Gebirgspass
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Auf einem fremden Planeten k?mpft seit sechzehn Jahren ein H?uflein Erdenmenschen den Kampf um’s ?berleben.
Durch eine Havarie ihres Raumschiffes, durch hohe Radioaktivit?t im Schiff und eisige K?lte au?erhalb gezwungen, den Landeplatz zu verlassen, sto?en sie endlich nach qualvoller, viele Todesopfer kostender ?berwindung einer Gebirgskette auf ein w?rmendes Niederungsgebiet. Die ?berlebenden versuchen, sich der „Wildnis“ anzupassen. Die „Erdgeborenen“ wissen um die Gefahr des Vergessens, ahnen den bereits sp?rbaren R?ckfall in eine „Urzeit“, wenn es ihnen nicht gelingt, moralische und ethische Werte der menschlichen Zivilisation und deren jahrtausendealtes Wissen weiterzugeben an die „Jugend“, damit diese die Kraft aufbringt, eines Tages den Pa? zu bezwingen, um zu dem Raumschiff zu gelangen, in der Hoffnung auf eine R?ckkehr zur Erde …
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„Das nächste Mal“, sagte Oleg.
„Ja … in drei Jahren.“
„Nein, in einem.“
„Nur daß dieses eine Jahr nach unserer Rechnung drei bedeutet. Dabei bin ich schwach auf der Lunge.“
„Bis zum Winter ist es noch eine Weile hin, dann bist du wieder gesund.“
Oleg begriff, daß er nicht das sagte, was das Mädchen mit dem breiten weißen Gesicht von ihm erwartete. Wenn sie vom Paß und dem Marsch dorthin sprach, hatte sie etwas ganz anderes im Sinn: Sie wünschte sich, daß Oleg immer bei ihr wäre, denn sie hatte Angst allein. Oleg bemühte sich, höflich zu sein, doch das gelang ihm nicht immer. Er ärgerte sich über Lis, weil ihre Augen stets um etwas zu bitten schienen.
Kristina erhob sich vom Bett, griff nach ihrem Stock und tappte zum Herd. Sie kam in allem allein zurecht, zog es aber vor, sich von den Nachbarn helfen zu lassen. „Das ist doch zum Verrücktwerden,“ murmelte sie. „Ich, eine angesehene Wissenschaftlerin, eine Frau, früher berühmt für ihre Schönheit, bin gezwungen, in diesem Stall zu leben, von allen verlassen, vom Schicksal gedemütigt …“ „Oleg“, sagte Lis und stützte sich auf den Ellbogen. Ihre große weiße Brust kam zum Vorschein, und Oleg wandte sich ab. „Geh nicht mit ihnen, Oleg. Du kommst nicht wieder, ich weiß es, du kommst nicht wieder. Ich habe so eine Vorahnung …“
„Soll ich dir Wasser bringen?“ fragte Oleg.
„Es ist noch Wasser da“, erwiderte Lis. „Du willst nicht auf mich hören. Aber tu’s ein einziges Mal im Leben, bitte!“
„Ich muß jetzt los.“
„Tu, was du nicht lassen kannst“, sagte Lis.
Als er schon an der Tür war, rief sie ihm hinterher.
„Sieh nach Oleshka, ob du dort eine Medizin gegen den Husten findest. Für Kristina. Wirst du’s auch nicht vergessen?“
„Ich werd dran denken.“
„Natürlich wird er’s vergessen“, sagte Kristina, „und das wär nicht mal verwunderlich.“
„Oleg!“
„Ja?“
„Du hast mir nicht auf Wiedersehen gesagt.“
„Auf Wiedersehen.“
Der Alte wusch sich über dem Becken in der Küche.
„Große Tiere habt ihr da erlegt“, sagte er, „nur das Fell ist schlecht. Es ist Sommerfell.“
„Dick und Sergejew haben sie geschossen.“ „Du bist verärgert. Warst du bei Kristina?“
„Ja, dort ist alles in Ordnung. Ihr müßt ihnen neues Öl bringen, und ihre Kartoffeln gehen zur Neige.“
„Kannst beruhigt sein. Komm doch auf einen Sprung zu mir rein, wir unterhalten uns noch bißchen, bevor ihr aufbrecht.“
„Wär’s nicht günstiger, wir gingen zu mir?“
„Bei mir ist’s jetzt auch ruhig, die Zwillinge spielen draußen.“
„Aber bleib nicht so lange!“ rief ihm die Mutter vom Zaun aus nach.
Der Alte lächelte. Oleg nahm das Handtuch vom Haken und hielt es ihm hin, damit er sich mit seiner einen Hand abtrocknen konnte. Die Rechte hatte der Alte vor fünfzehn Jahren eingebüßt, beim ersten Versuch, zum Gebirgspaß vorzudringen.
Oleg begab sich ins Zimmer des Alten, setzte sich an den Tisch, der von den Ellbogen der Schüler blankgewetzt war, schob das selbstgebastelte Rechenbrett mit den getrockneten Nüssen anstelle der Steine beiseite. Wie oft hatte auch er als Schüler an diesem Tisch gesessen. Einige tausend Male. Fast alles, was er wußte, hatte er an diesem Tisch erfahren.
„Dich fortzulassen, fällt mir am allerschwersten“, sagte der Alte, als er ihm gegenüber auf dem Lehrerstuhl Platz genommen hatte. „Ich hab gehofft, du würdest in ein paar Jahren meine Stelle einnehmen und statt meiner die Kinder unterrichten.“
„Ich komme zurück“, sagte Oleg. Doch seine Gedanken waren bei Marjana: Was mochte sie jetzt tun? Die Pilze hatte sie inzwischen eingeweicht, danach ihr Herbarium neu sortiert, ja, das bestimmt. Ob sie am Packen war? Mit ihrem Vater sprach? Oder schlief?
„Hörst du mir überhaupt zu?“
„Aber ja, natürlich.“
„Und doch hab ich darauf gedrungen, daß man dich mitnimmt zum Paß. Für dich ist es wichtiger als für Dick oder Marjana. Du bist dort gewissermaßen die Verkörperung meiner Augen, meiner Hände.“
Der Alte hob seine Hand hoch und betrachtete sie so interessiert, als sähe er sie zum ersten Mal. Er hing seinen Gedanken nach. Oleg schwieg, musterte den Raum. Es war eine Angewohnheit des Alten, ganz unvermittelt für ein oder zwei Minuten zu verstummen. Jeder hatte seine Schwächen. Die Flamme der Lampe spiegelte sich in dem glänzenden, stets sauberen Mikroskop, dem das Hauptglas fehlte. Sergejew hatte dem Alten schon tausendmal erklärt, daß sie es sich nicht leisten könnten, ein leeres und damit unnützes Rohr als Verzierung auf dem Bord zu belassen, er wollte es für seine Werkstatt. ‚Borja‘, hatte er gesagt, ‚ich mach zwei herrliche Messer draus.‘ Doch der Alte rückte das Mikroskop nicht heraus. „Entschuldige“, sagte der Greis. Er zwinkerte zweimal mit den gütigen grauen Augen und strich über seinen sorgfältig gestutzten weißen Bart, der ihm von Tante Luisa aus unerfindlichem Grund den Spitznamen ‚Kaufmann‘ eingetragen hatte. „Entschuldige, ich habe nachgedacht.
Und weißt du, worüber? Daß es in der Geschichte der Erde schon früher Fälle gab, wo aus dem oder jenem unglücklichen Umstand heraus eine kleine Gruppe Menschen plötzlich von der allgemeinen Zivilisation abgeschnitten war. Damit aber wären wir schon bei der qualitativen Analyse …“
Der Alte verstummte erneut und kaute auf seinen Lippen herum, er hatte sich abermals in seine Gedanken vertieft. Oleg kannte das schon. Es gefiel ihm, bei dem alten Mann zu sitzen, einfach so dazusitzen und zu schweigen. Ihm schien dann immer, der Alte habe so viel Wissen in sich gespeichert, daß selbst die Luft des Raumes davon ausgefüllt war.
„Dem einen Menschen genügen zur Rückentwicklung wenige Jahre, vorausgesetzt, er war eine tabula rasa. Es ist bekannt, daß Kleinkinder, die aus irgendwelchen Gründen unter Wölfe oder Tiger gerieten — solche Fälle hat es in Indien und Afrika ja gegeben —, nach einigen Jahren hoffnungslos hinter ihren Altersgefährten zurückblieben.
Sie wurden debil. Debil bedeutet …“
„Ich weiß …“, sagte Oleg. „Entschuldige. Es gelang nicht, sie der Menschheit zurückzugeben. Sie gingen sogar nur noch auf allen Vieren.“
„Und wie steht’s mit Erwachsenen?“
„Einen Erwachsenen würden die Wölfe nicht annehmen.“
„Und wenn er auf eine unbewohnte Insel geriete?“
„Da gibt’s verschiedene Varianten, dennoch entwickelt sich der Mensch unausweichlich zurück … Die Stufe der Degradation freilich …“ Der Alte sah Oleg an, der nickte — er kannte dieses Wort. „Die Stufe der Degradation hängt vom Niveau ab, auf dem sich der Betreffende zum Zeitpunkt der Isolation befand, auch von seinem Charakter.
Doch man kann kein historisches Experiment auf einer einzelnen Person begründen. Wir sprachen stets vom Sozium, der Gruppe. Kann sich also eine Gruppe von Menschen im Falle einer Isolation auf dem kulturellen Niveau halten, auf dem sie sich zum Zeitpunkt der Abtrennung befand?“
„Sie kann“, sagte Oleg. „Wir sind so ein Beispiel.“
„Sie kann nicht“, widersprach der Alte. „Aber während für einen Säugling fünf Monate zur Rückentwicklung genügen, braucht eine Gruppe, selbst wenn sie überlebt, zwei bis drei Generationen dazu, ein Stamm — noch mehr Generationen … ein Volk möglicherweise ein ganzes Jahrhundert. Umkehrbar jedoch ist der Prozeß nicht, das hat die Geschichte erwiesen. Nehmen wir mal die australischen Aborigenes …“
Olegs Mutter kam herein, sie hatte sich gekämmt und einen frischen Rock angezogen.
„Ich sitz noch ein bißchen bei euch“, sagte sie.
„Tu das, Irotschka“, sagte der Alte. „Wir unterhalten uns gerade über den sozialen Progreß, genauer gesagt, Regreß.“
„Ja, ja ich weiß“, erwiderte die Mutter. „Du bist der Meinung, daß wir in einiger Zeit auf allen vieren zu laufen beginnen. Ich aber halte dir entgegen: Bis es dazu kommt, sind wir alle verreckt. Gott sei Dank. Es steht mir bis hier.“
„Ihm aber nicht“, entgegnete der Alte. „Und meinen Zwillingen auch nicht.“