Das Glasperlenspiel
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Das Glasperlenspiel ist Hermann Hesses intellektuelle Antwort auf die Barbarei des Hitlerfaschismus. Mit der Utopie seiner p?dagogischen Provinz Kastalien entwirft der Autor dar?ber hinaus eine Gegenwelt zu Diktatur und Verbrechen des Dritten Reichs und stellt die Frage nach den erzieherisch-bildenden M?glichkeiten des Geistes. Die in sich geschlossene geistige Welt der Zucht und der Askese in Kastalien findet h?chsten Ausdruck und Vollendung in der Kunst des Glasperlenspiels: einem Spiel, bei dem »s?mtliche Inhalte und Werte unserer Kultur« miteinander kommunizieren. Der Roman basiert auf der Idee einer ?berzeitlichen Biografie des Glasperlenspielmeisters Josef Knecht, der in einigen Wiedergeburten gro?e Epochen der Menschheitsgeschichte miterlebt.
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Wir haben Knechts Worte, deren viele ähnliche von Schülern aufgezeichnet und erhalten sind, wiedergegeben, weil sie seine Auffassung vom Amt, wenigstens in den ersten Jahren seines Magistrats, so klar beleuchten. Daß er ein hervorragender Lehrer war (anfänglich übrigens zu seiner eigenen Verwunderung), zeigt uns schon die auffallend große Zahl der auf uns gekommenen Nachschriften seiner Vorträge. Es gehörte zu den Entdeckungen und Überraschungen, die sein hohes Amt ihm schon von Anfang an brachte, daß das Lehren ihm so viel Freude machte und so leicht gelang. Er hätte es nicht gedacht, denn bisher hatte er nach einer Lehrtätigkeit sich eigentlich nie gesehnt. Wohl hatte er, wie jeder aus der Elite, schon als älterer Student je und je Lehraufträge für kurze Dauer erhalten, hatte vertretungsweise in den Glasperlenspielkursen verschiedener Stufen unterrichtet, noch häufiger den Teilnehmern solcher Kurse als Korrepetitor gedient, doch waren ihm damals die Freiheit des Studierens und die einsame Konzentration auf seine jeweiligen Studiengebiete so lieb und wichtig gewesen, daß er, obwohl schon damals als Lehrer geschickt und beliebt, diese Aufträge eher als unerwünschte Störungen betrachtet hatte. Schließlich hatte er ja auch im Benediktinerstift Kurse gehalten, aber die waren freilich von geringer Bedeutung an sich und von ebenso geringer für ihn gewesen; an jenem Orte hatte für ihn das Lernen bei Pater Jakobus und der Umgang mit ihm alle andere Arbeit zur Nebensache werden lassen. Ein guter Schüler zu sein, zu lernen, aufzunehmen und sich zu bilden, war damals sein oberstes Streben gewesen. Nun war aus dem Schüler ein Lehrer geworden, und als Lehrer vor allem hatte er die große Aufgabe seiner ersten Amtszeit bewältigt, den Kampf um die Autorität und um die genaue Identifizierung von Person und Amt. Es waren zwei Entdeckungen, die er dabei machte: die Freude, welche es bereitet, geistig Erworbenes in andere Geister zu verpflanzen und es dabei zu ganz neuen Erscheinungsformen und Ausstrahlungen sich wandeln zu sehen, also die Freude am Lehren, und dann das Kämpfen mit den Persönlichkeiten der Studenten und Schüler, das Erwerben und Ausüben der Autorität und Führerschaft, also die Freude am Erziehen. Er hat beides nie getrennt, und während seines Magistrates hat er nicht nur eine große Zahl guter und bester Glasperlenspieler herangebildet, sondern auch einen großen Teil seiner Schüler durch Beispiel und Vorbild, durch Mahnung, durch seine strenge Art von Geduld, durch die Kraft seines Wesens als Menschen und Charakter zum Besten entwickelt, dessen sie fähig waren.
Dabei hat er, wenn uns hier ein Vorwegnehmen erlaubt ist, eine charakteristische Erfahrung gemacht. Im Anfang seiner Amtstätigkeit hatte er es ausschließlich mit der Elite zu tun, mit der obersten Schicht seiner Schülerschaft, mit Studenten und Repetenten, deren manche ihm an Alter gleich und deren jeder schon ein durchgebildeter Spieler war. Erst allmählich, als er der Elite sicher war, begann er ihr langsam und vorsichtig von Jahr zu Jahr etwas mehr an Kraft und an Zeit zu entziehen, bis er am Ende sie zeitweilig beinahe ganz seinen Vertrauensmännern und Mitarbeitern überlassen konnte. Der Vorgang dauerte Jahre, und von einem Jahr zum andern drang Knecht in den Vorträgen, Kursen und Übungen, die er leitete, zu immer ferneren, jüngeren Schichten der Schülerschaft zurück, zuletzt hat er sogar, was selten ein Magister Ludi tat, mehrere Male persönlich die Anfängerkurse für die Jüngsten, für Schüler also und noch nicht Studenten, abgehalten. Und dabei fand er, je jünger und unwissender seine Schüler waren, desto mehr Freude am Lehren. Manchmal bereitete es ihm im Laufe dieser Jahre geradezu Unbehagen und kostete ihn eine spürbare Anstrengung, von diesen Jungen und Jüngsten zu den Studenten oder gar zur Elite zurückzukehren. Ja zuweilen empfand er den Wunsch, noch weiter zurückzugehen und sich an noch jüngeren Schülern zu versuchen, an solchen, für die es noch keine Kurse und kein Glasperlenspiel gab; er konnte sich etwa wünschen, eine Weile in Eschholz oder an einer der andern Vorbereitungsschulen kleine Knaben im Latein, im Singen oder in der Algebra zu unterrichten, wo es weit weniger geistvoll zuging als selbst im allerersten Anfängerkurs des Glasperlenspiels, wo er es aber mit noch offeneren, bildsameren, erziehbareren Schülern zu tun haben würde, wo Unterrichten und Erziehen noch mehr und inniger eins waren. In den letzten beiden Jahren seines Magisteramtes hat er sich zweimal in Briefen als »Schulmeister« bezeichnet, daran erinnernd, daß der Ausdruck Magister Ludi, der seit Generationen in Kastalien nur noch »Meister des Spieles« bedeutete, ursprünglich einfach das Prädikat des Schulmeisters war.
Es war nun allerdings von einer Erfüllung solcher Schulmeisterwünsche nicht die Rede, sie waren Träume, so wie jemand am graukalten Wintertag sich einen Hochsommerhimmel träumen mag. Für Knecht war kein Weg mehr offen, seine Pflichten waren durch das Amt bestimmt, aber da das Amt die Art, wie er diese Pflichten erfüllen wollte, sehr weitgehend seiner eigenen Verantwortung überließ, hat er im Lauf der Jahre, anfangs wohl ganz unbewußt, allmählich sein Hauptinteresse mehr und mehr dem Erziehen und den frühesten ihm erreichbaren Altersstufen zugewandt. Je älter er wurde, desto mehr zog die Jugend ihn an. So dürfen wir heute wenigstens sagen. Damals hätte ein Kritiker Mühe gehabt, irgendwo in seiner Amtsführung etwas wie Liebhaberei und Willkür aufzuspüren. Auch zwang ihn ja das Amt, immer und immer wieder zur Elite zurückzukehren, und auch in Zeiten, da er Seminare und Archive beinahe ganz seinen Helfern und seinem »Schatten« überließ, hielten langdauernde Arbeiten wie zum Beispiel die jährlichen Spielwettbewerbe oder das Vorbereiten des öffentlichen Jahresspiels ihn in lebendiger und täglicher Fühlung mit der Elite. Zu seinem Freunde Fritz hat er einmal scherzend gesagt: »Es hat Fürsten gegeben, die sich zeitlebens mit einer unglücklichen Liebe zu ihren Untertanen geplagt haben. Ihr Herz zog sie zu den Bauern, den Schäfern, den Handwerkern, den Schullehrern und Schulkindern, aber selten bekamen sie etwas von ihnen zu sehen, sie waren immer von ihren Ministern und Offizieren umgeben, sie standen wie eine Mauer zwischen ihnen und dem Volk. So geht es einem Magister auch. Er möchte zu den Menschen und sieht nur Kollegen, er möchte zu den Schülern und Kindern und sieht nur Studierte und Leute der Elite.«
Aber wir haben weit vorgegriffen und kehren in die Zeit von Knechts ersten Amtsjahren zurück. Nach der Gewinnung des wünschenswerten Verhältnisses zur Elite war es vor allem die Beamtenschaft des Archivs, deren er sich als freundlicher, aber wachsamer Herr zu versichern hatte, auch die Kanzlei war in der Struktur ihres Amtsganges zu studieren und einzuordnen, und immer wieder kam eine Menge Briefpost, und immer wieder riefen Sitzungen oder Rundschreiben der Gesamtbehörde ihn zu Pflichten und Aufgaben, deren Verständnis und richtige Einordnung zu finden dem Neuling nicht leicht fiel. Es handelte sich dabei nicht selten um Fragen, in welchen die Fakultäten der Provinz interessiert und gegeneinander zur Eifersucht geneigt waren, Kompetenzfragen etwa, und nur allmählich, aber mit wachsender Bewunderung, lernte er die ebenso geheime wie mächtige Funktion des Ordens kennen, der lebendigen Seele des kastalischen Staates und des wachsamen Hüters ihrer Verfassung.
So waren strenge und überfüllte Monate hingegangen, ohne daß in Josef Knechts Gedanken Raum für Tegularius gewesen wäre, außer daß er, es geschah halb instinktiv, dem Freunde mancherlei Arbeit auftrug, um ihn vor zu viel Muße zu bewahren. Fritz hatte seinen Kameraden verloren, es war über Nacht ein Herr und höchster Vorgesetzter aus ihm geworden, zu dem er keinen privaten Zutritt mehr hatte, dem er gehorchen und den er mit »Ihr« und »Ehrwürdiger« anreden mußte. Doch nahm er, was der Magister über ihn verfügte, als Fürsorge und Zeichen persönlichen Gedenkens auf, sah sich auch, der etwas launische Einzelgänger, teils durch die Erhöhung des Freundes und die höchst angeregte Stimmung der ganzen Elite mit in Aufregung versetzt, teils durch jene ihm aufgetragenen Arbeiten in einer ihm zuträglichen Weise aktiviert; jedenfalls ertrug er die völlig geänderte Lage besser, als er selbst seit jenem Augenblick gedacht hätte, in dem ihn Knecht auf die Nachricht hin, daß er zum Glasperlenspielmeister bestimmt sei, von sich geschickt hatte. Auch war er sowohl klug wie mitfühlend genug, die ungeheure Anstrengung und Kraftprobe teils zu sehen, teils wenigstens zu ahnen, welche sein Freund in dieser Zeit zu bestehen hatte; er sah ihn im Feuer stehen und ausgeglüht werden, und was etwa Empfindsames dabei zu erleben war, erlebte er vermutlich lebhafter als der Geprüfte selbst. Tegularius gab sich bei den Aufträgen, die er vom Magister zugewiesen bekam, die größte Mühe, und wenn er seine eigene Schwäche und seine Nichteignung zu Amt und Verantwortung je ernstlich bedauert und als Mangel empfunden hat, so war es damals, wo er sich sehr gewünscht hat, als Gehilfe, als Beamter, als »Schatten« dem Bewunderten zur Seite zu stehen und Hilfe zu leisten.
Die Buchenwälder über Waldzell begannen sich schon zu bräunen, da nahm Knecht eines Tages ein kleines Buch mit sich in den Magistergarten neben seiner Wohnung, diesen kleinen hübschen Garten, den der verstorbene Meister Thomas so sehr geschätzt und mit horazischer Liebhaberhand oft selbst gepflegt hatte, den Garten, welchen Knecht, wie alle Schüler und Studenten, einst als eine ehrwürdige Stätte, als den geheiligten Erholungs- und Sammlungsort des Meisters sich wie ein zauberhaftes Museneiland und Tuskulum vorgestellt und den er, seit er selbst Magister und Herr des Gartens war, so selten betreten und noch kaum je in Muße genossen hatte. Auch jetzt kam er nur für eine Viertelstunde, nach Tisch, und gönnte sich nur ein paar Schritte sorglosen Auf- und Abwandeins zwischen den hohen Sträuchern und Stauden, unter denen sein Vorgänger manche immergrüne Pflanzen des Südens angesiedelt hatte. Dann trug er, denn es war im Schatten schon kühl, einen leichten Rohrstuhl auf einen sonnenbeschienenen Platz, setzte sich und schlug das mitgebrachte Büchlein auf. Es war der »Taschenkalender für den Magister Ludi,« den vor etwa siebzig oder achtzig Jahren der damalige Glasperlenspieler Ludwig Wassermaler verfaßt hatte und der seither von jedem seiner Nachfolger mit einigen zeitgemäßen Korrekturen, Streichungen oder Ergänzungen, versehen worden war. Der Kalender war als ein Vademecum für die Magister, namentlich die noch unerfahrenen in ihren ersten Amtsjahren, gedacht und führte denselben durch das ganze Arbeits- und Amtsjahr hindurch von Woche zu Woche die wichtigsten ihrer Pflichten vor Augen, manchmal nur mit Stichworten, manchmal ausführlicher beschreibend und mit persönlichen Ratschlägen versehen. Knecht suchte das Blatt für die laufende Woche und las es aufmerksam durch. Er fand nichts Überraschendes oder besonders Dringliches, am Schluß des Abschnittes aber standen die Zeilen: »Beginne deine Gedanken allmählich auf das künftige Jahresspiel zu lenken. Es scheint früh, ja es könnte dir verfrüht scheinen. Dennoch rate ich: Falls du nicht schon einen Plan für das Spiel im Kopfe hast, so laß von jetzt an keine Woche, mindestens aber keinen Monat vergehen, ohne deine Gedanken dem künftigen Spiele zuzuwenden. Notiere deine Einfälle, nimm dir für eine freie halbe Stunde je und je das Schema eines klassischen Spieles mit, auch auf etwaige Amtsreisen. Bereite dich vor, nicht durch Erzwingenwollen von guten Einfällen, sondern dadurch, daß du von jetzt an des öfteren daran denkst, daß in den kommenden Monaten eine schöne und festliche Aufgabe deiner wartet, zu der du dich immer wieder stärken, sammeln, stimmen sollst.«