Der Schwarm
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Ein Fischer verschwindet vor Peru, spurlos. Цlbohrexperten stoЯen in der norwegischen See auf merkwьrdige Organismen, die hunderte Quadratkilometer Meeresboden in Besitz genommen haben. Wдhrenddessen geht mit den Walen entlang der Kьste British Columbias eine unheimliche Verдnderung vor. Nichts von alledem scheint miteinander in Zusammenhang zu stehen. Doch Sigur Johanson, norwegischer Biologe und Schцngeist, glaubt nicht an Zufдlle. Auch der indianische Walforscher Leon Anawak gelangt zu einer beunruhigenden Erkenntnis: Eine Katastrophe bahnt sich an. Doch wer oder was lцst sie aus? Wдhrend die Welt an den Abgrund gerдt, kommen die Wissenschaftler zusammen mit der britischen Journalistin Karen Weaver einer ungeheuerlichen Wahrheit auf die Spur.
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Sverdrup lächelte verlegen.
»Entschuldigen Sie, Dr. Johanson, ich verstehe nicht viel von diesen Tieren, aber es interessiert mich. Warum brauchen sie keine Kiefer?«
»Weil sie symbiotisch leben«, erklärte Johanson. »Sie nehmen Bakterien in sich auf, die wiederum im Methanhydrat leben …«
»Hydrat?«
Johanson warf Lund einen kurzen Blick zu.
Sie zuckte die Achseln. »Erklär’s ihm.«
»Es ist ganz einfach«, sagte Johanson. »Sie haben vielleicht gehört, dass die Ozeane voller Methan sind.«
»Ja. Man liest es im Augenblick ständig.«
»Methan ist ein Gas. Es lagert in großen Vorkommen im Meeresboden und in den Kontinentalabhängen. Einiges davon gefriert an der Bodenoberfläche. Wasser und Methan verbinden sich zu einer Art Eis, das nur unter hohem Druck und niedrigen Temperaturen bestehen kann. Darum findet man es erst ab einer gewissen Tiefe. Dieses Eis nennt man Methanhydrat. Alles klar bis hierher?«
Sverdrup nickte.
»Gut. Nun gibt es überall im Ozean Bakterien. Einige davon verwerten Methan. Sie fressen es und scheiden Schwefelwasserstoff aus. Bakterien sind zwar mikroskopisch klein, treten aber in solch gewaltigen Mengen auf, dass sie den Meeresboden wie Matten überziehen. Wir sprechen vom Bakterienrasen. Solche Rasen finden Sie bevorzugt dort, wo Methanhydrate lagern. Fragen?«
»Noch nicht«, sagte Sverdrup. »Ich vermute, jetzt kommen Ihre Würmer ins Spiel.«
»Ganz richtig. Es gibt Würmer, die leben von den Ausscheidungen der Bakterien. Sie gehen eine symbiotische Beziehung mit ihnen ein. In manchen Fällen frisst der Wurm die Bakterien und trägt sie im Innern, in anderen Fällen leben sie auf seiner Außenhaut. So oder so versorgen sie ihn mit Nahrung. Den Wurm zieht es darum auf die Hydrate. Er macht es sich darauf gemütlich, genehmigt sich einen ordentlichen Haps Bakterien und tut ansonsten nicht sehr viel. Er muss sich zum Beispiel nirgendwo eingraben, denn er frisst ja nicht das Eis, sondern die Bakterien darauf. Alles, was geschieht, ist, dass er durch sein Strudeln eine flache Mulde ins Eis schmilzt, wo er zufrieden verbleibt.«
»Ich verstehe«, sagte Sverdrup langsam. »Tiefer vorzudringen, dazu hat der Wurm keine Veranlassung. Aber andere Würmer tun das?«
»Es gibt die unterschiedlichsten Arten. Manche fressen Sediment oder Stoffe, die im Sediment vorhanden sind, oder sie verarbeiten Detritus.«
»Detritus?«
»Alles, was von der Meeresoberfläche in die Tiefsee sinkt. Kadaver, Partikel, Reste aller Art. Eine ganze Reihe von Würmern, die nicht in Symbiosen mit Bakterien leben, verfügen über kräftige Kiefer, um Beute zu packen oder um sich irgendwo einzugraben.«
»Jedenfalls braucht der Eiswurm keine Kiefer.«
»Vielleicht doch, um winzige Mengen Hydrat zu zermahlen und Bakterien herauszufiltern. Ich sagte ja, er hat welche. Aber keine Hauer wie Tinas Exemplare.«
Sverdrup schien zunehmend Spaß an der Sache zu finden. »Wenn die Würmer, die Tina entdeckt hat, also mit Methan fressenden Bakterien in Symbiose leben …«
»Müssen wir uns fragen, wozu dieses Waffenarsenal aus Kiefern und Zähnen dient.« Johanson nickte. »Jetzt wird’s nochmal spannend. Die Taxonomen haben nämlich einen zweiten Wurm gefunden, auf den die Struktur des Kieferapparats zu passen scheint. Er heißt Nereis, ein Räuber, der in allen möglichen Tiefen vorkommt. Tinas kleiner Liebling hat also Kiefer und Zähne von Nereis, allerdings in einer Ausprägung, dass man eher an einen prähistorischen Vorfahren von Nereis denken möchte.
Sozusagen an Tyrannereis rex.«
»Klingt unheimlich.«
»Es klingt nach Bastard. Wir müssen die Mikroskopie und die genetische Analyse abwarten.«
»Am Kontinentalhang gibt es Methanhydrate ohne Ende«, sagte Lund. Sie zupfte nachdenklich an ihrer Unterlippe. »Es würde also passen.«
»Warten wir’s ab.« Johanson räusperte sich und musterte Sverdrup. »Und was treiben Sie so, Kare? Auch im Ölgeschäft?«
Sverdrup schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er fröhlich. »Mich interessiert einfach nur alles, was man essen kann. Ich bin Koch.« »Überaus angenehm! Sie ahnen nicht, wie ermüdend es ist, sich tagein, tagaus mit Akademikern abzugeben.«
»Er kocht phantastisch!«, sagte Lund.
Wahrscheinlich nicht nur das, dachte Johanson. Ein Jammer. Er würde die mitgebrachten Leckereien trotzdem mit Lund teilen. Im Grunde war er erleichtert. Tina Lund verlockte ihn ein ums andere Mal, aber kaum war sie aus dem Zimmer, dankte er dem Schicksal jedes Mal aufs Neue. Sie war ihm einfach zu anstrengend.
»Und wie habt ihr euch kennen gelernt?«, fragte er, ohne dass es ihn sonderlich interessierte.
»Ich habe das Fiskehuset letztes Jahr übernommen«, sagte Sverdrup. »Tina war einige Male hier, aber wir haben uns eigentlich immer nur gegrüßt.« Er legte den Arm um ihre Schulter, und sie rückte näher zu ihm heran. »Bis letzte Woche.«
»Es war ungefähr so, als ob der Blitz einschlägt«, sagte Lund. »Ja«, meinte Johanson, während er zum Himmel sah. Aus der Ferne näherte sich ein Knattern. »Das sieht man.«
Eine halbe Stunde später saßen sie im Helikopter, zusammen mit einem Dutzend Ölarbeitern. Johanson sah schweigend hinaus. Unter ihnen zog die eintönig graue, zerklüftete Oberfläche der See dahin. Immer wieder überflogen sie Gas— und Öltanker, Frachter und Fähren. Dann gerieten die Plattformen in Sicht. Seit eine amerikanische Ölgesellschaft in einer stürmischen Winternacht des Jahres 1969 Öl in der Nordsee entdeckt hatte, hatte sich das Nordmeer zu einer bizarr anmutenden Industrielandschaft gewandelt, die auf Pfählen ruhte und sich von Holland bis zur Haltenbank vor Trondheim erstreckte. An klaren Tagen sah man von einem Boot aus Dutzende der gigantischen Plattformen auf einen Blick. Aus der Perspektive des Helikopters wirkten sie wie Spielzeug für Riesen.
Böen schüttelten die Maschine kräftig durch. Es ging auf und ab. Johanson rückte seinen Kopfhörer zurecht. Sie alle trugen Ohrenschützer und dicke Schutzanzüge. Es herrschte eine solche Enge, dass ihre Knie einander berührten und jede Bewegung koordiniert werden musste. Unterhaltungen fanden bei dem Lärm nicht statt. Lund hatte die Augen geschlossen. Sie flog zu oft hinaus, als dass ihr das Gerümpel etwas ausgemacht hätte.
Der Hubschrauber legte sich in die Kurve und drosch weiter nach Südwesten. Ihr Ziel, Gullfaks, war eine Ansammlung von Plattformen im Besitz der staatlichen Ölgesellschaft Statoil. Die Förderanlage Gullfaks C gehörte zu den größten Plattformen am oberen Nordseerand. Mit 280 Menschen bildete sie fast eine kleine Gemeinde. Genau genommen hätte Johanson dort nicht einmal aussteigen dürfen. Vor Jahren hatte er den vorgeschriebenen Kurs absolviert, den man nachweisen musste, um Zugang zu einer Plattform zu erhalten. Inzwischen hatten sich die Sicherheitsbestimmungen verschärft, aber Lund hatte ihre Kontakte spielen lassen.
Ohnehin würden sie nur zwischenlanden, um gleich darauf an Bord der Thorvaldson zu gehen, die seit einer guten Stunde vor Gullfaks lag.
Eine heftige Turbulenz ließ den Helikopter plötzlich absacken. Johanson umklammerte die Sessellehnen. Niemand sonst reagierte. Die Passagiere, vorwiegend Männer, waren Stürme anderen Kalibers gewohnt. Lund drehte den Kopf, öffnete kurz die Augen und zwinkerte ihm zu.
Kare Sverdrup war schon irgendwie ein Glückspilz.
Ob der Glückspilz mit Lunds Lebenstempo Schritt halten konnte, würde sich erweisen.
Nach einer Weile ging der Helikopter runter und flog eine neuerliche Kurve. Das Meer kippte Johanson entgegen. Ein weißes Hochhaus kam in Sicht, das über dem Wasser zu schweben schien. Sie begannen mit dem Landeanflug. Einen Moment lang war Gullfaks C vollständig im Seitenfenster zu sehen. Ein Koloss auf vier Stahlbetonsäulen, eineinhalb Millionen Tonnen schwer, mit einer Gesamthöhe von fast vierhundert Metern. Über die Hälfte davon lag unter Wasser, wo die Säulen einem Wald von Tanks entwuchsen. Das weiße Hochhaus, der Wohntrakt, machte nur einen kleinen Bereich des Giganten aus. Der Hauptteil präsentierte sich dem Laien als Gewirr übereinander geschichteter Decks, voll gestopft mit Technik und rätselhaften Maschinen, verbunden durch Bündel meterdicker Rohrleitungen, flankiert von Versorgungskränen und gekrönt von der Kathedrale der Ölarbeiter, dem Förderturm. Aus der Spitze eines riesigen stählernen Auslegers, weit draußen über dem Meer, schoss eine nie erlöschende Flamme — Gas, das vom Öl getrennt und abgefackelt wurde.