Schlaflos
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Das Grauen kehrt nach Derry, Maine, zur?ck. Acht Jahre nach den in "Es" geschilderten Ereignissen, geschehen dort wieder seltsame Dinge. Ralph Roberts leidet zunehmend an Schlaflosigkeit und sieht pl?tzlich die K?pfe seiner Mitmenschen von einer bunten Aura umgeben.
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[Der alte Mann hatte ganz recht, mein Junge. Du hast dich nicht in langfristige Geschäfte einzumischen. Hör auf deine Mutter und halte dich von allem fern, was dich nichts angeht. Paß gut auf.]
Hör auf deine Mutter… Paß gut auf. Diese Worte faßten Bertha Roberts’ Ansichten über die Kunst und Wissenschaft der Kindererziehung ziemlich gut zusammen, nicht wahr? Ob es sich um den Befehl handelte, nach dem Essen eine Stunde zu warten, bevor man schwimmen ging, oder darauf zu achten, daß einem der alte Halsabschneider Butch Bowers nicht eine Menge verfaulte Kartoffeln unten in den Korb getan hatte, den man holen gehen sollte, der Prolog (Hör auf deine Mutter) und der Epilog (Paß gut auf) waren stets dieselben. Und wenn man nicht auf sie hörte, und wenn man nicht aufpaßte, mußte man mit Mutters Zorn rechnen, und dann helfe einem Gott.
Sie hob die Nadeln auf und fing wieder an zu stricken, wobei sie die scharlachroten Maschen mit Fingern weiterschob, die selbst ein wenig rot aussahen. Ralph vermutete, daß das nur eine Illusion war. Möglicherweise war die Farbe auch nicht völlig echt und färbte auf seine Finger ab.
Seine Finger? Was war denn das für ein dummer Fehler. Ihre Finger.
Andererseits…
Nun, sie hatte kleine Büschel von Schnurrbarthaaren an den Mundwinkeln. Lange. Irgendwie wüst. Und unbekannt. Ralph konnte sich an einen feinen Flaum auf ihrer Oberlippe erinnern, aber ein Schnurrbart? Auf keinen Fall. Der war neu.
Neu? Neu? Was denkst du da? Sie ist zwei Tage nach dem Attentat auf Robert Kennedy in Los Angeles gestorben, also was, in Gottes Namen, kann neu an ihr sein?
Zwei konvergierende Wände waren auf beiden Seiten von Bertha Roberts entstanden, sie bildeten die Küchenecke, wo sie soviel Zeit verbracht hatte. An einer hing ein Gemälde, an das Ralph sich noch gut erinnern konnte. Es zeigte eine Familie beim Essen - Dad, Mom, zwei Kinder. Sie reichten sich Kartoffeln und Mais und sahen aus, als würden sie sich darüber unterhalten, wie ihr Tag jeweils verlaufen war. Niemand bemerkte, daß sich eine fünfte Person in dem Zimmer befand -ein Mann in einem weißen Gewand, mit sandfarbenem Bart und langem Haar. JESUS CHRISTUS, DER UNSICHTBARE GAST, stand auf einer Plakette unter diesem Bild. Aber der Christus, an den sich Ralph erinnerte, hatte gütig und ein wenig verlegen ausgesehen, weil er lauschte, ohne daß sie es merkten. Diese Version dagegen sah kalt und berechnend aus… abschätzend… möglicherweise richtend. Und er hatte eine dunkle, fast cholerische Gesichtsfarbe, als hätte er etwas gehört, das ihn in Wut versetzte.
[»Mom? Bist du -«]
Sie legte die Nadeln wieder auf die rote Decke - diese seltsam glänzende rote Decke - und hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen.
[Komm mir nicht mit Moms daher, Ralph - hör mir einfach zu und paß auf. Halt dich da raus! Es ist zu spät für dein Einmischen und Herumalbern. Du kannst nur alles noch schlimmer machen.]
Die Stimme war richtig, aber das Gesicht stimmte nicht und stimmte immer weniger. Am deutlichsten zeigte es sich an der Haut. Glatt und ohne Runzeln - ihre Haut war Bertha Roberts’ einzige Eitelkeit gewesen. Die Haut der Kreatur im Schaukelstuhl war rauh… sogar mehr als rauh. Sie war schuppig. Und seitlich am Hals befanden sich zwei Geschwülste (oder waren es Geschwüre?). Als er das sah, regte sich eine schreckliche Erinnerung (nimm es von mir runter, Johnny, oh bitte NIMM ES RUNTER) tief unten in seinem Verstand. Und -
Nun, ihre Aura. Wo war ihre Aura?
[Vergiß meine Aura und vergiß diese fette alte Hure, mit der du herumgezogen bist… obwohl ich wette, daß sich Carolyn gerade im Grab umdreht.]
Der Mund der Frau (keine Frau dieses Ding ist keine Frau) auf dem Schaukelstuhl war nicht mehr klein. Die Unterlippe war nach außen geschwollen und hing herunter. Der Mund selbst hatte einen sabbernden, höhnischen Ausdruck angenommen. Einen seltsam vertrauten sabbernden, höhnischen Ausdruck.
(Johnny, es beißt mich, ES BEISST MICH!)
Auch die Barthaare an den Mundwinkeln hatten etwas gräßlich Vertrautes.
(Johnny, bitte, seine Augen, seine schwarzen Augen)
[Johnny kann dir nicht helfen, mein Junge. Er hat dir damals nicht geholfen, und er kann dir auch jetzt nicht helfen.]
Natürlich nicht. Sein älterer Bruder Johnny war vor sechs Jahren gestorben, Ralph war bei der Beerdigung Sargträger gewesen. Er war an einem Herzanfall gestorben, wahrscheinlich ebenso vom Zufall diktiert wie der, an dem Bill McGovern gestorben war, und -
Ralph sah nach links, aber die Pilotenseite des Cockpits war ebenfalls verschwunden, und Ed Deepneau mit ihr. Ralph sah den alten Gasherd und Holzofen, wo seine Mutter in dem Haus in der Kansas Street gekocht hatte (eine Aufgabe, die sie ihr Leben lang bitter verabscheut und schlecht erfüllt hatte), und den Bogen zum Eßzimmer. Er sah den Eßtisch aus Ahornholz. Ein Glaskrug stand in der Mitte. Der Krug war prallvoll mit leuchtenden roten Rosen. Jede schien ein Gesicht zu haben… ein blutrotes Gesicht mit aufgerissenem Mund…
Aber das ist falsch, dachte er. Völlig falsch. Sie hatte nie Rosen im Haus - sie war allergisch gegen fast alles, was geblüht hat, und bei Rosen war es am schlimmsten. Sie nieste wie verrückt, wenn sie in ihre Nähe kam. Ich habe sie nur einmal ein Indianerbukett auf den Tisch stellen sehen, und das bestand nur aus Herbstgräsern. Ich sehe Rosen, weil -
Er betrachtete wieder die Kreatur in dem Schaukelstuhl, die roten Finger, die nun zu Anhängseln zusammengeschmolzen waren, die fast wie Flossen aussahen. Er betrachtete die scharlachrote Masse, die auf dem Schoß der Kreatur lag, und die Narbe an seinem Arm fing wieder an zu kribbeln.
Was, in Gottes Namen, geht hier vor?
Aber er wußte es selbstverständlich; er mußte nur von dem roten Ding im Schaukelstuhl zu dem Bild sehen, das an der Wand hing, das Bild des Heilands mit dem scharlachroten Gesicht und der bösen Miene, der der Familie beim Abendessen zusah, um es zu bestätigen. Er war nicht in seinem alten Haus in der Kansas Street, und er war auch nicht exakt in einem Flugzeug über Derry. Er befand sich am Hof des Scharlachroten Königs.
Kapitel 29
Ohne darüber nachzudenken, warum er es tat, schob Ralph eine Hand in die Tasche des Pullovers und nahm einen von Lois’ Ohrringen. Seine Hand schien weit entfernt zu sein, wie eine Hand, die jemand anderem gehörte. Und ihm fiel etwas Interessantes auf: Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie Angst gehabt, bis jetzt. Keinmal. Er hatte geglaubt, daß er Angst hatte, aber das war eine Illusion gewesen - er war nur ein einziges Mal kurz davor gewesen, nämlich in der öffentlichen Bibliothek von Derry, als Charlie Pickering ihm ein Messer in die Achselhöhle gebohrt und gedroht hatte, er würde ihm die Eingeweide aus dem Leib schneiden. Aber das war nichts weiter als ein gelinder Augenblick des Unbehagens, verglichen mit dem, was er jetzt empfand.
Ein grüner Mann kam…er schien gut zu sein, aber ich könnte mich irren.
Er hoffte, daß sie das nicht getan hatte; er hoffte es mit aller Kraft. Denn der grüne Mann war alles, was er jetzt noch hatte.
Der grüne Mann, und Lois’ Ohrringe.
[Ralph! Komm zu dir! Sieh deine Mutter an, wenn sie mit dir redet! Siebzig Jahre, und du benimmst dich immer noch, als wärst du sechzehn, mit einem schlimmen Fall von Pimmelausschlag!]
Er drehte sich zu dem Ding mit den roten Flossen um, das auf dem Schaukelstuhl saß. Jetzt hatte es nur noch vage Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Mutter.
[»Du bist nicht meine Mutter, und ich befinde mich immer noch in dem Flugzeug.«]
[Das bist du nicht, mein Junge. Mach dir nichts vor. Ein Schritt aus meiner Küche hinaus, und dir steht ein langer Absturz bevor.]
[»Du kannst jetzt ruhig aufhören. Ich kann sehen, was du bist.«]
Das Ding sprach mit einer blubbernden, erstickten Stimme, die Ralphs Rückgrat in eine dünne Eisbahn verwandelte.
