Der Steppenwolf
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»Es war einmal einer namens Harry, genannt der Steppenwolf. Er ging auf zwei Beinen, trug Kleider und war ein Mensch, aber eigentlich war er doch eben ein Steppenwolf.« Der erstmals 1927 erschienene Roman Der Steppenwolf vor allem begr?ndet den Weltruf Hermann Hesses und ist dasjenige Buch, das die internationale Renaissance seines Autors in den sechziger und siebziger Jahren ausgel?st hat.
Der Steppenwolf ist die Geschichte von Harry Haller, der sich im Zustand v?lliger Entfremdung von seiner b?rgerlichen Welt »eine geniale, eine unbegrenzte furchtbare Leidensf?higkeit herangebildet« hat. Die innere Zerrissenheit Hallers spiegelt die Erscheinungen der modernen Massen- und Industriegesellschaft wider und reflektiert kultur- und zivilisationskritische Str?mungen des 20. Jahrhunderts.
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Die Täuschung beruht auf einer einfachen Übertragung. Als Körper ist jeder Mensch eins, als Seele nie. Auch in der Dichtung, selbst in der raffiniertesten, wird herkömmlicherweise stets mit scheinbar ganzen, scheinbar einheitlichen Personen operiert. An der bisherigen Dichtung schätzen die Fachleute, die Kenner am höchsten das Drama, und mit Recht, denn es bietet (oder böte) die größte Möglichkeit zur Darstellung des Ichs als einer Vielheit – wenn dem nicht der grobe Augenschein widerspräche, der uns jede einzelne Person eines Dramas, da sie in einem unweigerlich einmaligen, einheitlichen, abgeschlossenen Körper steckt, als Einheit vortäuscht. Am höchsten schätzt denn auch die naive Ästhetik das sogenannte Charakterdrama, in dem jede Figur recht kenntlich und abgesondert als Einheit auftritt. Nur von ferne erst und allmählich dämmert die Ahnung in Einzelnen, daß das vielleicht alles eine billige Oberflächenästhetik ist, daß wir irren, wenn wir auf unsre großen Dramatiker die herrlichen, uns aber nicht eingeborenen, sondern bloß aufgeschwatzten Schönheitsbegriffe der Antike anwenden, welche, überall vom sichtbaren Leibe ausgehend, recht eigentlich die Fiktion vom Ich, von der Person, erfunden hat. In den Dichtungen des alten Indien ist dieser Begriff ganz unbekannt, die Helden der indischen Epen sind nicht Personen, sondern Personenknäuel, Inkarnationsreihen. Und in unsrer modernen Welt gibt es Dichtungen, in denen hinter dem Schleier des Personen- und Charakterspiels, dem Autor wohl kaum ganz bewußt, eine Seelenvielfalt darzustellen versucht wird. Wer dies erkennen will, der muß sich entschließen, einmal die Figuren einer solchen Dichtung nicht als Einzelwesen anzusehen, sondern als Teile, als Seiten, als verschiedene Aspekte einer höheren Einheit (meinetwegen der Dichterseele). Wer etwa den Faust auf diese Art betrachtet, für den wird aus Faust, Mephisto, Wagner und allen ändern eine Einheit, eine Überperson, und erst in dieser höhern Einheit, nicht in den Einzelfiguren, ist etwas vom wahren Wesen der Seele angedeutet. Wenn Faust den unter den Schullehrern berühmten, vom Philister mit Schauer bewunderten Spruch sagt: »Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust!«, dann vergißt er den Mephisto und eine ganze Menge andrer Seelen, die er ebenfalls in seiner Brust hat. Auch unser Steppenwolf glaubt ja, zwei Seelen (Wolf und Mensch) in seiner Brust zu tragen, und findet seine Brust dadurch schon arg beengt. Die Brust, der Leib, ist eben immer eines, der darin wohnenden Seelen aber sind nicht zwei oder fünf, sondern unzählige; der Mensch ist eine aus hundert Schalen bestehende Zwiebel, ein aus vielen Fäden bestehendes Gewebe. Erkannt und genau gewußt haben dies die alten Asiaten, und im buddhistischen Yoga ist eine genaue Technik dafür erfunden, den Wahn der Persönlichkeit zu entlarven. Lustig und vielfältig ist das Spiel der Menschheit: der Wahn, zu dessen Entlarvung Indien tausend Jahre lang sich so sehr angestrengt hat, ist derselbe, zu dessen Stützung und Stärkung der Okzident sich ebenso viele Mühe gegeben hat.
Betrachten wir von diesem Standpunkt aus den Steppenwolf, so wird uns klar, warum er so sehr unter seiner lächerlichen Zweiheit leidet. Er glaubt, wie Faust, daß zwei Seelen für eine einzige Brust schon zuviel seien und die Brust zerreißen müßten. Sie sind aber im Gegenteil viel zu wenig, und Harry vergewaltigt seine arme Seele furchtbar, wenn er sie in einem so primitiven Bilde zu begreifen sucht. Harry verfährt, obwohl er ein hochgebildeter Mensch ist, etwa wie ein Wilder, der nicht über zwei hinaus zählen kann. Er nennt ein Stück von sich Mensch, ein andres Wolf, und damit glaubt er schon am Ende zu sein und sich erschöpft zu haben. In den »Menschen« packt er alles Geistige, Sublimierte oder doch Kultivierte hinein, das er in sich vorfindet, und in den Wolf alles Triebhafte, Wilde und Chaotische. Aber so simpel wie in unsern Gedanken, so grob wie in unsrer armen Idiotensprache geht es im Leben nicht zu, und Harry belügt sich doppelt, wenn er diese negerhafte Wolfsmethode anwendet. Harry rechnet, so fürchten wir, ganze Provinzen seiner Seele schon zum »Menschen«, die noch lange nicht Mensch sind, und rechnet Teile seines Wesens zum Wolfe, die längst über den Wolf hinaus sind.
Wie alle Menschen, so glaubt auch Harry recht wohl zu wissen, was der Mensch sei, und weiß es doch durchaus nicht, obschon er es, in Träumen und anderen schwer kontrollierbaren Bewußtseinszuständen, nicht selten ahnt. Möchte er diese Ahnungen nicht vergessen, möchte er sie sich doch möglichst zu eigen machen! Der Mensch ist ja keine feste und dauernde Gestaltung (dies war, trotz entgegengesetzter Ahnungen ihrer Weisen, das Ideal der Antike), er ist vielmehr ein Versuch und Übergang, er ist nichts andres als die schmale, gefährliche Brücke zwischen Natur und Geist. Nach dem Geiste hin, zu Gott hin treibt ihn die innerste Bestimmung – nach der Natur, zur Mutter zurück zieht ihn die innigste Sehnsucht: zwischen beiden Mächten schwankt angstvoll bebend sein Leben. Was die Menschen jeweils unter dem Begriff »Mensch« verstehen, ist stets nur eine vergängliche bürgerliche Übereinkunft. Gewisse roheste Triebe werden von dieser Konvention abgelehnt und verpönt, ein Stück Bewußtsein, Gesittung und Entbestialisierung wird verlangt, ein klein wenig Geist ist nicht nur erlaubt, sondern wird sogar gefordert. Der »Mensch« dieser Konvention ist, wie jedes Bürgerideal, ein Kompromiß, ein schüchterner und naiv-schlauer Versuch, sowohl die böse Urmutter Natur wie den lästigen Urvater Geist um ihre heftigen Forderungen zu prellen und in lauer Mitte zwischen ihnen zu wohnen. Darum erlaubt und duldet der Bürger das, was er »Persönlichkeit« nennt, Iiefert die Persönlichkeit aber gleichzeitig jenem Moloch »Staat« aus und spielt beständig die beiden gegeneinander aus. Darum verbrennt der Bürger heute den als Ketzer, hängt den als Verbrecher, dem er übermorgen Denkmäler setzt.
Daß der »Mensch« nicht schon Erschaffenes sei, sondern eine Forderung des Geistes, eine ferne, ebenso ersehnte wie gefürchtete Möglichkeit, und daß der Weg dahin immer nur ein kleines Stückchen weit und unter furchtbaren Qualen und Ekstasen zurückgelegt wird, eben von jenen seltenen Einzelnen, denen heute das Schafott, morgen das Ehrendenkmal bereitet wird – dies Ahnen lebt auch im Steppenwolf. Was er aber, im Gegensatz zu seinem » Wolf«, in sich »Mensch« nennt, das ist zum großen Teil nichts andres als eben jener mediokre »Mensch« der Bürgerkonvention. Den Weg zum wahren Menschen, den Weg zu den Unsterblichen kann Harry zwar recht wohl ahnen, geht ihn auch hie und da ein winziges, zögerndes Stückchen weit und bezahlt das mit schweren Leiden, mit schmerzlicher Vereinsamung. Aber jene höchste Forderung, jene echte, vom Geist gesuchte Menschwerdung zu bejahen und anzustreben, den einzigen schmalen Weg zur Unsterblichkeit zu gehen, davor scheut er sich doch in tiefster Seele. Er fühlt recht wohl: das führt zu noch größeren Leiden, zur Ächtung, zum letzten Verzicht, vielleicht zum Schafott – und wenn auch am Ende dieses Weges Unsterblichkeit lockt, so ist er doch nicht gewillt, all diese Leiden zu leiden, alle diese Tode zu sterben. Obwohl ihm vom Ziel der Menschwerdung mehr bewußt ist als den Bürgern, macht er doch die Augen zu und will nicht wissen, daß das verzweifelte Hängen am Ich, das verzweifelte Nichtsterbenwollen der sicherste Weg zum ewigen Tode ist, während Sterbenkönnen, Hüllenabstreifen, ewige Hingabe des Ichs an die Wandlung zur Unsterblichkeit führt. Wenn er seine Lieblinge unter den Unsterblichen anbetet, etwa Mozart, so sieht er ihn letzten Endes doch immer noch mit Bürgeraugen an und ist geneigt, Mozarts Vollendung recht wie ein Schullehrer bloß aus seiner hohen Spezialistenbegabung zu erklären, statt aus der Größe seiner Hingabe und Leidensbereitschaft, seiner Gleichgültigkeit gegen die Ideale der Bürger und dem Erdulden jener äußersten Vereinsamung, die um den Leidenden, den Menschwerdenden alle Bürgeratmosphäre zu eisigem Weltäther verdünnt, jener Vereinsamung im Garten Gethsemane.
Immerhin hat unser Steppenwolf wenigstens die faustische Zweiheit in sich entdeckt, er hat herausgefunden, daß der Einheit seines Leibes nicht eine Seeleneinheit innewohnt, sondern daß er bestenfalls nur auf dem Wege, in langer Pilgerschaft zum Ideal dieser Harmonie begriffen ist. Er möchte entweder den Wolf in sich überwinden und ganz Mensch werden oder aber auf den Menschen verzichten und wenigstens als Wolf ein einheitliches, unzerrissenes Leben leben. Vermutlich hat er nie einen wirklichen Wolf genau beobachtet, er hätte dann vielleicht gesehen, daß auch die Tiere keine einheitliche Seele haben, daß auch bei ihnen hinter der schönsten straffen Form des Leibes eine Vielfalt von Strebungen und Zuständen wohnt, daß auch der Wolf Abgründe in sich hat, daß auch der Wolf leidet. Nein, mit dem »Zurück zur Natur!« geht der Mensch stets einen leidvollen und hoffnungslosen Irrweg. Harry kann niemals wieder ganz zum Wolfe werden, und würde er es, so sähe er, daß auch der Wolf wieder nichts Einfaches und Anfängliches ist, sondern schon etwas sehr Vielfaches und Kompliziertes. Auch der Wolf hat zwei und mehr als zwei Seelen in seiner Wolfsbrust, und wer ein Wolf zu sein begehrt, begeht dieselbe Vergeßlichkeit wie der Mann mit jenem Liede: »O selig, ein Kind noch zu sein!« Der sympathische, aber sentimentale Mann, der das Lied vom seligen Kinde singt, möchte ebenfalls zur Natur, zur Unschuld, zu den Anfängen zurück und hat ganz vergessen, daß die Kinder keineswegs selig sind, daß sie vieler Konflikte, daß sie vieler Zwiespältigkeiten, daß sie aller Leiden fähig sind.
Zurück führt überhaupt kein Weg, nicht zum Wolf noch zum Kinde. Am Anfang der Dinge ist nicht Unschuld und Einfalt; alles Erschaffene, auch das scheinbar Einfachste, ist schon schuldig, ist schon vielspältig, ist in den schmutzigen Strom des Werdens geworfen und kann nie mehr, nie mehr stromaufwärts schwimmen. Der Weg in die Unschuld, ins Unerschaffene, zu Gott führt nicht zurück, sondern vorwärts, nicht zum Wolf oder Kind, sondern immer weiter in die Schuld, immer tiefer in die Menschwerdung hinein. Auch mit dem Selbstmord wird dir, armer Steppenwolf, nicht ernstlich gedient sein, du wirst schon den längeren, den mühevolleren und schwereren Weg der Menschwerdung gehen, du wirst deine Zweiheit noch oft vervielfachen, deine Kompliziertheit noch viel weiter komplizieren müssen. Statt deine Welt zu verengern, deine Seele zu vereinfachen, wirst du immer mehr Welt, wirst schließlich die ganze Welt in deine schmerzlich erweiterte Seele aufnehmen müssen, um vielleicht einmal zum Ende, zur Ruhe zu kommen. Diesen Weg ist Buddha, ist jeder große Mensch gegangen, der eine wissend, der andere unbewußt, soweit ihm eben das Wagnis glückte. Jede Geburt bedeutet Trennung vom All, bedeutet Umgrenzung, Absonderung von Gott, leidwolle Neuwerdung. Rückkehr ins All, Aufhebung der leidvollen Individuation, Gottwerden bedeutet: seine Seele so erweitert haben, daß sie das All wieder zu umfassen vermag.