Das Parfum
Das Parfum читать книгу онлайн
Von Jean-Baptiste Grenouille, dem finsteren Helden, sei nur verraten, da? er am 17. Juli 1738 in Paris, in einer stinkigen Fischbude geboren wird. Die Ammen, denen das Kerlchen an die Brust gelegt wird, halten es nur ein paar Tage mit ihm aus: Er sei zu gierig, au?erdem vom Teufel besessen, wof?r es untr?gliche Indizien gebe: den fehlenden Duft, den unverwechselbaren Geruch, den S?uglinge auszustr?men pflegen. Eine wundersame Eigenschaft, zu der sich alsbald andere dazugesellen… Wir beginnen zu ahnen, was es mit Grenouille auf sich haben k?nnte, fangen an, ihn leibhaftig vor uns zu sehen, folgen ihm in gemessenem Abstand auf seinen Wegen durch die dunkelsten Gassen von Paris, schauen zu, wie er dem Parfumeur Baldini zur Hand geht – und m?ssen uns eingestehen, die Phantasie, den Sprachwitz, den nicht anderes als ungeheuerlich zu nennenden erz?hlerischen Elan S?skinds weit untersch?tzt zu haben: so ?berraschend geht es zu in seinem Buch, so m?rchenhaft mitunter und zugleich so f?rchterlich angsteinfl??end.
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Anfang März packte er seine Sachen und zog davon, heimlich, eines Tags in aller Früh, kaum dass die Tore geöffnet waren, bekleidet mit einem unscheinbaren braunen Rock, den er am Vortag auf dem Altkleidermarkt erworben hatte, und einem schäbigen Hut, der sein Gesicht halb verdeckte. Niemand erkannte ihn, niemand sah oder bemerkte ihn, denn er hatte an diesem Tag mit Vorbedacht auf sein Parfum verzichtet. Und als der Marquis gegen Mittag Nachforschungen anstellen ließ, schworen die Wachen Stein und Bein, sie hätten zwar alle möglichen Leute die Stadt verlassen gesehen, nicht aber jenen bekannten Höhlenmenschen, der ihnen ganz bestimmt aufgefallen wäre. Der Marquis ließ daraufhin verbreiten, Grenouille habe Montpellier mit seinem Einverständnis verlassen, um in Familienangelegenheiten nach Paris zu reisen. Insgeheim ärgerte er sich allerdings fürchterlich, denn er hatte vorgehabt, mit Grenouille eine Tournee durch das ganze Königreich zu unternehmen, um Anhänger für seine Fluidaltheorie zu werben.
Nach einiger Zeit beruhigte er sich wieder, denn sein Ruhm verbreitete sich auch ohne Tournee, fast ohne sein Zutun. Es erschienen lange Artikel über das fluidum letale Taillade im >Journal des Sçavans< und sogar im >Courier de l'Europe<, und von weit her kamen letalverseuchte Patienten, um sich von ihm heilen zu lassen. Im Sommer 1764 gründete er die erste >Loge des vitalen Fluidums<, die in Montpellier 120 Mitglieder zählte und Zweigstellen in Marseille und Lyon einrichtete. Dann beschloss er, den Sprung nach Paris zu wagen, um von dort die ganze zivilisierte Welt für seine Lehre zu erobern, wollte vorher aber noch zur propagandistischen Unterstützung seines Feldzugs eine fluidale Großtat vollbringen, welche die Heilung des Höhlenmenschen sowie alle anderen Experimente in den Schatten stellte, und ließ sich Anfang Dezember von einer Gruppe unerschrockener Adepten zu einer Expedition auf den Pic du Canigou begleiten, der auf demselben Meridian wie Paris lag und für den höchsten Berg der Pyrenäen galt. Der an der Schwelle zum Greisenalter stehende Mann wollte sich auf den 2800 Meter hohen Gipfel tragen lassen und sich dort drei Wochen lang der schiersten, frischesten Vitalluft aussetzen, um, wie er verkündigte, pünktlich am Heiligen Abend als kregler Jüngling von zwanzig Jahren wieder herabzusteigen.
Die Adepten gaben schon kurz hinter Vernet, der letzten menschlichen Siedlung am Fuße des fürchterlichen Gebirges, auf. Den Marquis jedoch focht nichts an. In der Eiseskälte seine Kleider von sich werfend und laute Jauchzer ausstoßend, begann er den Aufstieg allein. Das letzte, was von ihm gesehen wurde, war seine Silhouette, die mit ekstatisch zum Himmel erhobenen Händen und singend im Schneesturm verschwand.
Am Heiligen Abend warteten die Jünger vergebens auf die Wiederkunft des Marquis de la Taillade-Espinasse. Er kam weder als Greis noch als Jüngling. Auch im Frühsommer des nächsten Jahres, als sich die Wagemutigsten auf die Suche machten und den noch immer verschneiten Gipfel des Pic du Canigou erklommen, fand sich nichts mehr von ihm, kein Kleidungsstück, kein Körperteil, kein Knöchelchen.
Seiner Lehre tat dies freilich keinen Abbruch. Im Gegenteil. Es ging bald die Sage, er habe sich auf der Spitze des Berges mit dem ewigen Vitalfluidum vermählt, sich in es und es in sich aufgelöst und schwebe fortan unsichtbar, aber in ewiger Jugend über den Gipfeln der Pyrenäen, und wer hinaufsteige zu ihm, der werde seiner teilhaftig und bliebe ein Jahr lang von Krankheit und vom Prozess des Alterns verschont. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wurde Taillades Fluidaltheorie an manchem medizinischen Lehrstuhl verfochten und in vielen okkulten Vereinen therapeutisch angewendet. Und noch heute gibt es zu beiden Seiten der Pyrenäen, namentlich in Perpignan und Figueras, geheime Tailladistenlogen, die sich einmal im Jahr treffen, um den Pic du Camgou zu besteigen.
Dort zünden sie ein großes Feuer an, vorgeblich aus Anlass der Sonnenwende und zu Ehren des heiligen Johannes – in Wirklichkeit aber, um ihrem Meister Taillade-Espinasse und seinem großen Fluidum zu huldigen und um das ewige Leben zu erlangen.