Der Steppenwolf
Der Steppenwolf читать книгу онлайн
»Es war einmal einer namens Harry, genannt der Steppenwolf. Er ging auf zwei Beinen, trug Kleider und war ein Mensch, aber eigentlich war er doch eben ein Steppenwolf.« Der erstmals 1927 erschienene Roman Der Steppenwolf vor allem begr?ndet den Weltruf Hermann Hesses und ist dasjenige Buch, das die internationale Renaissance seines Autors in den sechziger und siebziger Jahren ausgel?st hat.
Der Steppenwolf ist die Geschichte von Harry Haller, der sich im Zustand v?lliger Entfremdung von seiner b?rgerlichen Welt »eine geniale, eine unbegrenzte furchtbare Leidensf?higkeit herangebildet« hat. Die innere Zerrissenheit Hallers spiegelt die Erscheinungen der modernen Massen- und Industriegesellschaft wider und reflektiert kultur- und zivilisationskritische Str?mungen des 20. Jahrhunderts.
Внимание! Книга может содержать контент только для совершеннолетних. Для несовершеннолетних чтение данного контента СТРОГО ЗАПРЕЩЕНО! Если в книге присутствует наличие пропаганды ЛГБТ и другого, запрещенного контента - просьба написать на почту [email protected] для удаления материала
»Ja, das sind wir. Der Teufel ist der Geist, und seine unglücklichen Kinder sind wir. Wir sind aus der Natur herausgefallen und hängen im Leeren. Aber nun fällt mir etwas ein: in dem Steppenwolftraktat, von dem ich dir erzählt habe, steht etwas darüber, daß es nur eine Einbildung von Harry sei, wenn er glaubt, eine oder zwei Seelen zu haben, aus einer oder zwei Persönlichkeiten zu bestehen. Jeder Mensch bestehe aus zehn, aus hundert, aus tausend Seelen.«
»Das gefällt mir sehr«, rief Hermine. »Bei dir zum Beispiel ist das Geistige sehr hoch ausgebildet, und dafür bist du in allerlei kleinen Lebenskünsten sehr zurückgeblieben. Der Denker Harry ist hundert Jahre alt, aber der Tänzer ist kaum erst einen halben Tag alt. Den wollen wir jetzt weiterbringen und alle seine kleinen Brüderlein, die ebenso klein und dumm und unerwachsen sind wie er.«
Lächelnd sah sie mich an. Und fragte leise, mit veränderter Stimme:
»Und wie hat denn Maria dir gefallen?«
»Maria? Wer ist das?«
»Das ist die, mit der du getanzt hast. Ein schönes Mädchen, ein sehr schönes Mädchen. Du warst ein wenig in sie verliebt, soviel ich sehen konnte.«
»Kennst du sie denn?«
»O ja, wir kennen uns recht gut. Ist dir viel an ihr gelegen?«
»Sie gefiel mir, und ich war froh, daß sie mit meinem Tanzen so nachsichtig war.«
»Na, wenn das alles ist! Du solltest ihr ein wenig den Hof machen, Harry. Sie ist sehr hübsch und tanzt so gut, und verliebt bist du ja auch schon in sie. Ich glaube, du wirst Erfolg haben.«
»Ach, das ist nicht mein Ehrgeiz.«
»Jetzt lügst du ein wenig. Ich weiß ja, du hast irgendwo in der Welt eine Geliebte sitzen und siehst sie alle halbe Jahre einmal, um dich dann mit ihr zu streiten. Es ist sehr hübsch von dir, wenn du dieser merkwürdigen Freundin treu bleiben willst, aber erlaube mir, das nicht so ganz ernst zu nehmen! Ich habe dich überhaupt im Verdacht, daß du die Liebe furchtbar ernst nimmst. Das magst du tun, du magst auf deine ideale Art lieben, soviel du willst, es ist deine Sache, ich habe dafür nicht zu sorgen. Wofür ich aber zu sorgen habe, das ist, daß du die kleinen, leichten Künste und Spiele im Leben etwas besser erlernst, auf diesem Gebiet bin ich deine Lehrerin und werde dir eine bessere Lehrerin sein, als deine ideale Geliebte es war, darauf verlasse dich! Du hast es recht nötig, wieder einmal bei einem hübschen Mädchen zu schlafen, Steppenwolf.«
»Hermine«, rief ich gepeinigt, »sieh mich doch an, ich bin ein alter Mann.«
»Ein kleiner Junge bist du. Und ebenso, wie du zu bequem warst, um tanzen zu lernen, bis es beinahe zu spät war, so warst du auch zu bequem, um lieben zu lernen. Ideal und tragisch lieben, o Freund, das kannst du gewiß vortrefflich, ich zweifle nicht daran, alle Achtung davor! Du wirst nun lernen, auch ein wenig gewöhnlich und menschlich zu lieben. Der Anfang ist ja gemacht, man kann dich schon bald an einen Ball gehen lassen. Nun, den Boston mußt du erst noch lernen, damit beginnen wir morgen. Ich komme um drei Uhr. Wie hat dir übrigens die Musik hier gefallen?«
»Ausgezeichnet.«
»Siehst du, das ist auch ein Fortschritt, du hast zugelernt. Bisher hast du alle diese Tanz- und Jazzmusik nicht leiden können, sie war dir zu wenig ernsthaft und tief, und nun hast du gesehen, daß man sie gar nicht ernst zu nehmen braucht, daß sie aber sehr nett und entzückend sein kann. Übrigens, ohne Pablo wäre die ganze Kapelle nichts. Er führt sie, er heizt ein.«
Wie das Grammophon die Luft von asketischer Geistigkeit in meinem Studierzimmer verdarb, wie die amerikanischen Tänze fremd und störend, ja vernichtend in meine gepflegte Musikwelt drangen, so drang von allen Seiten Neues, Gefürchtetes, Auflösendes in mein bisher so scharf umrissenes und so streng abgeschlossenes Leben. Der Steppenwolftraktat und Hermine hatten recht mit ihrer Lehre von den tausend Seelen, täglich zeigten sich neben all den alten noch einige neue Seelen in mir, machten Ansprüche, machten Lärm, und ich sah nun deutlich wie ein Bild vor mir den Wahn meiner bisherigen Persönlichkeit. Die paar Fähigkeiten und Übungen, in denen ich zufällig stark war, hatte ich allein gelten lassen und hatte das Bild eines Harry gemalt und das Leben eines Harry gelebt, der eigentlich nichts war als ein sehr zart ausgebildeter Spezialist für Dichtung, Musik und Philosophie – den ganzen Rest meiner Person, das ganze übrige Chaos von Fähigkeiten, Trieben, Strebungen hatte ich als lästig empfunden und mit dem Namen Steppenwolf belegt.
Indessen war diese Bekehrung von meinem Wahn, diese Auflösung meiner Persönlichkeit keineswegs nur ein angenehmes und amüsantes Abenteuer, sie war im Gegenteil oft bitter schmerzhaft, oft nahzu unerträglich. Das Grammophon klang oft wahrhaft teuflisch inmitten dieser Umgebung, wo alles auf so andre Töne gestimmt war. Und manchmal, wenn ich in irgendeinem Moderestaurant zwischen allen den eleganten Lebemann- und Hochstaplerfiguren meine Onesteps tanzte, kam ich mir wie ein Verräter an allem vor, was mir je im Leben ehrwürdig und heilig gewesen war. Hätte Hermine mich nur acht Tage allein gelassen, so wäre ich diesen mühsamen und lächerlichen Lebemannsversuchen alsbald wieder entflohen. Aber Hermine war immer da; obwohl ich sie nicht jeden Tag sah, war ich doch stets von ihr gesehen, geleitet, bewacht, begutachtet – auch alle meine wütenden Auflehnungs- und Fluchtgedanken las sie mir lächelnd vom Gesicht.
Mit der fortschreitenden Zerstörung dessen, was ich früher meine Persönlichkeit genannt hatte, begann ich auch zu verstehen, warum ich trotz aller Verzweiflung den Tod so entsetzlich hatte fürchten müssen, und begann zu merken, daß auch diese scheußliche und schmähliche Todesfurcht ein Stück meiner alten, bürgerlichen, verlogenen Existenz war. Dieser bisherige Herr Haller, der begabte Autor, der Kenner Mozarts und Goethes, der Verfasser lesenswerter Betrachtungen über die Metaphysik der Kunst, über Genie und Tragik, über Menschlichkeit, der melancholische Einsiedler in seiner mit Büchern überfüllten Klause, wurde Zug für Zug der Selbstkritik ausgeliefert und bewährte sich nirgends. Dieser begabte und interessante Herr Haller hatte zwar Vernunft und Menschlichkeit gepredigt und gegen die Roheit des Krieges protestiert, er hatte sich aber während des Krieges nicht an die Wand stellen und erschießen lassen, wie es die eigentliche Konsequenz seines Denkens gewesen wäre, sondern hatte irgendeine Anpassung gefunden, eine äußerst anständige und edle natürlich, aber doch eben einen Kompromiß. Er war ferner ein Gegner der Macht und Ausbeutung, aber er hatte auf der Bank mehrere Wertpapiere von industriellen Unternehmungen liegen, deren Zinsen er ohne alle Gewissensbisse verzehrte. Und so stand es mit allem. Harry Haller hatte sich zwar wundervoll als Idealist und Weltverächter, als wehmütiger Einsiedler und als grollender Prophet verkleidet, im Grunde aber war er ein Bourgeois, fand ein Leben wie das Hermines verwerflich, ärgerte sich über die im Restaurant vertanen Nächte, über die ebendort vergeudeten Taler, hatte ein schlechtes Gewissen und sehnte sich keineswegs nach seiner Befreiung und Vollendung, sondern sehnte sich im Gegenteil heftig zurück in die bequemen Zeiten, als seine geistigen Spielereien ihm noch Spaß gemacht und Ruhm eingebracht hatten. Genau so sehnten sich die von ihm verachteten und verhöhnten Zeitungsleser nach der idealen Zeit vor dem Kriege zurück, weil das bequemer war, als aus dem Erlittenen zu lernen. Pfui Teufel, er war zum Erbrechen, dieser Herr Haller! Und dennoch klammerte ich mich an ihn oder an seine schon sich auflösende Larve, an sein Kokettieren mit dem Geistigen, an seine Bürgerfurcht vor dem Ungeordneten und Zufälligen (wozu auch der Tod gehörte) und verglich den werdenden neuen Harry, diesen etwas schüchternen und komischen Dilettanten der Tanzsäle, höhnisch und voll Neid mit jenem einstigen, verlogen-idealen Harrybild, an welchem er inzwischen alle fatalen Züge entdeckt hatte, die ihn damals an des Professors Goethe-Radierung so sehr gestört hatten. Er selbst, der alte Harry, war genau solch ein bürgerlich idealisierter Goethe gewesen, so ein Geistesheld mit allzu edlem Blick, von Erhabenheit, Geist und Menschlichkeit strahlend wie von Brillantine und beinahe über den eigenen Seelenadel gerührt! Teufel, dies holde Bild hatte nun allerdings arge Löcher bekommen, kläglich war der ideale Herr Haller demontiert worden. Wie ein von Straßenräubern geplünderter Würdenträger in zerfetzten Hosen sah er aus, der klug daran getan hätte, jetzt die Rolle des Abgerissenen zu lernen, der aber sein Lumpen trug, als hingen noch Orden dran, und die verlorene Würde weinerlich weiter prätendierte.
Immer wieder traf ich mit dem Musikanten Pablo zusammen, und mein Urteil über ihn mußte schon darum revidiert werden, weil Hermine ihn so gern hatte und seine Gesellschaft eifrig suchte. Ich hatte Pablo in meinem Gedächtnis als eine hübsche Null verzeichnet, einen kleinen, etwas eitlen Beau, ein vergnügtes und problemloses Kind, das mit Freude in seine Jahrmarktstrompete faucht und mit Lob und Schokolade leicht zu regieren ist. Aber Pablo fragte nicht nach meinen Urteilen, sie waren ihm ebenso gleichgültig wie meine musikalischen Theorien. Höflich und freundlich hörte er mich an immerzu lächelnd, gab jedoch nie eine wirkliche Antwort. Dagegen schien ich trotzdem sein Interesse erregt zu haben, er gab sich sichtlich Mühe, mir zu gefallen und mir Wohlwollen zu zeigen. Als ich bei einem dieser ergebnislosen Gespräche einmal gereizt und beinahe grob wurde, sah er mir bestürzt und traurig ins Gesicht, nahm meine linke Hand und streichelte sie, und bot mir aus einer kleinen vergoldeten Dose etwas zum Schnupfen an, das werde mir gut tun. Ich fragte Hermine mit einem Blick, sie nickte ja, und ich nahm und schnupfte. In der Tat wurde ich in kurzem frischer und munterer, wahrscheinlich war etwas Kokain in dem Pulver gewesen. Hermine erzählte mir, daß Pablo viele solche Mittel habe, die er auf geheimen Wegen erhalte, die er zuweilen Freunden vorsetze und in deren Mischung und Dosierung er ein Meister sei: Mittel zum Betäuben von Schmerzen, zum Schlafen, zur Erzeugung schöner Träume, zum Lustigmachen, zum Verliebtmachen.
Einmal traf ich ihn auf der Straße, am Kai, und er schloß sich mir ohne weiteres an. Diesmal gelang es mir endlich, ihn zum Sprechen zu bringen.
»Herr Pablo«, sagte ich zu ihm, der mit einem dünnen schwarz und silbernen Stöckchen spielte, »Sie sind ein Freund von Hermine, dies ist der Grund, weshalb ich mich für Sie interessiere. Aber Sie machen mir, das muß ich sagen, die Unterhaltung nicht eben leicht. Ich habe mehrmals den Versuch gemacht, mit Ihnen über Musik zu sprechen – es hätte mich interessiert, Ihre Meinung, Ihren Widerspruch, Ihr Urteil zu hören; aber Sie haben es verschmäht, mir auch nur die geringste Antwort zu geben.«