Der Steppenwolf
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»Es war einmal einer namens Harry, genannt der Steppenwolf. Er ging auf zwei Beinen, trug Kleider und war ein Mensch, aber eigentlich war er doch eben ein Steppenwolf.« Der erstmals 1927 erschienene Roman Der Steppenwolf vor allem begr?ndet den Weltruf Hermann Hesses und ist dasjenige Buch, das die internationale Renaissance seines Autors in den sechziger und siebziger Jahren ausgel?st hat.
Der Steppenwolf ist die Geschichte von Harry Haller, der sich im Zustand v?lliger Entfremdung von seiner b?rgerlichen Welt »eine geniale, eine unbegrenzte furchtbare Leidensf?higkeit herangebildet« hat. Die innere Zerrissenheit Hallers spiegelt die Erscheinungen der modernen Massen- und Industriegesellschaft wider und reflektiert kultur- und zivilisationskritische Str?mungen des 20. Jahrhunderts.
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Der Morgen gähnte schon durch die Scheiben, der bleierne verdammte Morgen eines Winterregentages, als ich endlich zu Bett kam. Ins Bett nahm ich meinen Entschluß mit. Ganz zu äußerst aber, an der letzten Grenze des Bewußtseins im Augenblick des Einschlafens, blitzte sekundenschnell jene merkwürdige Stelle des Steppenwolfbüchleins vor mir auf, wo von den »Unsterblichen« die Rede war, und damit verband sich die aufzuckende Erinnerung daran, daß ich manche Male und erst noch vor kurzem mich den Unsterblichen nah genug gefühlt hatte, um in einem Takt alter Musik die ganze kühle, helle, hart lächelnde Weisheit der Unsterblichen mitzukosten. Das tauchte auf, glänzte, erlosch, und schwer wie ein Berg legte sich der Schlaf auf meine Stirn.
Gegen Mittag erwacht, fand ich in mir alsbald die geklärte Situation wieder, das kleine Büchlein lag auf dem Nachttisch und mein Gedicht, und freundlich kühl blickte aus dem Wirrsal meines jüngsten Lebens mein Entschluß mich an, über Nacht im Schlafe rund und fest geworden. Eile tat nicht not, mein Todesentschluß war nicht die Laune einer Stunde, er war eine reife, haltbare Frucht, langsam gewachsen und schwer geworden, vom Wind des Schicksals leis geschaukelt, dessen nächster Stoß sie zum Fallen bringen mußte.
Ich besaß in meiner Reiseapotheke ein vorzügliches Mittel, um Schmerzen zu stillen, ein besonders starkes Opiumpräparat, dessen Genuß ich mir nur sehr selten gönnte und oft monatelang vorenthielt; ich nahm dies schwer betäubende Mittel nur dann, wenn körperliche Schmerzen mich bis zur Unerträglichkeit plagten. Zum Selbstmord war es leider nicht geeignet, ich hatte dies vor mehreren Jahren einmal ausprobiert. Da hatte ich in einer Zeit, als wieder einmal Verzweiflung mich umgab, eine hübsche Menge davon geschluckt, genug, um sechs Menschen zu töten, und es hatte mich doch nicht getötet. Ich schlief zwar ein und lag einige Stunden in vollkommener Betäubung, wurde dann aber, zu meiner furchtbaren Enttäuschung, durch heftige Zuckungen des Magens halb erweckt, erbrach, ohne ganz zu mir zu kommen, das ganze Gift und schlief wieder ein, um in der Mitte des nächsten Tages endgültig aufzuwachen, zu einer grauenhaften Nüchternheit, mit verbranntem, leerem Gehirn und fast ganz ohne Gedächtnis. Außer einer Periode von Schlaflosigkeit und lästigen Magenschmerzen blieb keine Wirkung des Giftes übrig.
Dies Mittel also kam nicht in Betracht. Aber ich gab meinem Entschluß nun diese Form: sobald es mit mir wieder dahin kommen würde, daß ich zu jenem Opiat greifen mußte, sollte es mir erlaubt sein, statt dieser kurzen Erlösung die große zu schlürfen, den Tod, und zwar einen sicheren, zuverlässigen Tod, mit der Kugel oder dem Rasiermesser. Damit war die Lage geklärt – bis zu meinem fünfzigsten Geburtstag zu warten, nach dem witzigen Rezept des Steppenwolfbüchleins, das schien mir doch allzu lange, es waren noch zwei Jahre bis dahin. Sei es in einem Jahr oder in einem Monat, sei es morgen schon – die Pforte stand offen.
Ich kann nicht sagen, daß der »Entschluß« mein Leben stark verändert hätte. Er machte mich ein wenig gleichgültiger gegen Beschwerden, ein wenig unbesorgter im Gebrauch von Opium und Wein, ein wenig neugieriger auf die Grenze des Ertragbaren, das war alles. Stärker wirkten die andern Erlebnisse jenes Abends nach. Den Traktat vom Steppenwolf las ich noch manchmal durch, bald mit Hingabe und Dankbarkeit, als wisse ich einen unsichtbaren Magier mein Schicksal weise leiten, bald mit Hohn und Verachtung gegen die Nüchternheit des Traktats, der mir die spezifische Stimmung und Spannung meines Lebens gar nicht zu verstehen schien. Was da von Steppenwölfen und Selbstmördern geschrieben stand, mochte ganz gut und klug sein, es galt für die Gattung, für den Typus, war geistreiche Abstraktion; meine Person hingegen, meine eigentliche Seele, mein eigenes, einmaliges Einzelschicksal schien mir mit so grobem Netz doch nicht einzufangen.
Tiefer als alles andre aber beschäftigte mich jene Halluzination oder Vision an der Kirchenmauer, die verheißungsvolle Ankündigung jener tanzenden Lichtschrift, die mit Andeutungen des Traktates übereinstimmte. Viel war mir da versprochen worden, gewaltig hatten die Stimmen jener fremden Welt meine Neugierde angestachelt, oft sann ich lange Stunden ganz versunken darüber nach. Und immer deutlicher sprach dann die Warnung jener Inschriften zu mir: »Nicht für jedermann!« und »Nur für Verrückte!« Verrückt also mußte ich sein und weit abgerückt von »jedermann«, wenn jene Stimmen mich erreichen, jene Welten zu mir sprechen sollten. Mein Gott, war ich denn nicht längst weit genug entfernt vom Leben jedermanns, vom Dasein und Denken der Normalen, war ich nicht längst reichlich abgesondert und verrückt? Und dennoch verstand ich im Innersten den Zuruf recht wohl, die Aufforderung zum Verrücktsein, zum Wegwerfen der Vernunft, der Hemmung, der Bürgerlichkeit, zur Hingabe an die flutende gesetzlose Welt der Seele, der Phantasie.
Eines Tages, nachdem ich wieder einmal vergeblich Straßen und Plätze nach dem Mann mit der Plakatstange abgesucht hatte und mehrmals lauernd an der Mauer mit dem unsichtbaren Tor vorbeigestreift war, begegnete ich in der Martinsvorstadt einem Leichenzug. Indem ich die Gesichter der Leidtragenden betrachtete, die hinter dem Sargwagen her trottelten, war mein Gedanke: Wo in dieser Stadt, wo in dieser Welt lebt der Mensch, dessen Tod mir einen Verlust bedeuten würde? Und wo der Mensch, dem mein Tod etwas bedeuten könnte? Da war zwar Erika, meine Geliebte, nun ja; aber wir lebten seit langem in sehr loser Verbindung, sahen uns selten, ohne Streit zu bekommen, und zur Zeit wußte ich nicht einmal ihren Aufenthaltsort. Sie kam zuweilen zu mir, oder ich reiste zu ihr, und da wir beide einsame und schwierige Menschen sind, irgendwo in der Seele und in der Seelenkrankheit einander verwandt, blieb trotz allem eine Bindung zwischen uns bestehen. Aber würde sie nicht vielleicht aufatmen und sich erleichtert fühlen, wenn sie meinen Tod erführe? Ich wußte es nicht, wußte auch nichts über die Zuverlässigkeit meiner eigenen Gefühle. Man muß im Normalen und Möglichen leben, um über solche Dinge etwas wissen zu können.
Unterdessen hatte ich mich, einer Laune folgend, dem Trauerzug angeschlossen und trabte hinter den Leidtragenden her zum Friedhof mit, einem modernen zementenen Patentfriedhof mit Krematorium und allen Schikanen. Unser Toter wurde aber nicht verbrannt, sondern sein Sarg vor einem schlichten Erdloch abgeladen, und ich sah dem Pfarrer und den übrigen Aasgeiern, Angestellten einer Begräbnisanstalt, bei ihren Verrichtungen zu, welchen sie den Anschein einer Feierlichkeit und Trauer zu geben suchten, so daß sie sich vor lauter Theater und Verlegenheit und Verlogenheit überanstrengten und ins Komische gerieten, sah, wie die schwarze Berufsuniform an ihnen niederwallte und wie sie sich Mühe gaben, die Trauergesellschaft in Stimmung zu bringen und zur Kniebeuge vor der Majestät des Todes zu zwingen. Es war vergebliche Mühe, niemand weinte, der Tote schien allen entbehrlich zu sein. Auch war niemand zu frommen Stimmungen zu überreden, und als der Pfarrer die Gesellschaft immer wieder als »liebe Mitchristen« anredete, sahen alle die schweigsamen Geschäftsgesichter dieser Kaufleute und Bäckermeister und ihrer Frauen in krampfhaftem Ernst vor sich nieder, verlegen und verlogen und von keinem andern Wunsche bewegt, als daß diese unbehagliche Veranstaltung bald ihr Ende finden möchte. Nun, sie ging zu Ende, die beiden vordersten unter den Mitchristen drückten dem Redner die Hand, rieben sich am nächsten Rasenbord den feuchten Lehm, in den sie ihren Toten gelegt hatten, von den Schuhen, die Gesichter wurden unverweilt wieder gewöhnlich und menschlich, und eines von ihnen schien mir plötzlich bekannt – es war, so schien mir, der Mann, der damals das Plakat getragen und mir das Büchlein in die Hand gedrückt hatte.
In dem Augenblick, da ich ihn zu erkennen glaubte, wandte er sich um, bückte sich, machte sich an seinen schwarzen Hosen zu schaffen, die er umständlich über den Schuhen hockkrempelte, und lief dann hurtig davon, einen Regenschirm unter den Arm geklemmt. Ich lief ihm nach, holte ihn ein, nickte ihm zu, doch schien er mich nicht zu erkennen.
»Ist heute keine Abendunterhaltung?« fragte ich und versuchte ihm zuzublinzeln, so wie Mitwisser von Geheimnissen es untereinander tun. Aber es war allzu lange her, seit solche mimische Übungen mir geläufig waren, hatte ich bei meiner Lebensweise doch beinahe das Sprechen verlernt; ich fühlte selbst, daß ich nur eine dumme Grimasse schneide.
»Abendunterhaltung?« brummte der Mann und sah mir fremd ins Gesicht. »Gehen Sie in den Schwarzen Adler, Mensch, wenn Sie Bedürfnisse haben.« Ich war in der Tat nicht mehr gewiß, ob er es sei. Enttäuscht ging ich weiter, ich wußte nicht wohin, es gab keine Ziele, keine Bestrebungen, keine Pflichten für mich. Scheußlich bitter schmeckte das Leben, ich fühlte, wie der seit langem gewachsene Ekel seine Höhe erreichte, wie das Leben mich ausstieß und wegwarf. Wütend lief ich durch die graue Stadt, alles schien mir nach feuchter Erde und Begräbnis zu riechen. Nein, an meinem Grabe durfte keiner von diesen Totenvögeln stehen, mit seinem Talar und seinem sentimentalen mitchristlichen Gesäusel! Ach, wohin ich blicken, wohin ich die Gedanken schicken mochte, nirgends wartete eine Freude, nirgends ein Zuruf auf mich, nirgends war Lockung zu spüren, es stank alles nach fauler Verbrauchtheit, nach fauler Halbundhalbzufriedenheit, es war alles alt, welk, grau, schlapp, erschöpft. Lieber Gott, wie war es möglich? Wie hatte es mit mir dahin kommen können, mit mir, dem beflügelten Jüngling, dem Dichter, dem Freund der Musen, dem Weltwanderer, dem glühenden Idealisten? Wie war das so langsam und schleichend über mich gekommen, diese Lähmung, dieser Haß gegen mich und alle, diese Verstopftheit aller Gefühle, diese tiefe böse Verdrossenheit, diese Dreckhölle der Herzensleere und Verzweiflung?
Als ich an der Bibliothek vorüberkam, begegnete mir ein junger Professor, mit dem ich früher hie und da ein Gespräch geführt hatte, den ich bei meinem letzten Aufenthalt in dieser Stadt, vor einigen Jahren, sogar mehrmals in seiner Wohnung aufgesucht hatte, um mit ihm über orientalische Mythologien zu reden, ein Gebiet, mit dem ich damals viel beschäftigt war. Der Gelehrte kam mir entgegen, als ich schon im Begriff war, an ihm vorüberzugehen. Er stürzte sich mit großer Herzlichkeit auf mich, und ich, in meiner jämmerlichen Verfassung war ihm halb und halb dankbar dafür. Er war erfreut und wurde lebhaft, erinnerte mich an Einzelheiten aus unsern einstigen Gesprächen, versicherte, daß er meinen Anregungen viel verdanke und oft an mich gedacht habe; selten habe er seitdem so angeregte und ergiebige Auseinandersetzungen mit Kollegen gehabt. Er fragte, seit wann ich in der Stadt sei (ich log: seit wenigen Tagen) und warum ich ihn nicht aufgesucht habe. Ich blickte dem artigen Mann in sein gelehrtes gutes Gesicht, fand die Szene eigentlich lächerlich, genoß aber doch wie ein verhungerter Hund den Brocken Wärme, den Schluck Liebe, den Bissen Anerkennung. Gerührt grinste der Steppenwolf Harry, im trocknen Schlunde lief ihm der Geifer zusammen, Sentimentalität bog ihm wider seinen Willen den Rücken. Ja, ich log mich also eifrig heraus, daß ich nur vorübergehend hier sei, studienhalber, und mich auch nicht recht wohl fühle, sonst hätte ich ihn natürlich einmal besucht. Und als er mich nun herzlich einlud, doch diesen Abend bei ihm zu verbringen, da nahm ich dankbar an, bat ihn, seine Frau zu grüßen, und dabei taten mir beim eifrigen Reden und Lächeln die Backen weh, welche diese Anstrengungen nicht mehr gewohnt waren. Und während ich, Harry Haller, da auf der Straße stand, überrumpelt und geschmeichelt, höflich und beflissen, und dem freundlichen Mann in das kurzsichtige gute Gesicht lächelte, stand der andere Harry daneben und grinste ebenfalls, stand grinsend und dachte, was ich doch für ein eigentümlicher, verdrehter und verlogener Bruder sei, daß ich vor zwei Minuten noch gegen die ganze verfluchte Welt grimmig die Zähne gefletscht hatte und jetzt beim ersten Anruf, beim ersten harmlosen Gruß eines achtbaren Biedermanns gerührt und übereifrig ja und amen sagte und mich im Genuß von ein bißchen Wohlwollen, Achtung und Freundlichkeit wie ein Ferkel walzte. So standen die beiden Harrys, beides außerordentlich unsympathische Figuren, dem artigen Professor gegenüber, verhöhnten einander, beobachteten einander, spuckten voreinander aus und stellten sich, wie immer in solchen Lagen, wieder einmal die Frage: ob das nun einfach menschliche Dummheit und Schwäche sei, allgemeines Menschenlos, oder ob dieser sentimentale Egoismus, diese Charakterlosigkeit, diese Unsauberkeit und Zwiespältigkeit der Gefühle bloß eine persönliche, steppenwölfische Spezialität sei. War die Schweinerei allgemein menschlich, nun, dann konnte sich meine Weltverachtung mit erneuter Wucht darauf stürzen; war es nur meine persönliche Schwäche, so ergab sich daraus Anlaß zu einer Orgie der Selbstverachtung.