Das Glasperlenspiel
Das Glasperlenspiel читать книгу онлайн
Das Glasperlenspiel ist Hermann Hesses intellektuelle Antwort auf die Barbarei des Hitlerfaschismus. Mit der Utopie seiner p?dagogischen Provinz Kastalien entwirft der Autor dar?ber hinaus eine Gegenwelt zu Diktatur und Verbrechen des Dritten Reichs und stellt die Frage nach den erzieherisch-bildenden M?glichkeiten des Geistes. Die in sich geschlossene geistige Welt der Zucht und der Askese in Kastalien findet h?chsten Ausdruck und Vollendung in der Kunst des Glasperlenspiels: einem Spiel, bei dem »s?mtliche Inhalte und Werte unserer Kultur« miteinander kommunizieren. Der Roman basiert auf der Idee einer ?berzeitlichen Biografie des Glasperlenspielmeisters Josef Knecht, der in einigen Wiedergeburten gro?e Epochen der Menschheitsgeschichte miterlebt.
Внимание! Книга может содержать контент только для совершеннолетних. Для несовершеннолетних чтение данного контента СТРОГО ЗАПРЕЩЕНО! Если в книге присутствует наличие пропаганды ЛГБТ и другого, запрещенного контента - просьба написать на почту [email protected] для удаления материала
Die meisten magistralen Amtsfunktionen waren für den neuen Magister wohlbekannte und vertraute Tätigkeiten, denen er in dienender oder assistierender Eigenschaft schon sich gewidmet hatte; die wichtigsten waren die Spielkurse, von den Schüler- und Anfänger-, den Ferien- und Gastkursen bis zu den Übungen, Vorlesungen und Seminaren für die Elite. Diesen Tätigkeiten, mit Ausnahme der letzten, konnte jeder neu ernannte Magister sich ohne weiteres gewachsen wissen, während ihm jene neuen Funktionen, welche zu üben er niemals Gelegenheit gehabt hatte, weit mehr Sorge und Mühe machen mußten. Auch Josef ging es so. Am liebsten hätte er vorerst sich mit ungeteiltem Eifer eben diesen neuen Pflichten zugewandt, den eigentlich magistralen, der Mitarbeit im obersten Erziehungsrat, der Zusammenarbeit zwischen Magisterrat und Ordensleitung, der Vertretung des Glasperlenspiels und des Vicus Lusorum in der Gesamtbehörde. Er brannte darauf, sich mit diesen neuen Tätigkeiten vertraut zu machen und ihnen den drohenden Aspekt des Unbekannten zu nehmen, am liebsten hätte er sich vorerst einige Wochen beiseite gesetzt und dem genauesten Studium der Verfassung, der Formalitäten, der Sitzungsprotokolle und so weiter hingegeben. Für Auskunft und Belehrung auf diesem Gebiet stand ihm, das wußte er, außer Herrn Dubois der erfahrenste Kenner und Meister der magistralen Formen und Traditionen zur Verfügung, nämlich der Sprecher der Ordensleitung, welcher zwar selbst nicht Magister war, also eigentlich im Range unter den Meistern stand, der aber in allen Sitzungen der Behörde die Regie führte und der traditionellen Ordnung zu ihrem Recht verhalf gleich dem Oberzeremonienmeister eines Fürstenhofes. Wie gern hätte er diesen klugen, erfahrenen, in seiner glänzenden Höflichkeit undurchsichtigen Mann, dessen Hände ihn eben erst feierlich mit dem Ornat bekleidet hatten, um ein Privatissimum gebeten, hätte jener nur seinen Wohnsitz in Waldzell gehabt statt in dem immerhin eine halbe Tagreise entfernten Hirsland! Wie gern hätte er sich für eine Weile nach Monteport geflüchtet und sich vom Alt-Musikmeister in diese Dinge einführen lassen! Allein daran war nicht zu denken, solche private und studentische Wünsche durfte ein Magister nicht hegen. Vielmehr mußte er sich für die erste Zeit mit intensiver, ausschließlicher Sorgfalt und Hingabe gerade jenen Funktionen widmen, von denen er der Meinung gewesen war, sie würden ihm kaum Mühe machen. Was er während Bertrams Festspiel, wo er einen von der eigenen Gemeinschaft, der Elite, im Stich gelassenen Magister gleichsam im luftleeren Raum hatte kämpfen und ersticken sehen, was er damals geahnt und was die Worte des Alten von Monteport am Tag der Einkleidung bestätigt hatten, das zeigte ihm jetzt jeder Augenblick seines Amtstages und jeder Moment einer Besinnung über seine Lage: er mußte sich vor allem andern der Elite und Repetentenschaft, den obersten Stufen des Studiums, den Seminarübungen und dem ganz persönlichen Umgang mit den Repetenten widmen. Er konnte das Archiv den Archivaren, die Anfängerkurse den vorhandenen Lehrern, die Post den Sekretären überlassen, es würde dabei nicht viel versäumt werden. Die Elite aber durfte er keinen Augenblick sich selbst überlassen, er mußte sich ihr widmen, sich ihr aufdrängen und unentbehrlich machen, sie vom Wert seiner Fähigkeiten, von der Reinheit seines Willens überzeugen, mußte sie erobern, um sie werben, sie gewinnen, sich mit jedem ihrer Kandidaten messen, der dazu Lust zeigte, und es war kein Mangel an solchen Kandidaten. Dabei kam manches ihm zu Hilfe, was er früher als wenig förderlich angesehen hatte, namentlich seine lange Abwesenheit von Waldzell und der Elite, wo er jetzt beinahe wieder ein Homo novus war. Sogar seine Freundschaft mit Tegularius erwies sich als dienlich. Denn Tegularius, der geistreich-kränkliche Outsider, kam offensichtlich für eine streberische Laufbahn so wenig in Betracht und schien selbst so wenig Ehrgeiz zu haben, daß eine etwaige Bevorzugung durch den neuen Magister keine Benachteiligung von Mitstrebenden bedeutet hätte. Das Meiste und Beste mußte Knecht immerhin selber tun, um diese oberste, lebendigste, unruhigste und empfindlichste Schicht der Spielwelt erforschend zu durchdringen und sich ihrer wie der Reiter eines edlen Pferdes zu bemächtigen. Denn in jedem kastalischen Institut, nicht nur beim Glasperlenspiel, stellt die Elite der fertig ausgebildeten, aber noch frei studierenden, noch nicht in den Dienst der Erziehungsbehörde oder des Ordens eingestellten Kandidaten, die man auch Repetenten heißt, den kostbarsten Bestand und recht eigentlich die Reserve, die Blüte und Zukunft dar, und überall, nicht nur im Spielerdorf, ist diese hochgemute Auslese der Nachzucht neuen Lehrern und Vorgesetzten gegenüber durchaus auf Sprödigkeit und Kritik gestimmt, erweist einem neuen Oberhaupt gerade knapp das Mindestmaß an Höflichkeit und Unterordnung und muß durchaus persönlich und mit vollem Einsatz des Werbenden gewonnen, überzeugt und überwunden werden, ehe sie ihn anerkennt und sich seiner Führung willig ergibt.
Knecht stellte sich der Aufgabe ohne Bangen, war über ihre Schwierigkeit aber doch verwundert, und während er sie löste und das für ihn höchst anstrengende, ja aufreibende Spiel gewann, traten jene anderen Pflichten und Aufgaben, an die er eher mit Sorge zu denken geneigt gewesen war, von selber zurück und schienen weniger Aufmerksamkeit zu fordern; er gestand einem Kollegen, daß er die erste Vollsitzung der Behörde, zu welcher er mit Eilpost eintraf und nach deren Beendigung er mit Eilpost zurückreiste, beinah wie im Traume mitgemacht und ihr im Nachhinein keinen Gedanken mehr habe widmen können, so völlig habe die für ihn aktuelle Arbeit ihn in Anspruch genommen; ja sogar während der Beratung selbst, obwohl deren Thema ihn interessierte und obwohl er ihr als seinem ersten Auftreten in der Behörde mit einiger Unruhe entgegengesehen hatte, ertappte er sich mehrmals darauf, daß er mit seinen Gedanken nicht hier unter den Kollegen und bei den Debatten, sondern in Waldzell und in jenem blau getünchten Raum des Archivs war, wo er zur Zeit jeden dritten Tag ein dialektisches Seminar mit nur fünf Teilnehmern hielt und wo jede Stunde eine größere Anspannung und Kraftausgabe forderte als der ganze übrige Amtstag, welcher doch auch nicht leicht war und dem er sich nirgends entziehen konnte, denn wie der Alt-Musikmeister ihm angekündigt hatte, war ihm von der Behörde für diese erste Zeit ein Einpeitscher und Kontrolleur beigegeben worden, der seinen Tageslauf von Stunde zu Stunde überwachen, ihn bei der Zeiteinteilung beraten und ihn vor Einseitigkeiten sowohl wie vor völliger Überanstrengung bewahren mußte. Knecht war ihm dankbar, und noch mehr war er es dem Abgesandten der Ordensleitung, einem Meister der Meditationskunst von großem Ruf; er hieß Alexander. Dieser sorgte dafür, daß der bis zur äußersten Anspannung Arbeitende täglich dreimal der »kleinen« oder »kurzen« Übung nachkam und daß Ablauf und Minutendauer für jede solche Übung genauestens eingehalten wurden. Mit den beiden, dem Einpauker und dem kontemplativen Ordensmann, hatte er täglich, dicht vor der Abendmeditation, seinen Amtstag rückblickend zu rekapitulieren, Fortschritte und Niederlagen festzustellen, sich »den Puls zu fühlen,« wie die Meditationslehrer es nennen, das heißt, sich selbst, seine augenblickliche Lage, sein Befinden, die Verteilung seiner Kräfte, seine Hoffnungen und Sorgen zu erkennen und zu messen, sich selbst und sein Tagewerk objektiv zu sehen und nichts Ungelöstes in die Nacht und den andern Tag mit hinüberzunehmen.
Während die Repetenten mit teils sympathisierendem, teils kämpferischem Interesse der gewaltigen Arbeit ihres Magisters zusahen und keine Gelegenheit versäumten, ihm improvisierte kleine Kraft-, Gedulds- und Schlagfertigkeitsproben aufzuerlegen, seine Arbeit bald zu befeuern, bald zu hemmen bestrebt, war um Tegularius eine fatale Leere entstanden. Daß Knecht jetzt keine Aufmerksamkeit, keine Zeit, keine Gedanken, keine Teilnahme für ihn übrig haben könne, begriff er zwar, vermochte aber sich gegen die vollkommene Vergessenheit, in die er für den Freund plötzlich versunken schien, doch nicht hart und gleichgültig genug zu machen, um so weniger, als er nicht nur von einem Tag auf den andern seinen Freund verloren zu haben schien, sondern auch noch von seinen Kameraden einiges Mißtrauen erfuhr und kaum angesprochen wurde. Was nicht verwunderlich war, denn wenn Tegularius auch den Ehrgeizigen nicht ernstlich im Wege stehen konnte, so war er doch eben Partei und hatte bei dem jungen Magister seinen Stein im Brett. Dies alles konnte Knecht sich wohl denken, und es gehörte mit zu seinen augenblicklichen Aufgaben, mit allem andern Persönlichen und Privaten auch diese Freundschaft für eine Weile auszuschalten. Er tat dies aber, wie er dem Freunde später gestand, nicht eigentlich wissend und willentlich, sondern er hatte den Freund ganz einfach vergessen, er hatte sich so ganz zum Werkzeug gemacht, daß so private Dinge wie Freundschaft ins Unmögliche entschwanden, und wenn irgendwo, wie zum Beispiel in jenem Seminar zu fünfen, Fritzens Gestalt und Gesicht vor ihm erschien, so war es nicht Tegularius, war nicht ein Freund, ein Bekannter, eine Person, sondern es war einer von der Elite, ein Student, vielmehr Kandidat und Repetent, ein Stück seiner Arbeit und Aufgabe, ein Soldat in der Truppe, die zu schulen und mit der zu siegen sein Ziel war. Fritz hatte einen Schauder gespürt, als er zum erstenmal vom Magister so angeredet wurde; er hatte an dessen Blick gespürt, daß diese Fremde und Objektivität durchaus nicht gespielt, sondern echt und unheimlich sei und daß der Mann vor ihm, der ihn mit dieser sachlichen Höflichkeit bei großer geistiger Wachheit behandelte, nicht mehr sein Freund Josef sei, sondern nur Lehrer und Prüfer, nur Glasperlenspielmeister, vom Ernst und von der Strenge seines Amtes umgeben und abgeschlossen wie von einer glänzenden Glasur, die im Feuer um ihn gegossen und erstarrt wäre. Übrigens passierte mit Tegularius in diesen heißen Wochen ein kleiner Zwischenfall. Schlaflos und innerlich strapaziert durch das Erlebte, ließ er sich im kleinen Seminar eine Unartigkeit, eine kleine Explosion zuschulden kommen, nicht gegen den Magister, sondern gegen einen Kollegen, der ihm durch seinen spöttischen Ton auf die Nerven ging. Knecht bemerkte es wohl, bemerkte auch den überreizten Zustand des Delinquenten, er wies ihn nur durch eine stumme Fingerbewegung zurecht, schickte ihm aber nachher seinen Medirationsmeister, um etwas Seelsorge an dem Schwierigen zu üben. Diese Fürsorge empfand Tegularius nach wochenlanger Entbehrung als erstes Anzeichen wieder erwachender Freundschaft, denn er nahm sie als eine ihm persönlich geltende Aufmerksamkeit und ließ sich willig in die Kur nehmen. In Wirklichkeit hatte Knecht kaum wahrgenommen, wem er diese Fürsorge erweise, er hatte lediglich als Magister gehandelt: er hatte bei einem Repetenten Gereiztheit und Mangel an Haltung bemerkt und hatte erzieherisch darauf reagiert, ohne einen Moment diesen Repetenten als Person anzusehen und zu sich selbst in Beziehung zu bringen. Als ihn, um Monate später, der Freund an diese Szene erinnerte und ihm versicherte, wie sehr er ihn durch dies Zeichen des Wohlwollens erfreut und getröstet habe, schwieg Josef Knecht, der die Sache völlig vergessen hatte, und ließ den Irrtum auf sich beruhen.