Gebirgspass
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Auf einem fremden Planeten k?mpft seit sechzehn Jahren ein H?uflein Erdenmenschen den Kampf um’s ?berleben.
Durch eine Havarie ihres Raumschiffes, durch hohe Radioaktivit?t im Schiff und eisige K?lte au?erhalb gezwungen, den Landeplatz zu verlassen, sto?en sie endlich nach qualvoller, viele Todesopfer kostender ?berwindung einer Gebirgskette auf ein w?rmendes Niederungsgebiet. Die ?berlebenden versuchen, sich der „Wildnis“ anzupassen. Die „Erdgeborenen“ wissen um die Gefahr des Vergessens, ahnen den bereits sp?rbaren R?ckfall in eine „Urzeit“, wenn es ihnen nicht gelingt, moralische und ethische Werte der menschlichen Zivilisation und deren jahrtausendealtes Wissen weiterzugeben an die „Jugend“, damit diese die Kraft aufbringt, eines Tages den Pa? zu bezwingen, um zu dem Raumschiff zu gelangen, in der Hoffnung auf eine R?ckkehr zur Erde …
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„Anscheinend bist du froh über die Welt der Dicks, eine Welt der Wilden?!“ Der Alte war wütend, donnerte sogar mit der Faust auf den Tisch. „Eine Welt erfolgreicher, schnellfüßiger Wilder!“
„Und was hättest du als Ersatz anzubieten?“
„Ihn zum Beispiel.“ Der Alte legte seine schwere Hand in Olegs Nacken. „Olegs Welt ist meine Welt, sie ist auch deine, nur daß du dich von ihr lossagen willst, obwohl dir nie eine andere gegeben wurde.“
„Ich fürchte, du irrst, Borja“, sagte die Mutter. Sie ging in die Küche, nahm die Schüssel mit dem kochenden Wasser vom Feuer und brachte sie ins Zimmer. „Wir haben keinen Zucker mehr.“
„Ich auch nicht“, sagte der Alte. „Die Wurzeln sind dies Jahr mager und nicht sehr süß. Egli sagt, wir müssen einen Monat ohne Zucker auskommen. Müssen wir uns eben mit Brot behelfen. Du bist doch eine intelligente Frau und mußt begreifen, daß wir als Gesellschaft zum Aussterben verurteilt sind, wenn wir auf Leute wie Dick setzen, wenn Wilde und Jäger unsere Nachfolge antreten.“
„Ich bin nicht einverstanden mit dir“, sagte die Mutter.
„Wir müssen in erster Linie überleben. Ich spreche jetzt nicht von mir persönlich, sondern von der Siedlung. Von den Kindern. Wenn ich Dick und Marjana betrachte, regt sich Hoffnung in mir. Du bezeichnest sie als Wilde, ich aber glaube, sie könnten sich anpassen. Wenn sie jetzt umkämen, wäre das unser aller Ende. Das Risiko ist zu groß.“
„Das heißt also, ich habe mich nicht angepaßt?“ fragte Oleg.
„Zumindest weniger als die anderen.“
„Du hast einfach Angst um mich“, sagte Oleg, „deshalb willst du nicht, daß ich in die Berge gehe. Dabei schieße ich mit der Armbrust besser als Dick.“
„Natürlich hab ich Angst um dich, du bist doch mein Einziger. Du bist alles, was mir geblieben ist. Und doch entfernst du dich von Tag zu Tag mehr von mir, gehst deine eigenen Wege, wirst ein Fremder.“ Der Alte ging mit gleichmäßigen Schritten im Zimmer auf und ab, das tat er immer, wenn er unzufrieden mit seinen Schülern war, wenn sie es an Fleiß fehlen ließen. Er bückte sich, hob den Globus vom Schemel hoch, den er aus einem riesigen Pilz gefertigt hatte — er war in jenem Winter neben dem Schuppen gewachsen. Er und Oleg hatten damals Farben und bunten Lehm gerieben, den Marjana und Lis am Bach gefunden hatten; es war übrigens der gleiche Lehm, aus dem sie jetzt Seife herstellten. Sie trockneten ihn, und heraus kamen zwei Farben weiß und grau. Der Pilz selbst war fliederfarben. Der Alte hatte aus der Erinnerung sämtliche Kontinente und Ozeane aufgezeichnet. Der Globus, von Anfang an etwas blaß, verwischte sich im Laufe der Jahre noch und sah bald aus wie eine runde Wolke.
Der Alte hielt den Globus auf der Handfläche.
„Atlas“, sagte die Mutter.
Oleg bemerkte einen kleinen rosa Schimmelfleck auf dem Tisch. Er war im Gegensatz zum gelben Schimmel giftig. Der Junge wischte ihn vorsichtig mit dem Ärmel ab.
Ein dummes Gefühl, wenn einem die leibliche Mutter einen anderen vorzog. Es war im Grunde Verrat, regelrechter Verrat.
„Wir beide werden sterben“, sagte der Alte.
„Ist auch gut so“, erwiderte die Mutter, „wir haben lange genug gelebt.“ „Und doch haben wir’s nicht eilig mit dem Sterben, klammern uns ans Leben.“
„Weil wir feige sind“, sagte die Mutter.
„Du hattest immer Oleg.“
„Nur für ihn hab ich durchgehalten.“
„Wir beide werden sterben“, wiederholte der Alte, „das Dorf aber muß am Leben bleiben. Andernfalls hätte unser beider Existenz keinen Sinn gehabt.“
„Ein Stamm von Jägern hätte größere Chancen zu überleben“, sagte die Mutter.
„Nein, mehr Chancen hätte unser Dorf mit solchen Leuten wie Oleg“, widersprach der Alte. „Wenn unser Stamm von Dick und seinesgleichen regiert würde, gäbe es in hundert Jahren niemanden mehr, der um unsere Herkunft und den Sinn des Lebens weiß. Das Recht der Starken, die Gesetze der Urgesellschaft würden Oberhand gewinnen.“
„Und die Menschen würden fruchtbar sein und sich mehren“, sagte die Mutter. „Ihre Zahl würde wachsen, sie würden das Rad erfinden und tausend Jahre später die Dampfmaschine.“ Die Mutter lachte auf; es klang, als schluchzte sie. Sie zog die Nase hoch.
„Das ist ein Scherz, nicht wahr?“ sagte Oleg.
„Irina meint das völlig ernst“, erwiderte der Alte. „Der Kampf um die Existenz in seiner elementaren Form führt unweigerlich zum Regreß. Überleben um einen solchen Preis, um den Preis des Eingewöhnen in die Natur, der Annahme ihrer Gesetze bedeutet nichts anderes als sich ergeben.“
„Aber immerhin zu überleben“, sagte die Mutter.
„So denkt sie gewiß nicht“, sagte Oleg.
„Natürlich denkt sie nicht so“, stimmte der Alte zu. „Ich kenne Irina schon zwanzig Jahre und weiß, daß sie nicht so denkt.“
„Ich ziehe es vor, überhaupt nicht zu denken“, sagte die Mutter.
„Das ist nicht wahr“, widersprach der Alte, „Wir alle denken an die Zukunft, haben unsere Ängste und Hoffnungen. Andernfalls würden wir aufhören, Mensch zu sein. Gerade die Last des Wissens, mit dem Dick sich nicht beladen will, an dessen Stelle er die simplen Gesetze des Waldes setzt, vermag uns zu retten. Solange es diese Alternative gibt, können wir hoffen.“
„Und wegen dieser Alternative jagst du Oleshka in die Berge?“
„Nein, um das Wissen zu bewahren, um unser beider willen. Um gegen die Sinnlosigkeit zu kämpfen, ist das so schwer zu verstehen?“
„Du warst schon immer ein Egoist“, sagte die Mutter.
„Und dein blinder Mutteregoismus zählt wohl gar nicht?“
„Weshalb bestehst du auf Oleg? Er ist schwach, er übersteht den Marsch nicht.“ Das hätte sie nicht sagen dürfen, sie begriff es sofort selber und sah Oleg aus flehenden Augen an: er möge begreifen, sich nicht gekränkt fühlen.
„Schon gut, Mama“, sagte Oleg, „ich versteh das ja alles. Die Sache ist nur, daß ich dorthin will, vielleicht mehr als alle andern. Dick würde mit dem größten Vergnügen hierbleiben, das weiß ich. Die Rentiere gehen bald auf Wanderschaft — die richtige Zeit für die Jagd in der Steppe. Wie gesagt, er würde lieber hierbleiben.“
„Wir brauchen ihn aber auf dem Marsch“, sagte der Alte. „Sosehr mich die Aussicht auf seine Macht erschreckt — heute können uns sein Geschick, seine Kraft retten.“
„Retten!“ Die Mutter riß den Blick von Oleg los. „Du schwafelst dauernd von Rettung. Glaubst du denn selbst daran? Dreimal sind unsre Leute in die Berge aufgebrochen, aber wie viele sind zurückgekehrt? Und mit welchem Ergebnis?“
„Damals waren wir noch unerfahren. Wir kannten die hiesigen Gesetze nicht. Wir zogen los, als auf dem Gebirgspaß Schnee lag. Jetzt wissen wir, daß er erst gegen Ende des Sommers taut. Für jedes Wissen muß man bezahlen.“
„Wären jene Leute damals nicht zugrunde gegangen, wir würden besser leben. Wir hätten mehr Ernährer im Dorf.“
„Das stimmt zwar, aber auch sie würden dem Gesetz der Degradation unterliegen. Entweder wir sind Teil der Menschheit und bewahren ihr Wissen, streben danach, oder wir sind Wilde ohne jede Perspektive.“
„Du bist ein Idealist, Borja. Ein konkretes Stück Brot ist heute wichtiger als eine abstrakte Ananas.“
„Aber du entsinnst dich noch an den Geschmack von Ananas?“ Der Alte drehte sich zu Oleg um, erklärte: „Ananas ist eine tropische Frucht mit einem ganz spezifischen Geschmack.“
„Schon verstanden“, sagte Oleg. „Ein ulkiges Wort … Mutter, mach die Suppe warm, wir müssen bald los.“
„Denk an das Papier“, wiederholte der Alte, „und wenn’s ein Dutzend Blätter sind.“
„Du bekommst dein Papier“, sagte Thomas.
Jene, die aufbrechen sollten, versammelten sich am Zauntor, die anderen fanden sich zu ihrer Verabschiedung ein. Alle gaben sich den Anschein, als handle es sich um einen gewöhnlichen Marsch, etwa zum Sumpf, um Wurzeln zu holen, doch das Lebewohl war wie für immer.
So jedenfalls empfand es Oleg.