Liebe Deinen Nachsten
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»Was?«Ammers vergaß vor Überraschung den Mund zu schließen.
»Leberkrebs! Typischen Leberkrebs!«Kern sah, daß er getroffen hatte. Sofort stürzte er sich weiter darauf.»Ich bin Mediziner, ich weiß das! In einem Jahr geht es los mit rasenden Schmerzen! Sie werden einen furchtbaren Tod haben! Es ist nichts dagegen zu machen! Nichts!«
»Das ist doch…!«
»Gottes Mühlen!«zischte Kern.»Wie sagten Sie? Langsam, langsam! Jahrelang!«
»Herr Gendarm!«zeterte Ammers.»Ich verlange, daß Sie mich schützen vor diesem Individuum!«
»Machen Sie Ihr Testament«, fauchte Kern.»Es ist das einzige, was Ihnen noch übrigbleibt! Von innen zerfressen und verfaulen werden Sie!«
»Herr Gendarm!«Ammers blickte hilfesuchend und wild um sich.»Sie haben mich vor dieser Beleidigung zu schützen.«
Der erste Beamte sah ihn interessiert an.»Bis jetzt beleidigt er Sie noch nicht«, erklärte er dann.»Bis jetzt macht er nur medizinische Feststellungen.«
»Ich verlange, daß das alles zu den Akten genommen wird!«schrie Ammers.
»Sehen Sie nur!«Kern zeigte mit dem Finger auf Ammers, der zurückzuckte, als wäre dieser Finger eine Schlange.»Die bleigraue Gesichtshaut in der Erregung, die gelblichen Augäpfel… ganz sichere Anzeichen! Ein Todeskandidat! Man kann nur noch für ihn beten!«
»Todeskandidat!«tobte Ammers,»nehmen Sie Todeskandidat zu den Akten!«
»Todeskandidat ist ebenfalls keine Beleidigung«, erklärte der erste Beamte mit offener Schadenfreude.»Sie werden nicht darauf klagen können. Wir sind alle Todeskandidaten.«
»Die Leber zersetzt sich bei lebendigem Leibe!«Kern sah, daß Ammers plötzlich blaß geworden war. Er machte einen Schritt vorwärts. Ammers wich vor ihm zurück wie vor dem Satan.»Anfangs merkt man nichts!«erklärte Kern mit wütendem Triumph.»Es ist auch kaum etwas festzustellen. Wenn man es aber merkt, ist es schon zu spät. Leberkrebs! Der langsamste und fürchterlichste Tod, den es gibt!«
Ammers starrte Kern nur noch an. Er erwiderte nichts mehr. Unwillkürlich griff er mit der Hand in die Gegend der Leber.
»Seien Sie jetzt ruhig!«schnauzte der zweite Beamte auf einmal scharf.»Es ist genug damit! Setzen Sie sich dorthin und antworten Sie auf unsere Fragen. Seit wann sind Sie in der Schweiz?«
Kern wurde am nächsten Morgen dem Bezirksgericht vorgeführt. Der Richter war ein älterer, dicker Mann mit einem runden, roten Gesicht. Er war menschlich, aber er konnte Kern nicht helfen. Die Paragraphen waren eindeutig.
»Warum haben Sie sich nicht bei der Polizei gemeldet, als Sie illegal über die Grenze kamen?«fragte er.
»Weil ich dann sofort wieder ausgewiesen worden wäre«, erwiderte Kern müde. -»Ja, natürlich, das wären Sie.«
»Und drüben auf der anderen Seite hätte ich mich wieder sofort beim nächsten Polizeiposten melden müssen, wenn ich nicht das Gesetz hätte verletzen wollen. Von dort wäre ich dann in der nächsten Nacht zurück in die Schweiz gebracht worden. Und von der Schweiz wieder nach drüben. Und von drüben wieder zurück. So wäre ich langsam zwischen den Grenzposten verhungert. Zumindest wäre ich ewig von einer Polizeiwache zur andern gewandert. Was sollen wir denn anderes machen, als gegen das Gesetz verstoßen?«
Der Richter hob die Schultern.»Ich kann Ihnen nicht helfen. Ich muß Sie verurteilen. Die Mindeststrafe ist vierzehn Tage Gefängnis. Es ist das Gesetz. Wir müssen unser Land vor der Überschwemmung durch Flüchtlinge schützen.«
»Ich weiß.«
Der Richter sah in seine Akten.»Alles, was ich tun kann, ist für Sie eine Eingabe zu machen an das Obergericht, daß Sie nur Haft bekommen und kein Gefängnis.«
»Danke vielmals«, sagte Kern.»Aber das ist mir gleich. Darin habe ich keinen Ehrgeiz mehr.«
»Das ist gar nicht gleich«, erklärte der Richter mit einem gewissen Eifer.»Im Gegenteil, es ist sogar sehr wichtig für die bürgerlichen Ehrenrechte. Wenn Sie Haft bekommen, gelten Sie nicht als vorbestraft, das wissen Sie vielleicht noch nicht!«
Kern blickte den ahnungslosen, gutmütigen Menschen eine Weile an.»Bürgerliche Ehrenrechte«, sagte er dann.»Was soll ich damit? Ich habe ja nicht einmal die einfachsten bürgerlichen Rechte! Ich bin ein Schatten, ein Gespenst, ein bürgerlicher Toter. Was sollen mir da die Dinge, die Sie Ehrenrechte nennen?«
Der Richter schwieg eine Weile.»Sie müssen doch irgendwelche Papiere bekommen können«, sagte er schließlich.»Vielleicht kann man über ein deutsches Konsulat einen Ausweis für Sie beantragen!«
»Das hat ein tschechisches Gericht vor einem Jahr bereits getan. Der Antrag ist abgelehnt worden. Wir existieren für Deutschland nicht mehr. Für die übrige Welt nur noch als Subjekte für die Polizei.«
Der Richter schüttelte den Kopf.»Hat denn der Völkerbund noch nichts für Sie getan? Sie sind doch viele Tausende; und Sie müssen doch irgendwie existieren dürfen!«
»Der Völkerbund berät seit ein paar Jahren darüber, uns Identitätspapiere zu geben«, erwiderte Kern geduldig.»Jedes Land versucht auch da, uns dem andern zuzuschieben. Es wird wohl also noch eine Anzahl von Jahren dauern.«
»Und inzwischen…«
»Inzwischen… Sie sehen ja…«
»Aber mein Gott!«sagte der Richter plötzlich ziemlich ratlos in seinem breiten, weichen Schweizer Dialekt»Das ist ja ein Problem! Was soll denn nur aus Ihnen werden?«
»Das weiß ich nicht. Wichtiger ist, was jetzt mit mir geschieht.«
Der Richter fuhr sich über das glänzende Gesicht und sah Kern an.»Ich habe einen Sohn«, sagte er,»der ist ungefähr so alt wie Sie. Wenn ich mir vorstellen sollte, daß er herumgejagt würde, ohne irgendeinen anderen Grund, als daß er geboren worden ist…«
»Ich habe einen Vater«, erwiderte Kern.»Wenn Sie ihn sähen…«
Er blickte zum Fenster hinaus. Die Herbstsonne schien friedlich auf einen Apfelbaum, der voll von Früchten hing. Da draußen war die Freiheit. Da draußen war Ruth.
»Ich möchte Sie etwas fragen«, sagte der Richter nach einer Weile.»Es gehört nicht mehr dazu. Aber ich möchte Sie es doch fragen. Glauben Sie noch an irgend etwas?«
»O ja; ich glaube an den heiligen Egoismus! An die Unbarmherzigkeit! An die Lüge! An die Trägheit des Herzens!«
»Das habe ich gefürchtet. Wie sollten Sie auch anders…«
»Es ist noch nicht alles«, erwiderte Kern ruhig.»Ich glaube auch an Güte, an Kameradschaft, an Liebe und an Hilfsbereitschaft! Ich habe sie kennengelernt. Mehr vielleicht als mancher, dem es gut geht.«
Der Richter stand auf und kam schwerfällig um seinen Stuhl herum auf Kern zu.»Gut, so was zu hören«, murmelte er.»Wenn ich nur wüßte, was ich für Sie tun könnte!«
»Nichts«, sagte Kern.»Ich kenne die Gesetze auch schon, und ich habe einen Bekannten, der ist sogar Spezialist darin. Schicken Sie mich ins Gefängnis.«
»Ich schicke Sie in Untersuchungshaft und gebe Ihren Fall an das Obergericht weiter.«
»Wenn es Ihnen das Urteil erleichtert, gern. Wenn es aber länger dauert, möchte ich lieber ins Gefängnis.«
»Es dauert nicht länger, dafür werde ich sorgen.«
Der Richter nahm ein riesiges Portemonnaie aus der Tasche.»Es gibt ja leider nur diese primitive Form von Hilfe«, sagte er zögernd und nahm einen zusammengefalteten Schein heraus.»Es ist mir peinlich, nichts anderes für Sie tun zu können…«
Kern nahm das Geld.»Es ist das einzige, was uns wirklich hilft«, erwiderte er und dachte: Zwanzig Franken! Welch ein Glück! Damit kommt Ruth bis zur Grenze!
Er wagte nicht, ihr zu schreiben. Es wäre dadurch herausgekommen, daß sie schon langer im Lande war, und sie hätte verurteilt werden können. So hatte sie immer noch die Möglichkeit, einfach ausgewiesen zu werden oder, wenn sie Glück hatte, ohne weiteres aus dem Krankenhaus entlassen zu werden.
Am ersten Abend war er unglücklich und unruhig und konnte nicht schlafen. Er sah Ruth fiebernd im Bett liegen und schreckte auf, weil er geträumt hatte, sie würde begraben. Er hockte sich auf die Pritsche und saß lange Zeit so, die Arme um die Knie gepreßt. Er wollte sich nicht unterkriegen lassen, aber er fühlte, daß es stärker sein könnte als er. Es ist die Nacht, dachte er, die Nacht und die Angst der Nacht. Die Angst am Tage ist vernünftig; die Angst der Nacht ist ohne Grenzen.