Bitterschokolade (Горький шоколад)
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Mirjam Pressler, geboren 1940 in Darmstadt, besuchte die Hochschule f?r Bildende K?nste in Frankfurt und lebt heute als freischaffende Autorin und ?bersetzerin in M?nchen. Im Programm Beltz & Gelberg erschienen u.a. die Romane Bitterschokolade (Oldenburger Jugendbuchpreis 1980), Kratzer im Lack, Novemberkatzen, Nickel Vogelpfeifer (Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis 1987), Wenn das Gl?ck kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen (Deutscher Jugendliteraturpreis) sowie die Biographie ?ber Anne Frank Ich sehne mich so. F?r ihr ?bersetzerwerk wurde Mirjam Pressler mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises 1994 ausgezeichnet.
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Eva begann zu schreiben. Franziska schob ihr einen Zettel zu. »Fьr Karola«, sagte sie leise. Eva schob den Zettel zurьck.
»Sei doch nicht so. Gib weiter.«
Eva schьttelte den Kopf, sie schaute nicht auf, bewegte den Kopf kaum merklich und hдtte ihn doch schьtteln wollen, deutlich sichtbar, hдtte am liebsten laut »Nein« geschrien und »Sie geht schwimmen, sie geht auf Partys, sie geht tanzen, sie erlebt immer etwas! Warum soll sie auch noch gute Noten haben?«
Franziska hatte das winzige Kopfschьtteln gesehen, sie beugte sich vor, schrдg rьber, und lieЯ den Zettel ьber Karolas Schulter fallen.
Herr Kleiner war mit ein paar Schritten da, griff
nach Franziskas Blatt und legte es auf seinen Tisch. Mit seinem roten Filzschreiber zog er quer ьber das Geschriebene einen dicken Strich.
Niemand sagte ein Wort. Franziska saЯ mit unbeweglichem Gesicht da. Sie ist selbst schuld, dachte Eva. Ganz allein ist sie schuld. Niemand hat sie gezwungen, das zu tun. Und dann dachte sie noch: Karola ist auch schuld. Warum tut sie nie etwas und will hinterher, dass andere ihr helfen?
In der Pause ging Franziska nicht neben Eva her.
6
Eva war um drei am Brunnen. Sie hatte den dunkelblauen, engen Rock angezogen, dunkle Farben strecken, und die dunkelblaue Bluse, die die Schmidhuber ihr zum Sommer genдht hatte.
Michel war noch nicht da. Eva wischte mit der flachen Hand ьber die Brunnenmauer. Der Staub stob hoch und sank langsam zurьck. Sie дrgerte sich ьber die grauen Wolken auf ihrem Rock, und beim Versuch, sie wegzuwischen, rieb sie den hellen Staub erst recht in das dunkelblaue Leinen. Die Steine waren heiЯ. Lange hielt sie es nicht aus, da in der Sonne, auffдllige Statue auf dem Brunnenrand. Sie setzte sich unter einen Baum.
Er kommt sicher nicht, dachte sie. Warum sollte er auch kommen? Er kann ganz andere Mдdchen haben, schlanke, schцne. Sie pflьckte ein Gдnseblьmchen und drehte es langsam zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her.
Warum warte ich? Ich weiЯ doch, dass er nicht kommt. Auf Karola habe ich auch so gewartet, damals, und ich stand an der StraЯenecke, fast eine Stunde, bis ich dann heimging. Und am nдchsten Tag war Karola ьberrascht, hatte es einfach vergessen, nur so. Tut mir Leid, Eva, bei uns war plцtzlich so ein Trubel. Meine Tante ist gekommen, ja, die. Du weiЯt schon.
Und Eva hatte gewusst, verstanden, genickt, gelдchelt.
Michel war immer noch nicht da. Natьrlich nicht. Er wьrde nicht kommen. Nach einer Stunde wьrde Eva traurig und enttдuscht nach Hause gehen, wьrde sich auf ihr Bett legen und weinen. Dann wьrde sie sich das Gesicht mit kaltem Wasser waschen, vielleicht ein Stьck Schokolade essen und lдcheln.
Schon viel frьher hatte sie sich Schokolade in den Mund gesteckt und gelдchelt. Komisch, dass ihr das jetzt einfiel. Das war gewesen, als Erika weggezogen war, Erika, die Freundin, mit der sie schon zusammen im Kindergarten gewesen war. In der zweiten Klasse waren sie gewesen, als Erikas Eltern wegzogen und ihr Erika wegnahmen. Die Mutter hatte Eva in den Arm genommen und ihr eine Tafel Schokolade gegeben. »Was soll man da machen?«, hatte sie die Schmidhuber gefragt. »Sie ist halt so sensibel.« Und die Schmidhuber hatte genickt und »Ja, ja« gesagt. Und Eva hatte die Schokolade gegessen, hatte sie im Mund zergehen lassen, herrliche, stumpfe SьЯe, hatte sie geschluckt und geschluckt, die SьЯe, hatte die SьЯe und die Trдnen geschluckt und hatte in die Beruhigung ihres Mundes und ihres Bauches hineingelдchelt. »Siehst du, Marianne«, hatte die Schmidhuber gesagt, »es gibt doch keinen Kummer, den man nicht mit etwas Gu
tem ein bisschen versьЯen kцnnte.« Eva hatte gelдchelt.
Und nie hatte sie Erikas Briefe beantwortet.
Sie zupfte dem kleinen Gдnseblьmchen ein Blьtenblatt aus: Er liebt mich, ein zweites: von Herzen, ein drittes: mit Schmerzen, ein viertes: ein wenig, ein fьnftes: nein, gar nicht. Es war nicht leicht, dem kleinen Gдnseblьmchen die noch kleineren Blьtenblдtter wirklich einzeln auszureiЯen. Als Eva schon ьber die Hдlfte war, er liebt mich, von Herzen, mit Schmerzen, ein wenig, nein, gar nicht, versuchte sie, mit den Augen die weiЯen Blдttchen abzutasten, herauszufinden, wie es enden wьrde. Das Gдnseblьmchen sah sehr nackt aus, sehr zerrupft. Wьtend warf Eva es ins Gras.
Wie lange saЯ sie schon da? Sie hatte keine Uhr. Der Rasen war ausgedorrt, trocken, graugrьne Grasbьschel, kurzstoppelig gemдht, nur ab und zu ein winziges Gдnseblьmchen.
»Hallo, Eva.«
»Hallo, Michel.«
»Ich komme zu spдt.«
»Ja.«
»Ich dachte, du wьrdest mich sowieso versetzen.«
»Wieso sollte ich das?«
»Ich weiЯ nicht. Halt so.«
Er trug dasselbe Hemd wie gestern, schwarz, die Zipfel waren so zusammengeknotet, dass man einen Streifen seines braunen Bauches sehen konnte. Er setzte sich neben sie. »Wo hast du dein Schwimmzeug?«
»Ich mag nicht ins Schwimmbad gehen.«
»Das ist gut. Ich habe nдmlich immer noch kein Geld.«
Er sah mьrrisch aus, schlecht gelaunt.
»Ist was?«, fragte sie.
»Was soll sein?« Er zupfte Grashalme aus, riss sie in kleine Stьckchen, graugrьne, staubige Halme. Er hielt den Kopf gesenkt und schaute auf seine rupfenden Finger, seine braunen, langen Haare fielen nach vorn, verdeckten sein Gesicht, so dass Eva nur noch seine Nasenspitze sehen konnte. Die Worte saЯen ihr im Hals, all die lockeren, lustigen Worte, die sie hatte sagen wollen, die Witze, die sie gern gemacht hдtte, das Lachen, das sie gern gelacht hдtte, alles war ihr im Hals stecken geblieben, ballte sich zu einem dicken KloЯ und lieЯ sie schwer atmen. Es war so still. Sie bemьhte sich, leise tief durchzuatmen, sie wollte nicht keuchen wie ein Walross. Keuchten Walrosse ьberhaupt?
Warum sagte er nichts? Warum sagte sie nichts? War es das, auf das sie gewartet hatte?
Plцtzlich sprang Michel auf. »Komm, wir gehen zum Fluss. Wir nehmen die StraЯenbahn, dann geht's ganz schnell.«
Endhaltestelle der Linie sieben. Sie waren schwarzgefahren. Michel hatte kein Geld, er hatte auch nicht gewollt, dass Eva eine Karte kaufte. »Schade um das schцne Geld. Dafьr kriegen wir eine Cola.«
Sie liefen durch die Stadtrandsiedlung, ein Haus wie das andere, lange Reihen gleicher Hдuser, gleicher Gдrten, gleicher Zдune. »Wenn da einer blau nach Hause kommt, findet er seine eigene Tьr nicht mehr und landet bei der Nachbarin im Schlafzimmer«, sagte Michel und lachte.
Eva, unsicher, betroffen, lachte mit.
»Stell dir vor, bei der Nachbarin im Schlafzimmer! Und morgens merkt er erst, dass er nicht mit seiner Alten gepennt hat.« Michels Lachen klang falsch. Sie gingen schweigend weiter, an einem unkrautьberwucherten Platz vorbei, Mьllabladen-verboten-Schild ьber zerbrochenen Bierflaschen und leeren Цlsardi-nendosen. Zerbeulte Konservenbьchsen, ein alter Gummistiefel. Gelb.
Den Hang hinunter ging Michel vor. Breitbeinig, den linken Arm ausgestreckt, stьtzte er Eva, die keinen Halt fand mit ihren glatten Sandalen, sich nicht richtig bewegen konnte in ihrem engen, blauen Rock, der nicht mehr sehr blau war, und die unbeholfen, unglьcklich ьber ihre eigene Ungeschicklichkeit, hinter Michel den Hang hinunterrutschte. Dann waren sie endlich unten am Fluss. Es war nicht eigentlich der Fluss, es war ein kleiner Seitenarm, seichter Wasserlauf zwischen Unkraut, an einer Stelle Holunderbьsche, die weiЯen Blьtendolden verbreiteten einen scharfen Geruch. Eva, atemlos von der Anstrengung, keuchte laut. Wie ein Walross, dachte sie. Nun keuche ich doch wie ein Walross.
Michel schaute sie vorsichtig an. »Gefдllt es dir hier?«
Gefallen? Im Unkraut? Am Kieshang mit diesen spдrlichen, mageren Hecken?
»Ginster«, sagte Eva. »Ich mag Ginster sehr gern.«
»Ich habe frьher mal in dieser Gegend gewohnt. Mein Bruder und ich haben hier manchmal ein Nachbarmдdchen hergeschleppt.« Er wurde rot. »Zum Doktorspielen.«