüngling ohne Maske, im Frack, der musterte mich kurz mit einem spöttischen Blick. Ich ward vom Tanzstrudel an die Wand gedrückt, gegen zwanzig Paare tanzten in dem sehr engen Raum. Gierig und ängstlich beobachtete ich alle Frauen, die meisten waren noch maskiert, einige lachten mich an, aber keine war Hermine. Spöttisch blickte der schöne Jüngling vom hohen Barstuhl herüber. In der nächsten Tanzpause, dachte ich, würde sie kommen und mich anrufen. Der Tanz ging zu Ende, aber niemand kam.