Schlaflos
Schlaflos читать книгу онлайн
Das Grauen kehrt nach Derry, Maine, zur?ck. Acht Jahre nach den in "Es" geschilderten Ereignissen, geschehen dort wieder seltsame Dinge. Ralph Roberts leidet zunehmend an Schlaflosigkeit und sieht pl?tzlich die K?pfe seiner Mitmenschen von einer bunten Aura umgeben.
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»[Töte ihn nicht]
Ralph, bitte töte ihn nicht!«
Einen Augenblick konnte er die Tafel und das darauf geschriebene Zitat durch sie hindurch sehen, und dann wurden die Farben zu ihrer Kleidung und ihrem Haar und ihrer Haut, als sie völlig auf diese Ebene herunterkam. Pickering sah sie vor Entsetzen schielend an. Er schrie noch einmal, und der Schritt seiner Drillichhose färbte sich dunkel. Er streckte sich die Finger in den Mund, als wollte er den Schrei unterdrücken, den er ausstieß. »Ein Gesehenst!« kreischte er mit den Fingern im Mund. »Ein Hennurion und ein Gesehenst!«
Lois beachtete ihn gar nicht, sondern hielt den Lauf der Waffe fest. »Töte ihn nicht, Ralph! Nicht!«
Plötzlich war Ralph auch wütend auf sie. »Verstehst du denn nicht, Lois? Kapierst du nicht? Er hat genau gewußt, was er tat! Auf einer bestimmten Ebene hat er es gewußt - ich habe es in seiner gottverdammten Aura gesehen!«
»Das spielt keine Rolle«, sagte sie und hielt den Lauf der Waffe weiterhin so, daß er auf den Boden zeigte. »Es spielt keine Rolle, was er gewußt hat oder nicht. Wir dürfen nicht so vorgehen wie sie. Wir dürfen nicht sein, was sie sind.«
»Aber -«
»Ralph, ich will diesen Gewehrlauf loslassen. Er ist heiß und verbrennt mir die Finger.«
»Gut«, sagte er und ließ im selben Augenblick los wie sie. Das Gewehr fiel zwischen ihnen auf den Boden, und Pickering, der mit den Fingern im Mund und glänzenden, glasigen Augen, die er unablässig auf Lois gerichtet hielt, an der Wand hinuntergerutscht war, stürzte sich mit der Schnelligkeit einer zustoßenden Klapperschlange darauf.
Was Ralph nun tat, tat er ohne Vorbedacht und mit Sicherheit ohne Wut - er handelte rein instinktiv, griff mit beiden Händen nach Pickerings Gesicht und drückte sie ihm gegen die Wangen. Dabei erstrahlte etwas grell in seinem Verstand, das sich wie die Linse eines gewaltigen Vergrößerungsglases anfühlte. Dann raste er durch die verschiedenen Ebenen hinauf, und zwar den Bruchteil einer Sekunde lang höher, als sie jemals zuvor gewesen waren. Auf dem Höhepunkt seines Aufstiegs spürte er, wie eine gigantische Kraft in seinen Kopf einströmte und explosionsgleich seine Arme entlangraste. Als er wieder tiefer sank, hörte er dann den Knall, ein hohles, aber nachdrückliches Geräusch, das sich völlig anders anhörte als die Waffen, die draußen noch feuerten.
Pickerings Körper zuckte konvulsivisch, seine Beine strampelten so heftig, daß einer seiner Schuhe fortflog. Sein Hintern schnellte in die Höhe und sank wieder zurück. Er biß sich auf die Unterlippe, Blut spritzte ihm aus dem Mund. Einen Augenblick war Ralph überzeugt, daß er blaue Funken an den Spitzen von Pickerings wirrem Haar sehen konnte. Dann verschwanden sie, und Pickering sackte wieder gegen die Wand. Er sah Ralph und Lois mit Augen an, aus denen jegliche Sorge gewichen war.
Lois schrie. Zuerst glaubte Ralph, daß sie deswegen schrie, was er mit Pickering gemacht hatte, aber dann sah er, daß sie sich auf den Kopf schlug. Ein Stück der brennenden Tapete war dort gelandet, und ihre Haare hatten Feuer gefangen.
Er schlang einen Arm um sie, schlug selbst mit der Hand nach den Flammen und schirmte ihren Körper mit seinem ab, als ein neuerlicher Schauer von Gewehr-und Schrotflintenfeuer auf den Nordflügel herniederprasselte. Ralph hatte die freie Hand an die Wand gepreßt, und plötzlich erschien wie bei einem Zaubertrick ein Loch zwischen dem dritten und vierten Finger.
»Aufsteigen, Lois! Sofort [aufsteigen!«]
Sie stiegen gemeinsam auf, wurden vor Charlie Pickerings leeren Augen zu buntem Rauch… und verschwanden.
[»Was hast du mit ihm gemacht, Ralph? Eine Sekunde warst du verschwunden - du warst oben - und dann… was hast du getan?«]
Sie betrachtete Charlie Pickering mit fassungslosem Entsetzen. Der lehnte fast in derselben Haltung wie die toten Frauen im Nebenzimmer an der Wand. Vor Ralphs Augen bildete sich eine große rosa Speichelblase zwischen Pickerings Lippen, wuchs und platzte.
Er drehte sich zu Lois um, ergriff ihren Arm dicht oberhalb des Ellbogens und schuf ein Bild in seinem Geist: der Sicherungskasten in seinem Haus in der Harris Avenue. Hände öffneten den Kasten und stellten rasch sämtliche Sicherungen von AN auf AUS. Er war nicht sicher, ob das richtig war - alles war so schnell geschehen, daß er überhaupt nicht sicher sein konnte -, aber er fand, daß es der Wahrheit ziemlich nahekam.
Lois riß ein wenig die Augen auf, dann nickte sie. Sie sah Pickering an, dann Ralph.
[»Er hat es selbst über sich gebracht, oder? Du hast es nicht mit Absicht getan.«]
Nun nickte Ralph, dann ertönten wieder Schreie unter ihren Füßen, die er ganz sicher nicht mit den Ohren hörte.
[»Lois?«]
[»Ja, Ralph - sofort.«]
Er glitt mit den Händen an ihrem Arm hinab und nahm ihre Hände so, wie sie einander im Krankenhaus zu viert gehalten hatten, aber diesmal stiegen sie nicht auf, sondern sanken nach unten und verschwanden im Fußboden, als wären die Dielen aus Wasser. Ralph sah wieder eine Scheibe Dunkelheit an seinen Augen vorübergleiten, dann befanden sie sich im Keller und sanken langsam dem schmutzigen Betonboden entgegen. Er sah staubbedeckte Heizungsrohre im Schatten, einen mit durchsichtiger Plastikfolie abgedeckten Schneepflug, Gartengeräte an einem unscharf konturierten Zylinder, bei dem es sich wahrscheinlich um den Heißwasserboiler handelte, und Kartons an einer Backsteinwand - Suppe, Bohnen, Spaghettisauce, Kaffee, Müllbeutel, Toilettenpapier. Das alles sah wie in einer Halluzination aus, nicht ganz da, und zuerst glaubte Ralph, das wäre eine weitere Nebenwirkung, weil sie auf die nächste Ebene aufgestiegen waren. Dann stellte er fest, daß nur der Rauch daran schuld war - der Keller füllte sich rapide damit.
Achtzehn oder zwanzig Personen drängten sich an einem Ende des langen, halbdunklen Raums, überwiegend Frauen. Ralph sah auch einen etwa vier Jahre alten Jungen, der sich am Knie seiner Mutter festklammerte (in Moms Gesicht konnte man verblassende Blutergüsse sehen, die möglicherweise auf einen Unfall, wahrscheinlich aber auf Schläge zurückzuführen waren), ein Mädchen von einem oder zwei Jahren, das das Gesicht am Bauch seiner Mutter vergrub… und er sah Helen. Sie hielt Natalie in den Armen und blies dem Kind ihren Atem ins Gesicht, als könnte sie die Luft um sie herum damit frei von Rauch halten. Nat hustete und schrie mit ersticktem, verzweifelten Schluchzen. Hinter den Frauen und Kindern konnte Ralph staubige Treppenstufen erkennen, die in die Dunkelheit emporführten.
[»Ralph? Wir müssen hinunter, richtig?«]
Er nickte, erzeugte das Blinzeln in seinem Kopf, und plötzlich hustete er ebenfalls, als er beißenden Rauch in die Lungen sog. Sie nahmen unmittelbar vor der Gruppe am Fuß der Treppe Gestalt an, aber nur der kleine Junge, der die Arme um die Knie seiner Mutter schlang, reagierte. In diesem Augenblick war Ralph überzeugt, daß er das Kind schon einmal gesehen hatte, wußte aber nicht, wo das gewesen sein könnte der Tag am Ende des Sommers, als der Junge mit seiner Mutter in Strawford Park gespielt hatte, hätte Ralph im Augenblick nicht ferner liegen können.
»Schau mal, Mama!« sagte der Junge und deutete hustend auf sie. »Engel!«
Im Geiste hörte Ralph Klotho sagen: Wir sind keine Engel, Ralph, und dann drängte er sich durch den immer dichteren Rauch auf Helen zu, ohne Lois’ Hand loszulassen. Seine Augen brannten und tränten bereits, und er konnte Lois husten hören. Helen sah ihn benommen an und schien ihn nicht zu erkennen -sie sah ihn an wie an jenem Tag im August, als Ed sie so schlimm verprügelt hatte.
»Helen!«
»Ralph? Ralph?«
»Die Treppe, Helen! Wohin führt sie?«
»Was machst du hier, Ralph? Wie bist du -« Sie bekam einen Hustenanfall und krümmte sich. Natalie wäre ihr fast aus den Armen gefallen, und Lois nahm das schreiende Kind, bevor Helen es tatsächlich fallenlassen konnte.
