Der Wanderer und sein Schatten
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Natur und Wissenschaft. — Ganz wie in der Natur werden auch in der Wissenschaft die schlechteren unfruchtbareren Gegenden zuerst gut angebaut — weil hierfür eben die Mittel der angehenden Wissenschaft ungefähr ausreichen. Die Bearbeitung der fruchtbarsten Gegenden setzt eine sorgsam entwickelte, ungeheure Kraft von Methoden, gewonnene Einzel-Resultate und eine organisierte Schar von Arbeitern, gut geschulten Arbeitern, voraus;- dies alles findet sich erst spät zusammen. — Die Ungeduld und der Ehrgeiz greifen oft zu früh nach diesen fruchtbarsten Gegenden; aber die Ergebnisse sind dann gleich Null. In der Natur würden sich solche Versuche dadurch rächen, daß die Ansiedler verhungerten.
Einfachleben. — Eine einfache Lebensweise ist jetzt schwer: dazu tut viel mehr Nachdenken und Erfindungsgabe not, als selbst sehr gescheite Leute haben. Der Ehrlichste von ihnen wird vielleicht noch sagen:»Ich habe nicht die Zeit, darüber so lange nachzudenken. Die einfache Lebensweise ist für mich ein zu vornehmes Ziel; ich will warten, bis Weisere, als ich bin, sie gefunden haben.»
Spitzen und Spitzchen. — Die geringe Fruchtbarkeit, die häufige Ehelosigkeit und überhaupt die geschlechtliche Kühle der höchsten und kultiviertesten Geister, sowie der zu ihnen gehörenden Klassen, ist wesentlich in der Ökonomie der Menschheit: die Vernunft erkennt und macht Gebrauch davon, daß bei einem äußersten Punkte der geistigen Entwicklung die Gefahr einer nervösen Nachkommenschaft sehr groß ist: solche Menschen sind Spitzen der Menschheit — sie dürfen nicht weiter in Spitzchen auslaufen.
Keine Natur macht Sprünge. — Wenn der Mensch sich noch so stark fortentwickelt und aus einem Gegensatz in den andern überzuspringen scheint: bei genaueren Beobachtungen wird man doch die Verzahnungen auffinden, wo das neue Gebäude aus dem älteren herauswächst. Dies ist die Aufgabe des Biographen: er muß nach dem Grundsatze über das Leben denken, daß keine Natur Sprünge macht.
Zwar reinlich. — Wer sich mit reingewaschenen Lumpen kleidet, kleidet sich zwar reinlich, aber doch lumpenhaft.
Der Einsame spricht. — Man erntet als Lohn für vielen Überdruß, Mißmut, Langeweile — wie dies alles eine Einsamkeit ohne Freunde, Bücher, Pflichten, Leidenschaften mit sich bringen muß — jene Viertelstunden tiefster Einkehr in sich und die Natur. Wer sich völlig gegen die Langeweile verschanzt, verschanzt sich auch gegen sich selber: den kräftigsten Labetrunk aus dem eigenen innersten Born wird er nie zu trinken bekommen.
Falsche Berühmtheit. — Ich hasse jene angeblichen Naturschönheiten, welche im Grunde nur durch das Wissen, namentlich das geographische, etwas bedeuten, an sich aber dem schönheitsdurstigen Sinne dürftig bleiben: zum Beispiel die Ansicht des Mont blanc von Genf aus — etwas Unbedeutendes ohne die zu Hilfe eilende Gehirnfreude des Wissens; die näheren Berge dort sind alle schöner und ausdrucksvoller — aber» lange nicht so hoch«, wie jenes absurde Wissen, zur Abschwächung, hinzufügt. Das Auge widerspricht dabei dem Wissen: wie soll es sich im Widersprechen wahrhaft freuen können!
Vergnügungs-Reisende. — Sie steigen wie Tiere den Berg hinauf, dumm und schwitzend; man hatte ihnen zu sagen vergessen, daß es unterwegs schöne Aussichten gebe.
Zu viel und zu wenig. — Die Menschen durchleben jetzt alle zu viel und durchdenken zu wenig: sie haben Heißhunger und Kolik zugleich und werden deshalb immer magerer, so viel sie auch essen. — Wer jetzt sagt:»ich habe nichts erlebt«— ist ein Dummkopf.
Ende und Ziel. — Nicht jedes Ende ist das Ziel. Das Ende der Melodie ist nicht deren Ziel; aber trotzdem: hat die Melodie ihr Ende nicht erreicht, so hat sie auch ihr Ziel nicht erreicht. Ein Gleichnis.
Neutralität der großen Natur. — Die Neutralität der großen Natur (in Berg, Meer, Wald und Wüste) gefällt, aber nur eine kurze Zeit: nachher werden wir ungeduldig.»Wollen denn diese Dinge gar nichts zu uns sagen? Sind wir für sie nicht da?«Es entsteht das Gefühl eines crimen laesae majestatis humanae.
Die Absichten vergessen. — Man vergißt über der Reise gemeinhin deren Ziel. Fast jeder Beruf wird als Mittel zu einem Zwecke gewählt und begonnen, aber als letzter Zweck fortgeführt. Das Vergessen der Absichten ist die häufigste Dummheit, die gemacht wird.
Sonnenbahn der Idee. — Wenn eine Idee am Horizonte eben aufgeht, ist gewöhnlich die Temperatur der Seele dabei sehr kalt. Erst allmählich entwickelt die Idee ihre Wärme, und am heißesten ist diese (das heißt sie tut ihre größten Wirkungen), wenn der Glaube an die Idee schon wieder im Sinken ist.
Wodurch man alle wider sich hätte. — Wenn jetzt jemand zu sagen wagte:»wer nicht für mich ist, der ist wider mich«, so hätte er sofort alle wider sich. — Diese Empfindung macht unserm Zeitalter Ehre.
Sich des Reichtums schämen. — Unsere Zeit verträgt nur eine einzige Gattung von Reichen, solche, welche sich ihres Reichtums schämen . Hört man von jemandem» er ist sehr reich«, so hat man dabei sofort eine ähnliche Empfindung wie beim Anblick einer widerlich anschwellenden Krankheit, einer Fett- oder Wassersucht: man muß sich gewaltsam seiner Humanität erinnern, um mit einem solchen Reichen so verkehren zu können, daß er von unserm Ekelgefühle nichts merkt. Sobald er aber gar sich etwas auf seinen Reichtum zugute tut, so mischt sich zu unserm Gefühle die fast mitleidige Verwunderung über einen so hohen Grad der menschlichen Unvernunft: so daß man die Hände gen Himmel erheben und rufen möchte» armer Entstellter, Überbürdeter, hundertfach Gefesselter, dem jede Stunde etwas Unangenehmes bringt oder bringen kann , in dessen Gliedern jedes Ereignis von zwanzig Völkern nachzuckt, wie magst du uns glauben machen, daß du dich in deinem Zustande wohlfühlst! Wenn du irgendwo öffentlich erscheinst, so wissen wir, daß es eine Art Spießrutenlaufens ist, unter lauter Blicken, welche für dich nur kalten Haß oder Zudringlichkeit oder schweigsamen Spott haben. Dein Erwerben mag leichter sein als das der anderen: aber es ist ein überflüssiges Erwerben, welches wenig Freude macht, und dein Bewahren alles Erworbenen ist jedenfalls jetzt ein mühseligeres Ding als irgend ein mühseliges Erwerben. Du leidest fort — während , denn du verlierst fortwährend. Was nützt es dir, daß man dir immer neues künstliches Blut zuführt: deshalb tun doch die Schröpfköpfe nicht weniger weh, die auf deinem Nacken sitzen, beständig sitzen! — Aber, um nicht unbillig zu werden, es ist schwer, vielleicht unmöglich für dich, nicht reich zu sein: du mußt bewahren, mußt neu erwerben, der vererbte Hang deiner Natur ist das Joch über dir — aber deshalb täusche uns nicht und schäme dich ehrlich und sichtlich des Joches, das du trägst: da du ja im Grunde deiner Seele müde und unwillig bist, es zu tragen. Diese Scham schändet nicht.»
Ausschweifung in der Anmaßung. — Es gibt so anmaßende Menschen, daß sie eine Größe, welche sie öffentlich bewundern, nicht anders zu loben wissen, als indem sie dieselbe als Vorstufe und Brücke, die zu ihnen führt, darstellen.
Auf dem Boden der Schmach. — Wer den Menschen eine Vorstellung nehmen will, tut sich gewöhnlich nicht genug damit, sie zu widerlegen und den unlogischen Wurm, der in ihr sitzt, herauszuziehen: vielmehr wirft er, nachdem der Wurm getötet ist, die ganze Frucht auch noch in den Kot , um sie den Menschen unansehnlich zu machen und Ekel vor ihr einzuflößen. So glaubt er das Mittel gefunden zu haben, die bei widerlegten Vorstellungen so gewöhnliche» Wiederauferstehung am dritten Tage «unmöglich zu machen. — Er irrt sich, denn gerade auf dem Boden der Schmach , inmitten des Unflates, treibt der Fruchtkern der Vorstellung schnell neue Keime. — Also: ja nicht verhöhnen, beschmutzen, was man endgültig beseitigen will, sondern es achtungsvoll auf Eis legen , immer und immer wieder, in Anbetracht, daß Vorstellungen ein sehr zähes Leben haben. Hier muß man nach der Maxime handeln:»Eine Widerlegung ist keine Widerlegung.»
Los der Moralität. — Da die Gebundenheit der Geister abnimmt, ist sicherlich die Moralität (die vererbte, überlieferte, instinkthafte Handlungsweise nach moralischen Gefühlen ) ebenfalls in Abnahme: nicht aber die einzelnen Tugenden, Mäßigkeit, Gerechtigkeit, Seelenruhe, — denn die größte Freiheit des bewußten Geistes führt einmal schon unwillkürlich zu ihnen hin und rät sie sodann auch als nützlich an.
Der Fanatiker des Mißtrauens und seine Bürgschaft. — Der Alte : Du willst das Ungeheure wagen und die Menschen im Großen belehren? Wo ist deine Bürgschaft? — Pyrrhon : Hier ist sie: ich will die Menschen vor mir selber warnen, ich will alle Fehler meiner Natur öffentlich bekennen und meine Übereilungen, Widersprüche und Dummheiten vor aller Augen bloßstellen. Hört nicht auf mich, will ich ihnen sagen, bis ich nicht eurem Geringsten gleich geworden bin, und noch geringer bin, als er; sträubt euch gegen die Wahrheit, so lange ihr nur könnt, aus Ekel vor dem, der ihr Fürsprecher ist. Ich werde euer Verführer und Betrüger sein, wenn ihr noch den mindesten Glanz von Achtbarkeit und Würde an mir wahrnehmt. — Der Alte : Du versprichst zuviel, du kannst diese Last nicht tragen — Pyrrhon — So will ich auch dies den Menschen sagen, daß ich zu schwach bin und nicht halten kann, was ich verspreche. Je größer meine Unwürdigkeit, um so mehr werden sie der Wahrheit mißtrauen, wenn sie durch meinen Mund geht. — Der Alte : Willst du denn der Lehrer des Mißtrauens gegen die Wahrheit sein? — Pyrrhon : Des Mißtrauens, wie es noch nie in der Welt war, des Mißtrauens gegen Alles und Jedes. Es ist der einzige Weg zur Wahrheit. Das rechte Auge darf dem linken nicht trauen, und Licht wird eine Zeitlang Finsternis heißen müssen: dies ist der Weg, den ihr gehen müßt. Glaubt nicht, daß er euch zu Fruchtbäumen und schönen Weiden führe. Kleine harte Körner werdet ihr auf ihm finden, — das sind die Wahrheiten: Jahrzehntelang werdet ihr die Lügen händevoll verschlingen müssen, um nicht Hungers zu sterben, ob ihr schon wisset, daß es Lügen sind. Jene Körner aber werden gesäet und eingegraben, und vielleicht, vielleicht gibt es einmal einen Tag der Ernte: niemand darf ihn versprechen , er sei denn ein Fanatiker. — Der Alte : Freund, Freund! Auch deine Worte sind die des Fanatikers! — Pyrrhon : Du hast recht! ich will gegen alle Worte mißtrauisch sein. — Der Alte : Dann wirst du schweigen müssen. — Pyrrhon : Ich werde den Menschen sagen, daß ich schweigen muß und daß sie meinem Schweigen mißtrauen sollen. — Der Alte : Du trittst also von deinem Unternehmen zurück? — Pyrrhon : Vielmehr- du hast mir eben das Tor gezeigt, durch welches ich gehen muß. — Der Alte : Ich weiß nicht — : verstehen wir uns jetzt noch völlig? — Pyrrhon : Wahrscheinlich nicht. — Der Alte : Wenn du dich nur selber völlig verstehst! — Pyrrhon dreht sich um und lacht. — Der Alte : Ach Freund! Schweigen und Lachen — ist das jetzt deine ganze Philosophie? — Pyrrhon : Es wäre nicht die schlechteste.-