Die Geburt der Tragodie
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Die Geburt der Trag?die aus dem Geiste der Musik ist ein Buch von Friedrich Nietzsche, das er zuerst Anfang 1872 ver?ffentlichte. Es war das erste bedeutende Werk Nietzsches, mit dem sich der damals 27j?hrige Philologieprofessor zugleich von der wissenschaftlichen Philologie distanzierte. Auf etwa 100 Buchseiten und in 25 knappen Kapiteln entwickelt der Siebenundzwanzigj?hrige aus seinen Studien des Griechentums, seiner Liebe zur Musik und der Wertsch?tzung Schopenhauers und Wagners sein kulturelles Weltbild und pr?sentiert seine Theorien von der Entstehung und dem Niedergang der griechischen Trag?die und dar?ber hinaus allgemeine kulturphilosophische und ?sthetische Betrachtungen, die auch im 20. Jahrhundert rezipiert wurden. Es enthielt ein Vorwort an Richard Wagner, dem die Schrift auch gewidmet war und in dem Nietzsche damals den m?glichen Neubegr?nder einer der griechischen vergleichbaren Kunst und Kultur sah.
1886 lie? Nietzsche eine zweite Ausgabe unter dem Titel Die Geburt der Trag?die. Oder: Griechenthum und Pessimismus erscheinen, wobei dem Buch der „Versuch einer Selbstkritik“ vorangestellt wurde.
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Angesichts dieses praktischen Pessimismus ist Sokrates das Urbild des theoretischen Optimisten, der in dem bezeichneten Glauben an die Ergründlichkeit der Natur der Dinge dem Wissen und der Erkenntniss die Kraft einer Universalmedizin beilegt und im Irrthum das Uebel an sich begreift. In jene Gründe einzudringen und die wahre Erkenntniss vom Schein und vom Irrthum zu sondern, dünkte dem sokratischen Menschen der edelste, selbst der einzige wahrhaft menschliche Beruf zu sein: so wie jener Mechanismus der Begriffe, Urtheile und Schlüsse von Sokrates ab als höchste Bethätigung und bewunderungswürdigste Gabe der Natur über alle anderen Fähigkeiten geschätzt wurde. Selbst die erhabensten sittlichen Thaten, die Regungen des Mitleids, der Aufopferung, des Heroismus und jene schwer zu erringende Meeresstille der Seele, die der apollinische Grieche Sophrosyne nannte, wurden von Sokrates und seinen gleichgesinnten Nachfolgern bis auf die Gegenwart hin aus der Dialektik des Wissens abgeleitet und demgemäss als lehrbar bezeichnet. Wer die Lust einer sokratischen Erkenntniss an sich erfahren hat und spürt, wie diese, in immer weiteren Ringen, die ganze Welt der Erscheinungen zu umfassen sucht, der wird von da an keinen Stachel, der zum Dasein drängen könnte, heftiger empfinden als die Begierde, jene Eroberung zu vollenden und das Netz undurchdringbar fest zu spinnen. Einem so Gestimmten erscheint dann der platonische Sokrates als der Lehrer einer ganz neuen Form der» griechischen Heiterkeit «und Daseinsseligkeit, welche sich in Handlungen zu entladen sucht und diese Entladung zumeist in maeeutischen und erziehenden Einwirkungen auf edle Jünglinge, zum Zweck der endlichen Erzeugung des Genius, finden wird.
Nun aber eilt die Wissenschaft, von ihrem kräftigen Wahne angespornt, unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an denen ihr im Wesen der Logik verborgener Optimismus scheitert. Denn die Peripherie des Kreises der Wissenschaft hat unendlich viele Punkte, und während noch gar nicht abzusehen ist, wie jemals der Kreis völlig ausgemessen werden könnte, so trifft doch der edle und begabte Mensch, noch vor der Mitte seines Daseins und unvermeidlich, auf solche Grenzpunkte der Peripherie, wo er in das Unaufhellbare starrt. Wenn er hier zu seinem Schrecken sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst — da bricht die neue Form der Erkenntniss durch, die tragische Erkenntniss, die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht.
Schauen wir, mit gestärkten und an den Griechen erlabten Augen, auf die höchsten Sphären derjenigen Welt, die uns umfluthet, so gewahren wir die in Sokrates vorbildlich erscheinende Gier der unersättlichen optimistischen Erkenntniss in tragische Resignation und Kunstbedürftigkeit umgeschlagen: während allerdings dieselbe Gier, auf ihren niederen Stufen, sich kunstfeindlich äussern und vornehmlich die dionysisch-tragische Kunst innerlich verabscheuen muss, wie dies an der Bekämpfung der aeschyleischen Tragödie durch den Sokratismus beispielsweise dargestellt wurde.
Hier nun klopfen wir, bewegten Gemüthes, an die Pforten der Gegenwart und Zukunft: wird jenes» Umschlagen «zu immer neuen Configurationen des Genius und gerade des musiktreibenden Sokrates führen? Wird das über das Dasein gebreitete Netz der Kunst, sei es auch unter dem Namen der Religion oder der Wissenschaft, immer fester und zarter geflochten werden oder ist ihm bestimmt, unter dem ruhelos barbarischen Treiben und Wirbeln, das sich jetzt» die Gegenwart «nennt, in Fetzen zu reissen? — Besorgt, doch nicht trostlos stehen wir eine kleine Weile bei Seite, als die Beschaulichen, denen es erlaubt ist, Zeugen jener ungeheuren Kämpfe und Uebergänge zu sein. Ach! Es ist der Zauber dieser Kämpfe, dass, wer sie schaut, sie auch kämpfen muss!
An diesem ausgeführten historischen Beispiel haben wir klar zu machen gesucht, wie die Tragödie an dem Entschwinden des Geistes der Musik eben so gewiss zu Grunde geht, wie sie aus diesem Geiste allein geboren werden kann. Das Ungewöhnliche dieser Behauptung zu mildern und andererseits den Ursprung dieser unserer Erkenntniss aufzuzeigen, müssen wir uns jetzt freien Blicks den analogen Erscheinungen der Gegenwart gegenüber stellen; wir müssen mitten hinein in jene Kämpfe treten, welche, wie ich eben sagte, zwischen der unersättlichen optimistischen Erkenntniss und der tragischen Kunstbedürftigkeit in den höchsten Sphären unserer jetzigen Welt gekämpft werden. Ich will hierbei von allen den anderen gegnerischen Trieben absehn, die zu jeder Zeit der Kunst und gerade der Tragödie entgegenarbeiten und die auch in der Gegenwart in dem Maasse siegesgewiss um sich greifen, dass von den theatralischen Künsten z. B. allein die Posse und das Ballet in einem einigermaassen üppigen Wuchern ihre vielleicht nicht für Jedermann wohlriechenden Blüthen treiben. Ich will nur von der erlauchtesten Gegnerschaft der tragischen Weltbetrachtung reden und meine damit die in ihrem tiefsten Wesen optimistische Wissenschaft, mit ihrem Ahnherrn Sokrates an der Spitze. Alsbald sollen auch die Mächte bei Namen genannt werden, welche mir eine Wiedergeburt der Tragödie — und welche andere selige Hoffnungen für das deutsche Wesen! — zu verbürgen scheinen.
Bevor wir uns mitten in jene Kämpfe hineinstürzen, hüllen wir uns in die Rüstung unsrer bisher eroberten Erkenntnisse. Im Gegensatz zu allen denen, welche beflissen sind, die Künste aus einem einzigen Princip, als dem nothwendigen Lebensquell jedes Kunstwerks abzuleiten, halte ich den Blick auf jene beiden künstlerischen Gottheiten der Griechen, Apollo und Dionysus, geheftet und erkenne in ihnen die lebendigen und anschaulichen Repräsentanten zweier in ihrem tiefsten Wesen und ihren höchsten Zielen verschiedenen Kunstwelten. Apollo steht vor mir, als der verklärende Genius des principii individuationis, durch den allein die Erlösung im Scheine wahrhaft zu erlangen ist: während unter dem mystischen Jubelruf des Dionysus der Bann der Individuation zersprengt wird und der Weg zu den Müttern des Sein's, zu dem innersten Kern der Dinge offen liegt. Dieser ungeheuere Gegensatz, der sich zwischen der plastischen Kunst als der apollinischen und der Musik als der dionysischen Kunst klaffend aufthut, ist einem Einzigen der grossen Denker in dem Maasse offenbar geworden, dass er, selbst ohne jene Anleitung der hellenischen Göttersymbolik, der Musik einen verschiedenen Charakter und Ursprung vor allen anderen Künsten zuerkannte, weil sie nicht, wie jene alle, Abbild der Erscheinung, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst sei und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich darstelle. (Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung I, p. 310). Auf diese wichtigste Erkenntniss aller Aesthetik, mit der, in einem ernstern Sinne genommen, die Aesthetik erst beginnt, hat Richard Wagner, zur Bekräftigung ihrer ewigen Wahrheit, seinen Stempel gedrückt, wenn er im» Beethoven «feststellt, dass die Musik nach ganz anderen aesthetischen Principien als alle bildenden Künste und überhaupt nicht nach der Kategorie der Schönheit zu bemessen sei: obgleich eine irrige Aesthetik, an der Hand einer missleiteten und entarteten Kunst, von jenem in der bildnerischen Welt geltenden Begriff der Schönheit aus sich gewöhnt habe, von der Musik eine ähnliche Wirkung wie von den Werken der bildenden Kunst zu fordern, nämlich die Erregung des Gefallens an schönen Formen. Nach der Erkenntniss jenes ungeheuren Gegensatzes fühlte ich eine starke Nöthigung, mich dem Wesen der griechischen Tragödie und damit der tiefsten Offenbarung des hellenischen Genius zu nahen: denn erst jetzt glaubte ich des Zaubers mächtig zu sein, über die Phraseologie unserer üblichen Aesthetik hinaus, das Urproblem der Tragödie mir leibhaft vor die Seele stellen zu können: wodurch mir ein so befremdlich eigenthümlicher Blick in das Hellenische vergönnt war, dass es mir scheinen musste, als ob unsre so stolz sich gebärdende classisch-hellenische Wissenschaft in der Hauptsache bis jetzt nur an Schattenspielen und Aeusserlichkeiten sich zu weiden gewusst habe.