Der Wiedersacher
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Auf der Suche nach einer Tankstelle sto?en Brenner und Astrid auf ein seltsames, uraltes Kloster, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Doch allzuschnell holt sie die Gegenwart ein. ?ber ihren H?uptern bricht ein flammendes Inferno aus, als ein arabischer Terrorist und die US-Luftwaffe sich ein letztes Gefecht liefern. Danach geschehen Zeichen und Wunder: Menschen, die Brenner vergl?hen sah, sind noch am Leben, und ein unheimlicher Priester enth?llt ihm die unglaubliche Kunde, da? das Ende der Welt angebrochen sei und der Widersacher nun auf Erden wandle.
"Mit diesem neuen Roman wird Bestseller-Autor Wolfgang Hohlbein seine Fan-Gemeinde sicher noch vergr??ern k?nnen. Die irrwitzige Mischung aus Spannung, Fantasy und Horror l??t den Leser eintauchen in eine atemberaubene Lekt?re, von der man nicht so schnell los kommt." Berliner Morgenpost
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»Ganz hinten«, sagte Nehrig. »Letzte Reihe.«
Während sich die vier Soldaten mit ihrer schrecklichen Last weiterbewegten, starrte Nehrig einige Sekunden lang mit gerunzelter Stirn auf die Stelle neben der Tür, an der Weichsler die letzten Stunden gestanden und eine ihm unbekannte Anzahl von Toten bewacht hatte. Auf dem grüngestrichenen Betonboden lagen ungefähr fünfzehn ausgetretene Zigarettenstummel. Wahrscheinlich, dachte Weichsler, suchte er in Gedanken nach einer entsprechenden Formulierung, um ihn wegen dieses Verstoßes gegen die Dienstvorschrift zu rügen.
Weichsler erlebte binnen kurzem eine zweite Überraschung: Statt ihn anzublaffen, zog Nehrig plötzlich selbst eine Packung West aus der Jackentasche und hielt sie ihm hin. Weichsler griff schon aus reiner Verblüffung zu und beugte sich ein wenig vor, als Nehrig ihm Feuer gab. Seine MPi schlug mit einem leisen Klappern gegen denTürrahmen. Nehrig sah ganz automatisch hin und runzelte mißbilligend die Stirn. Weichslers Waffe hing griffbereit an seiner Seite, statt über der Schulter. Aber er sagte auch dazu nichts. Weichsler schulterte seine Waffe mit einer Bewegung, die eine Winzigkeit zu hastig ausfiel, während Nehrig sich selbst Feuer nahm und den Rauch mit sichtbarem Genuß in die Lungen sog. Weichsler empfand ein flüchtiges Aufwallen von vollkommen absurdem Neid. Seine Zigarette schmeckte immer noch irgendwie faulig.
»Seit wann sind Sie hier?« fragte Nehrig. Er sah Weichsler dabei nicht an, sondern verfolgte scheinbar konzentriert die vier Soldaten, die die beiden Leichensäcke zum anderen Ende derTurnhalle trugen.
»Heute nacht?« Weichsler sah vollkommen überflüssig auf die Uhr. »Seit Mitternacht.«
»Geisterstunde, wie?« Nehrig grinste. Weichsler fand die Bemerkung ganz und gar nicht komisch, und offenbar sah man es ihm an, denn Nehrigs Grinsen verschwand schlagartig, als er
sich ihm zuwandte. »Scheiß-Job, was?«
»Es geht«, antwortete Weichsler ausweichend.
»Draußen ist es schlimmer«, pflichtete ihm Nehrig bei, und obwohl Weichsler zustimmend nickte, wußte er doch, daß das nicht stimmte. Vor zweiTagen war er froh gewesen, hierher zum Wachdienst abkommandiert worden zu sein statt zu einer der Einheiten, welche die umliegenden Ortschaften nach Leichen absuchten; aber mittlerweile war viel Zeit vergangen. Zeit zum Nachdenken, Zeit, die er zusammen mit diesen schweigenden Toten in einer Turnhalle oder zusammen mit seinen Alpträumen in einem zum Schlafsaal umfunktionierten Klassenraum verbracht hatte. Entschieden zu viel Zeit. Vermutlich war es eine grauenhafte Aufgabe, die umliegenden Ortschaften Haus für Haus, Etage um Etage und Zimmer um Zimmer nach weiteren Toten zu durchkämmen. Aber die Männer dort draußen hatten wenigstens was zu tun, und Weichsler war an einem Punkt, an dem ihm alles besser erschien, als in dieser kalten, zugigen Halle zu stehen und darauf zu warten, daß es Tag wurde. Die Toten waren nicht stumm. Sie machten Geräusche, und wenn er noch einen oder zwei weitere Tage hier verbrachte, würde er vermutlich anfangen, ihre Stimmen zu hören.
»Die beiden da waren die letzten«, sagte Nehrig nach einer Weile. »Ich glaube nicht, daß wir noch mehr finden. Gott sei Dank wirkt dieses Scheiß-Zeug nicht allzu lange.«
»Wie viele sind es?« fragte Weichsler. Er erschrak fast. Warum stellte er diese Frage? Er wollte es nicht wissen! Trotzdem nickte er, als Nehrig die Zigarette aus dem Mundwinkel nahm und ihn fragend ansah:
»Insgesamt? Eintausendzweihundertsiebzehn – mit den beiden da.«
»Großer Gott!« flüsterte Weichsler. Er hatte gewußt, daß die wirklichen Zahlen von denen abwichen, die die Medien verbreiteten, aber das …
»Ja, eine ganze Menge, nicht?« Nehrig schürzte die Lippen und fügte in vollkommen verändertem, hartem Ton hinzu:
»Und trotzdem noch einer zu wenig. Sie haben dieses Schwein immer noch nicht gefunden. Entweder hat es ihn in Atome zerblasen, oder er lebt noch.«
Weichsler mißfiel der Ton in Nehrigs Stimme. Er hätte ihn verstehen müssen – immerhin sprachen sie von dem Mann, der für denTod von eintausendzweihundert Männern, Frauen und Kindern verantwortlich war. Aber er war dem Tod in den letzten beidenTagen einfach zu nahe gewesen, um noch so zu empfinden.
»Sie werden ihn schon aufspüren«, antwortete er. »Wenn er noch lebt, finden sie ihn. Niemand zieht so ein Ding ab und kommt damit durch.«
Nehrig schnaubte. »Einen Scheiß werden sie! Offiziell war das Ganze ein Unfall,, schon vergessen? Der Verursacher ist tot, die Amerikaner hüllen sich in Schweigen, die Regierung zahlt den Hinterbliebenen eine großzügige Abfindung, und irgendein paar ho he Tiere in Bonn streichen eine großzügige Abfindung dafür ein, daß man in der Öffentlichkeit ihre Köpfe rollen läßt. So läuft das.«
Weichsler widersprach nicht – er hatte, weiß Gott, keine Lust, sich mit Nehrig ausgerechnet auf eine politische Diskussion einzulassen; schon gar nicht, wenn sie auf dem Niveau eines Stammtischgespräches stattfand – , aber er bezweifelte, daß es tatsächlich so laufen würde. Was er über Salid, den Terroristen, gesagt hatte, galt auch für diese ganze verdammte Geschichte: Niemand zog so ein Ding ab und kam damit durch. Nicht einmal die Amerikaner. Und keine verdammte Regierung der Welt.
Die Soldaten hatten ihre Last abgeladen und kamen zurück. Sie bewegten sich sehr schnell und schweigend, aber als Weichsler ihnen in die Gesichter sah, entdeckte er auf allen vier den gleichen Ausdruck: eine Art abgestumpfter Verbitterung, die ihn einen Moment lang daran zweifeln ließ, tatsächlich den schwereren Job bekommen zu haben. Aber diese Frage war vermutlich müßig: Jeder Job war der schwerere, wenn man ihn gerade tun mußte.
Die Soldaten sagten kein Wort, sondern blickten Nehrig nur fragend an. Nehrig machte eine ebenso wortlose Geste nach draußen, und die Soldaten gingen. Weichsler sah ihnen nach, bis sie in dem silberschwarzen Gemisch aus Dunkelheit und Regen verschwunden waren, das auf der anderen Seite der Tür lastete. Neben dem Ausdruck von Entsetzen hatten die vier Männer noch etwas gemein: sie alle waren noch sehr jung. Keiner älter als zwanzig, schätzte Weichsler. Vermutlich Wehrpflichtige. Er fragte sich, ob sie das, was sie hier erlebten, wohl jemals wieder vergessen würden. Aber auch diese Frage hatte allenfalls akademischen Wert. Die Frage war vielmehr, ob er es jemals wieder vergessen würde, und die Antwort darauf war eindeutig nein.
Erst nach einigen Sekunden fiel ihm auf, daß Nehrig keine Anstalten machte, ebenfalls zu gehen, sondern gemächlich an der Wand neben derTür lehnte und auf seiner Zigarette kaute. In dem fast schattenlosen weißen Neonlicht glich sein Gesicht selbst ein bißchen dem eines Zombies. Seine Haut wirkte unnatürlich bleich, und je nachdem, aus welchem Blickwinkel man sie betrachtete, schien sie einen bläulich-grünen Schimmer zu haben. Das einzige, was nicht zu diesem toten Aussehen paßte, waren die Augen. Ihr Blick irrte fast unstet durch den Raum, verharrte hier, verweilte einen Moment dort, tastete über dieses und jenes, als würde er etwas ganz Bestimmtes suchen … vielleicht befürchten?
Weichsler schüttelte den Gedanken ab. Nehrig war müde, körperlich erschöpft und im Innersten genauso fertig wie er und alle anderen hier, und das war alles, und das war auch schon schlimm genug, basta.
»Ganz schön unheimlich hier, wie?« sagte Nehrig unvermittelt. Er lächelte nervös, paffte an seiner Zigarette und stieß sich von der Wand ab. »Fängt man da nicht allmählich an, Gespenster zu sehen?«
Einen Moment lang überlegte Weichsler ernsthaft, worauf Nehrig mit dieser Frage hinauswollte. Vermutlich auf nichts. Andererseits …
»Nein«, sagte er. »Nur die Langeweile setzt einem zu. Und die Kälte.«
»ja, ist ein bißchen wie im Kühlhaus hier«, bestätigte Nehrig. »Aber ich fürchte, es muß sein. Wenn wir die Heizung aufdrehen, fangen unsere Freunde hier in ihren Ganzkörperparisern an zu stinken. Das würde Ihnen bestimmt noch weniger gefallen.«