Schlaflos
Schlaflos читать книгу онлайн
Das Grauen kehrt nach Derry, Maine, zur?ck. Acht Jahre nach den in "Es" geschilderten Ereignissen, geschehen dort wieder seltsame Dinge. Ralph Roberts leidet zunehmend an Schlaflosigkeit und sieht pl?tzlich die K?pfe seiner Mitmenschen von einer bunten Aura umgeben.
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»Dies hier sind die besten Gedichte, die Robert Creeley je geschrieben hat«, sagte der alte Dor und hielt seine Ausgabe von For Love in die Höhe, und bevor einer von ihnen drauf antworten konnte, drehte er sich um und folgte wieder dem schmalen Pfad, der nach Westen durch den Wald führte.
Ralph sah Lois an. Lois erwiderte den Blick gleichermaßen ratlos. Dann zuckte sie die Achseln. »Komm, alter Junge«, sagte sie. »Wir sollten ihn besser nicht aus den Augen verlieren. Ich habe die Brotkrumen vergessen.«
Sie erklommen einen weiteren Hügel, und von dessen Kuppe konnte Ralph sehen, daß der Pfad, dem sie folgten, zu einem alten Holzfällerweg mit einem Grasstreifen in der Mitte führte. Der endete etwa fünfzig Meter weiter als Sackgasse an einer alten, zugewucherten Kiesgrube. Direkt vor dem Zugang zu der Kiesgrube wartete ein Auto im Leerlauf, ein völlig anonymer Ford neueren Baujahrs, der Ralph trotzdem bekannt vorkam. Als die Tür aufging und der Fahrer ausstieg, fügten sich plötzlich alle Teile zusammen. Selbstverständlich kannte er das Auto; er hatte es zuletzt Dienstag nachts von Lois’ Wohnzimmerfenster aus gesehen. Da hatte es schräg mitten auf der Harris Avenue gestanden, während der Fahrer im Licht der Scheinwerfer kniete… neben dem sterbenden Hund kniete, den er angefahren hatte. Joe Wyzer hörte sie kommen, hob den Kopf und winkte.
Kapitel 23
»Er hat gesagt, ich sollte fahren«, sagte Joe Wyzer, als er das Auto vorsichtig an der Zufahrt zur Kiesgrube wendete.
»Wohin?« fragte Lois. Sie saß mit Dorrance auf dem Rücksitz. Ralph saß vorne bei Joe Wyzer, der aussah, als wäre er nicht ganz sicher, wo er war oder wer er war. Ralph war ein Stück in die Höhe gestiegen - nur eine Winzigkeit -, als er dem Apotheker die Hände geschüttelt hatte, weil er einen Blick auf Wyzers Aura werfen wollte. Aura und Ballonschnur waren da und sahen völlig gesund aus… aber ihm kam das helle Gelborange leicht gedämpft vor. Ralph vermutete, daß das wahrscheinlich auf den Einfluß des alten Dor zurückzuführen war.
»Gute Frage«, sagte Wyzer. Er stieß ein kurzes, verwirrtes Lachen aus. »Ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung. Das war der merkwürdigste Tag in meinem ganzen Leben. Daran kann absolut kein Zweifel bestehen.«
Der Waldweg endete an einer zweispurigen, asphaltierten Straße. Wyzer hielt an, sah vorschriftsmäßig nach links und rechts und bog dann links ab. Sie passierten Sekunden später ein Schild mit der Aufschrift ZUR 195, und Ralph vermutete, daß Wyzer, sobald sie die Interstate erreichten, nach Norden abbiegen würde. Jetzt wußte er, wo sie waren - etwa drei Meilen südlich der Route 33. Von hier aus konnten sie in weniger als einer halben Stunde wieder in Derry sein, und Ralph hatte keine Zweifel, daß sie genau dorthin unterwegs waren.
Ralph fing unvermittelt an zu lachen. »Nun sind wir also alle glücklich versammelt«, sagte er. »Drei glückliche Schlaflose bei einer Spritztour. Möglicherweise auch vier. Willkommen in der wunderbaren Welt der Hyperrealität, Joe.«
Joe warf ihm einen scharfen Blick zu, aber dann entspannte er sich und grinste. »Ist sie das?« Und ehe Ralph oder Lois antworten konnten, sagte er: »Ja, ich nehme an, daß sie es ist.« »Hast du das Gedicht gelesen?« fragte Dorrance hinter Ralph. »Das anfängt: >Was ich auch tue, ich tue es rasch, damit ich etwas anderes tun kann<?«
Ralph drehte sich um und sah, daß Dorrance immer noch sein breites, verklärtes Lächeln sehen ließ. »Ja, das habe ich. Dor -«
»Ist das nicht ein Knüller? Es ist so gut. Stephen Dobyns erinnert mich an Hart Crane ohne das Prätentiöse. Vielleicht meine ich auch Stephen Crane, aber das glaube ich nicht. Selbstverständlich fehlt ihm das Melodische von Dylan Thomas, aber ist das wirklich so schlimm? Wahrscheinlich nicht. Die moderne Dichtung hat nichts mit Musik zu tun. Sie handelt von Mut - wer ihn hat und wer ihn nicht hat.«
»O Mann«, sagte Lois. Sie verdrehte die Augen.
»Er könnte uns wahrscheinlich alles sagen, was wir wissen müssen, wenn wir ein paar Ebenen aufsteigen würden«, sagte Ralph. »Aber das möchtest du nicht, Dor, oder? Weil die Zeit schneller vergeht, wenn man oben ist.«
»Bingo«, antwortete Dorrance. Weiter vorne konnten sie die blauen Schilder der Interstateauffahrt sehen. »Ihr werdet später aufsteigen müssen, nehme ich an, du und Lois, darum ist es wichtig, daß ihr jetzt soviel Zeit wie möglich spart. Zeit… spart.« Er machte eine seltsam sinnträchtige Geste, indem er mit dem knorrigen Daumen und dem Zeigefinger durch die Luft fuhr und sie dabei zusammenführte, als wollte er einen Durchgang andeuten, der immer schmaler wird.
Joe Wyzer schaltete den Blinker ein, bog links ab und fuhr die nördliche Auffahrt Richtung Derry hinauf.
»Wie sind Sie in das alles verwickelt worden, Joe?« fragte Ralph ihn. »Warum hat Dorrance von allen Leuten in der West Side ausgerechnet Sie als Chauffeur ausgewählt?«
Wyzer schüttelte den Kopf, und als das Auto den Highway erreicht hatte, fuhr es sofort auf die Überholspur. Ralph streckte rasch die Hand aus und nahm eine Kurskorrektur vor, wobei er sich daran erinnerte, daß Joe in letzter Zeit wahrscheinlich auch nicht viel Schlaf bekommen hatte. Glücklicherweise war der Highway zumindest so weit von der Stadt entfernt weitgehend verlassen. Das ersparte ihm immerhin eine Angst, und davon hatte er heute weiß Gott schon genug gehabt.
»Wir sind alle durch den Plan zusammengebunden«, sagte Dorrance unvermittelt. »Das ist Ka-tet, was bedeutet eines aus vielen. So, wie viele Reime ein einziges Gedicht bilden. Verstanden?«
»Nein.« Ralph und Lois und Joe sagten es gleichzeitig, ein perfekter Chor, und dann lachten sie nervös. Die drei Schlaflosen der Apokalypse, dachte Ralph. Gott steh uns bei.
»Schon gut«, sagte Dor mit seinem breiten Grinsen. »Glaubt es mir einfach. Du und Lois… Helen und ihre kleine Tochter… Bill… Faye Chapin… Trigger Vachon… ich! Alle Teil des Plans.«
»Das ist schön, Dor«, sagte Lois, »aber wohin bringt uns der Plan jetzt? Und was sollen wir tun, wenn wir dort sind?«
Dorrance beugte sich nach vorne und flüsterte Joe Wyzer etwas ins Ohr, wobei er den Mund mit einer knotigen Hand voller Altersflecke abschirmte. Dann lehnte er sich wieder zurück und schien ungeheuer zufrieden mit sich selbst zu sein.
»Er sagt, wir fahren zum Bürgerzentrum«, sagte Joe.
»Zum Bürgerzentrum!« rief Lois erschrocken aus. »Nein, das kann nicht richtig sein! Die beiden kleinen Männer haben gesagt -«
»Vergiß sie vorerst mal«, sagte Dorrance. »Vergiß nur nicht, worum es geht - Mut. Wer ihn hat, und wer nicht.«
Fast eine Meile herrschte Schweigen in Joe Wyzers Ford. Dorrance schlug sein Buch mit Gedichten von Robert Creeley auf und fing an zu lesen, wobei er die Zeilen mit dem gelben Nagel eines Fingers nachfuhr. Ralph mußte an ein Spiel denken, das sie manchmal als Kinder gespielt hatten - kein besonders schönes. Es hieß Schnepfenjagd. Man nahm sich Kinder, die jünger und wesentlich leichtgläubiger als man selbst waren, tischte ihnen ein Lügenmärchen über die sagenhafte Schnepfe auf, und dann gab man ihnen Jutesäcke und ließ sie einen ganzen Nachmittag unter Mühen und Plagen durch Wald und Flur ziehen, um nach nicht existierenden Vögeln Ausschau zu halten. Dieses Spiel nannte man auch »Such die Wildgans«, und er hatte plötzlich das unausweichliche Gefühl, daß Klotho und Lachesis es auf dem Dach des Krankenhauses mit ihnen gespielt hatten.
Er drehte sich auf dem Sitz herum und sah den alten Dor direkt an. Dorrance knickte die obere Ecke der Seite um, die er gerade las, und betrachtete Ralph mit höflichem Interesse.
»Sie haben uns gesagt, wir sollten nicht mal in die Nähe von Ed Deepneau oder Doc Nr. 3 kommen«, sagte Ralph. Er sagte es langsam und sehr deutlich. »Sie haben uns unmißverständlich klargemacht, daß wir nicht einmal daran denken sollten, weil die die beiden in dieser Situation mit außergewöhnlichen Kräften versehen worden seien und wir zerquetscht würden wie die Fliegen. Ich glaube, Lachesis hat sogar angedeutet, wenn wir versuchen würden, uns Ed oder Atropos zu nähern, würden wir vielleicht Besuch von einem der Bosse der höheren Ebenen bekommen… jemand, den Ed den Scharlachroten König nennt. Nach allem, was man so hört, nicht unbedingt ein netter Kerl.«
