Das Glasperlenspiel
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Das Glasperlenspiel ist Hermann Hesses intellektuelle Antwort auf die Barbarei des Hitlerfaschismus. Mit der Utopie seiner p?dagogischen Provinz Kastalien entwirft der Autor dar?ber hinaus eine Gegenwelt zu Diktatur und Verbrechen des Dritten Reichs und stellt die Frage nach den erzieherisch-bildenden M?glichkeiten des Geistes. Die in sich geschlossene geistige Welt der Zucht und der Askese in Kastalien findet h?chsten Ausdruck und Vollendung in der Kunst des Glasperlenspiels: einem Spiel, bei dem »s?mtliche Inhalte und Werte unserer Kultur« miteinander kommunizieren. Der Roman basiert auf der Idee einer ?berzeitlichen Biografie des Glasperlenspielmeisters Josef Knecht, der in einigen Wiedergeburten gro?e Epochen der Menschheitsgeschichte miterlebt.
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Eines Tages ließ der Magister Ludi Josef Knecht zu sich laden, er empfing ihn in seiner Wohnung, in Haustracht, und fragte ihn, ob es ihm möglich und angenehm sein würde, in den nächsten Tagen immer um diese Tageszeit für eine halbe Stunde zu kommen. Knecht war noch nie allein bei ihm gewesen, er nahm den Befehl verwundert entgegen. Für heute legte ihm der Meister ein umfangreiches Schreiben vor, einen Vorschlag, der ihm von einem Organisten zugegangen war, einen der unzähligen Vorschläge, deren Prüfung zu den Arbeiten des obersten Spielamtes gehört. Es handelt sich dabei meistens um Anträge zur Aufnahme neuen Stoffes in das Archiv: einer hat zum Beispiel die Geschichte des Madrigals besonders genau durchgearbeitet und in der Stilentwicklung eine Kurve entdeckt, die er musikalisch und mathematisch aufzeichnet, damit sie in den Sprachschatz des Spieles aufgenommen werde. Einer hat das Latein des Julius Cäsar auf seine rhythmischen Eigenschaften hin untersucht und hat darin die auffallendsten Übereinstimmungen gefunden mit dem Ergebnis wohlbekannter Intervalluntersuchungen im byzantinischen Kirchengesang. Oder ein Schwärmer hat, wieder einmal, eine neue Kabbala zur Notenschrift des fünfzehnten Jahrhunderts erfunden, nicht zu reden von den stürmischen Briefen abwegiger Experimentatoren, welche etwa aus einer Vergleichung der Horoskope Goethes und Spinozas die erstaunlichsten Schlüsse zu ziehen wissen und oft sehr hübsch und einleuchtend aussehende mehrfarbige geometrische Zeichnungen beilegen. Knecht ging mit Eifer auf die heutige Vorlage ein, er selbst hatte ja Vorschläge dieser Art des öfteren schon im Kopfe gehabt, wenn auch nicht eingesandt; jeder aktive Glasperlenspieler träumt ja von einer beständigen Erweiterung der Spielgebiete, bis sie die ganze Welt umfassen, vielmehr, er vollzieht diese Erweiterungen in seiner Vorstellung und in seinen privaten Glasperlenspielübungen beständig und hegt für diejenigen, welche sich dabei zu bewähren scheinen, den Wunsch, sie mochten aus privaten auch zu offiziellen Erweiterungen werden. Die eigentliche, letzte Finesse des privaten Spielens hochentwickelter Spieler besteht ja eben darin, daß sie der ausdrückenden, namengebenden und formbildenden Kräfte der Spielgesetze so sehr Herr sind, um in ein beliebiges Spiel mit objektiven und historischen Werten auch ganz individuelle, einmalige Vorstellungen mit aufzunehmen. Ein geschätzter Botaniker hat davon einmal das drollige Wort gesagt: »Beim Glasperlenspielen muß alles möglich sein, auch daß etwa eine einzelne Pflanze sich mit Herrn Linne auf lateinisch unterhält.«
Knecht half also dem Magister bei der Analyse des vorliegenden Schemas; rasch war die halbe Stunde vergangen, andern Tages fand er sich pünktlich ein, und so kam er zwei Wochen lang täglich, um eine halbe Stunde allein mit dem Magister Ludi zu arbeiten. Schon in den ersten Tagen fiel es ihm auf, daß dieser ihn auch ganz minderwertige Eingaben, deren Unbrauchbarkeit sich dem ersten prüfenden Blick preisgab, trotzdem sorgfältig bis zu Ende kritisch durcharbeiten ließ; er wunderte sich, daß der Meister dafür Zeit habe, und allmählich begann er zu merken, daß es sich hier nicht darum handle, dem Meister Dienste zu tun und ein wenig Arbeit abzunehmen, sondern daß diese Arbeiten, obwohl an sich notwendig, doch vor allem eine Gelegenheit sein sollten, ihn selbst, den jungen Adepten, in artigster Form höchst sorgfältig zu prüfen. Es geschah etwas mit ihm, etwas Ähnliches wie einst in der Knabenzeit beim Erscheinen des Musikmeisters, er merkte es nun plötzlich auch am Verhalten seiner Kameraden, es wurde scheuer, distanzierter, manchmal ironisch-ehrerbietig; es bereitete sich etwas vor, er spürte es, nur war es weniger beglückend als damals.
Nach der letzten ihrer Sitzungen sagte der Glasperlenspielmeister mit seiner etwas hohen, höflichen Stimme in seiner sehr genau akzentuierenden Sprache ohne jede Feierlichkeit: »Es ist gut, du brauchst morgen nicht mehr zu kommen, unser Geschäft ist für den Augenblick beendet, bald werde ich dich allerdings wieder bemühen müssen. Besten Dank für deine Mitarbeit, sie ist mir von Wert gewesen. Übrigens bin ich der Meinung, du solltest jetzt deine Aufnahme in den Orden beantragen; auf Schwierigkeiten wirst du nicht stoßen, ich habe die Ordensbehörde schon verständigt. Du bist doch einverstanden?« Dann fügte er aufstehend hinzu: »Noch ein Wort nebenbei: vermutlich neigst auch du, wie die meisten guten Glasperlenspieler es in der Jugend tun, gelegentlich dazu, unser Spiel als eine Art von Instrument für das Philosophieren zu gebrauchen. Meine Worte allein werden dich davon nicht heilen, ich sage sie dennoch: Philosophieren soll man nur mit den legitimen Mitteln, denen der Philosophie. Unser Spiel aber ist weder Philosophie, noch ist es Religion, es ist eine eigene Disziplin und im Charakter am meisten der Kunst verwandt, es ist eine Kunst sui generis. Man kommt weiter, wenn man sich daran hält, als wenn man es erst nach hundert Mißerfolgen einsieht. Der Philosoph Kant – man kennt ihn wenig mehr, aber er war ein Kopf von Rang – hat vom theologischen Philosophieren gesagt, es sei »eine Zauberlaterne von Hirngespinsten.« Dazu dürfen wir unser Glasperlenspiel nicht machen.«
Josef war überrascht, und diese letzte Mahnung überhörte er beinahe vor verhaltener Erregung. Blitzschnell durchfuhr es ihn: die Worte bedeuteten das Ende seiner Freiheit, den Abschluß seiner Studienzeit, die Aufnahme in den Orden und seine baldige Einreihung in die Hierarchie. Er dankte mit tiefer Verneigung und ging alsbald zur Waldzeller Ordenskanzlei, wo er sich in der Tat schon in die Liste der neu Aufzunehmenden eingetragen fand. Er kannte, wie alle Studenten seiner Stufe, die Ordensregeln schon ziemlich genau und erinnerte sich der Bestimmung, daß jedes Ordensmitglied, das eine amtliche Stellung des höhern Ranges innehatte, zur Vollziehung der Aufnahme befugt war. So sprach er die Bitte aus, vom Musikmeister die Zeremonie vollziehen zu lassen, bekam einen Ausweis und kurzen Urlaub und reiste am nächsten Tage zu seinem Gönner und Freunde nach Monteport. Er fand den ehrwürdigen alten Herrn etwas leidend, wurde jedoch mit Freude willkommen geheißen.
»Du kommst wie gerufen,« sagte der Alte. »In Bälde hätte ich die Befugnis nicht mehr besessen, dich als jungen Bruder in den Orden aufzunehmen. Ich bin im Begriff, mein Amt niederzulegen, meine Entlassung ist schon bewilligt.«
Die Zeremonie selbst war einfach. Am folgenden Tage lud der Musikmeister, wie es die Statuten verlangten, zwei Ordensbrüder als Zeugen ein, vorher hatte Knecht einen Satz der Ordensregel als Aufgabe für eine Meditationsübung bekommen. Es war der Satz: »Beruft dich die hohe Behörde in ein Amt, so wisse: jeder Aufstieg in der Stufe der Ämter ist nicht ein Schritt in die Freiheit, sondern in die Bindung. Je höher das Amt, desto tiefer die Bindung. Je größer die Amtsgewalt, desto strenger der Dienst. Je stärker die Persönlichkeit, desto verpönter die Willkür.« Nun versammelte man sich in der Musikzelle des Magisters, derselben, in welcher Knecht einst seine erste Einführung in die Kunst des Meditierens erfahren hatte; der Meister forderte den Initianten auf, zur Feier der Stunde ein Choralvorspiel von Bach zu spielen, darauf las einer der Zeugen die gekürzte Fassung der Ordensregel vor, und der Musikmeister selbst stellte die rituellen Fragen und nahm dem jungen Freunde die Gelübde ab. Er schenkte ihm noch eine Stunde, sie saßen im Garten, und der Meister gab ihm freundliche Weisungen, in welchem Sinne er die Ordensregel sich zu eigen machen und nach ihr leben solle. »Es ist schön,« sagte er, »daß du in dem Augenblick, wo ich abtrete, in die Lücke trittst, es ist, als hätte ich einen Sohn, der künftig statt meiner seinen Mann stellen wird.« Und als er Josefs Gesicht traurig werden sah: »Nun, sei nicht betrübt, auch ich bin es nicht. Ich bin recht müde und freue mich auf die Muße, die ich noch genießen will und an deren Genuß du recht oft teilhaben wirst, so hoffe ich. Und wenn wir uns das nächste Mal wiedersehen, dann nenne mich du. Ich konnte dir das nicht anbieten, solange ich im Amt war.« Er entließ ihn mit dem herzgewinnenden Lächeln, das Josef nun schon seit zwanzig Jahren kannte.
Knecht kehrte rasch nach Waldzell zurück, er hatte nur drei Tage Urlaub von dort erhalten. Kaum war er zurück, so wurde er zum Magister Ludi gerufen, der ihn mit einer kollegialen Munterkeit empfing und zur Aufnahme in den Orden beglückwünschte. »Um uns vollends zu Kollegen und Arbeitskameraden zu machen,« fuhr er fort, »fehlt nur noch deine Einreihung an einen bestimmten Platz in unsrem Bau.« Josef erschrak ein wenig. Nun also sollte er seine Freiheit verlieren. »Ach,« sagte er schüchtern, »ich hoffe, man werde mich an irgendeinem bescheidenen Platz brauchen können. Doch hatte ich, um es Euch zu gestehen, allerdings gehofft, noch eine Weile frei studieren zu können.« Der Magister blickte ihm mit seinem klugen, leicht ironischen Lächeln fest in die Augen. »Eine Weile, sagst du, aber wie lang ist das?« Knecht lachte verlegen. »Ich weiß es wirklich nicht.« – »Das dachte ich mir,« stimmte der Meister zu, »du sprichst noch die Studentensprache und denkst noch in Studentenbegriffen, Josef Knecht, und das ist in Ordnung, aber es wird schon sehr bald nicht mehr in Ordnung sein, denn wir brauchen dich. Du weißt, daß du auch später, ja noch in den höchsten Ämtern unsrer Behörde, Urlaube zu Studienzwecken bekommen kannst, wenn du die Behörde vom Wert dieser Studien zu überzeugen vermagst; mein Vorgänger und Lehrer hat zum Beispiel noch als Magister Ludi und alter Mann ein volles Jahr Urlaub für seine Londoner Archivstudien erbeten und bekommen. Aber er bekam seinen Urlaub nicht für »eine Weile,« sondern für eine bestimmte Zahl von Monaten, Wochen, Tagen. Damit wirst du künftig rechnen müssen. Und jetzt habe ich dir einen Vorschlag zu machen; wir brauchen einen verantwortlichen Mann, den man außerhalb unsres Kreises noch nicht kennt, für eine besondere Mission.«
Es handelte sich um folgenden Auftrag: das Benediktinerkloster Mariafels, eine der ältesten Bildungsstätten des Landes, das mit Kastalien freundschaftliche Beziehungen unterhielt und namentlich seit Jahrzehnten dem Glasperlenspiel zugetan war, hatte gebeten, ihm für einige Zeit einen jungen Lehrer zur Einführung in das Spiel wie auch zur Anregung der paar fortgeschrittenern Spieler des Klosters zu überlassen, und die Wahl des Magisters war auf Josef Knecht gefallen. Darum hatte er ihn so behutsam geprüft, darum seinen Eintritt in den Orden beschleunigt.
Zwei Orden
In mancher Beziehung war es nun wieder ähnlich um ihn bestellt wie einst in seiner Lateinschülerzeit nach dem Besuch des Musikmeisters. Daß die Berufung nach Mariafels eine besondere Auszeichnung und einen tüchtigen ersten Schritt auf der Stufenleiter der Hierarchie bedeute, hätte Josef kaum gedacht; er konnte es aber, nun immerhin wacheren Auges als damals, deutlich am Verhalten und Gehaben seiner Kommilitonen ablesen. Gehörte er seit einiger Zeit innerhalb der Elite der Glasperlenspieler zum innersten Kreise, so war er jetzt durch den ungewöhnlichen Auftrag vor allen gekennzeichnet als einer, den die Oberen im Auge haben und dessen sie sich zu bedienen gedenken. Die Kameraden und Mitstrebenden von gestern zogen sich nicht gerade zurück oder wurden unfreundlich, dafür ging es in diesem hocharistokratischen Kreise viel zu manierlich zu, aber es entstand eine Distanz; der Kamerad von gestern konnte der Vorgesetzte von übermorgen sein, und solche Stufungen und Differenzierungen im gegenseitigen Verhältnis verzeichnete dieser Kreis mit den zartesten Schwingungen und brachte sie zum Ausdruck.