Liebe Deinen Nachsten
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»Ja, sehr«, erwiderte sie.
Das Lokal verdunkelte sich, ein bunter Scheinwerfer huschte über die Tanzfläche, und eine hübsche schlanke Tänzerin wirbelte über das Parkett.
»Wunderbar, was?«fragte Binder und klatschte.
»Hervorragend!«Kern klatschte mit.
»Die Musik ist großartig, nicht wahr?«
»Erstklassig!«
Sie saßen da und waren sehr bereit, alles herrlich zu finden und leicht und fröhlich zu sein; aber es war etwas wie Staub und Asche in allem, und sie wußten nicht, woher es kam.
»Warum tanzen Sie nicht einmal zusammen?«fragte Binder.
»Wollen wir?«Kern stand auf.
»Ich glaube nicht, daß ich es kann«, sagte Ruth.
»Ich kann es auch nicht. Das macht es einfacher.«
Ruth zögerte einen Augenblick; dann ging sie mit Kern zur Tanzfläche. Die bunten Scheinwerfer glitten über die Tanzenden.»Da kommt gerade violettes Licht«, sagte Kern.»Eine gute Gelegenheit, unterzutauchen!«
Sie tanzten vorsichtig und etwas scheu miteinander. Allmählich wurden sie sicherer, besonders als sie merkten, daß niemand sie beobachtete.»Wie schön das ist, mit dir zu tanzen«, sagte Kern.»Es gibt immer neue schöne Dinge mit dir. Nicht allein, daß du da bist… alles rundherum wird auch anders und schön.«
Sie rückte ihre Hand näher an seine Schulter und lehnte sich an ihn. Langsam glitten sie in den Rhythmus der Musik. Die Scheinwerfer spielten wie farbiges Wasser über sie hin, und einen Augenblick vergaßen sie alles andere – sie waren nur noch weiches, junges Leben, das zueinanderstrebte und gelöst war von den Schatten der Angst, des Versteckens und des Mißtrauens.
Die Musik brach ab. Sie gingen zu ihrem Tisch zurück. Kern sah Ruth an. Ihre Augen glänzten, und ihr Gesicht war bewegt. Es hatte plötzlich einen strahlenden, selbstvergessenen und fast kühnen Ausdruck. Verdammt, dachte er, leben zu können, wie man wollte… und war eine Sekunde furchtbar erbittert.
»Sehen Sie mal, wer da kommt!«sagte Binder.
Kern blickte auf. Der Kommerzienrat Arnold Oppenheim durchquerte den Raum und ging dem Ausgang zu. Neben ihrem Tisch stutzte er und blieb stehen. Eine Weile starrte er die drei an.»Ganz interessant!«knurrte er dann.»Äußerst lehrreich!«
Niemand antwortete.»Das hat man also für seine Güte und Unterstützung!«fuhr Oppenheim empört fort.»In Bars wird das Geld sofort wieder verjubelt!«
»Ein bißchen Vergessen ist manchmal notwendiger als ein Abendessen, Herr Kommerzienrat«, erwiderte Binder ruhig.
»Redensarten! So junge Leute haben in Bars nichts zu suchen.«
»Auf der Landstraße auch nicht«, antwortete Binder.
»Darf ich bekannt machen?«sagte Kern. Er wandte sich an Ruth.»Der Herr, der sich hier über uns aufregt, ist der Kommerzienrat Oppenheim. Er hat mir ein Stück Seife abgekauft. Ich habe daran vierzig Centimes verdient.«
Oppenheim sah ihn verdutzt an. Dann schnaufte er etwas, das wie»Frechheit«klang, und stapfte davon.
»Was war denn das?«fragte Ruth.
»Das Alltäglichste von der Welt«, erwiderte Binder mit einer Stimme voll Hohn.»Bewußte Wohltätigkeit. Härter als Stahl.«
Ruth stand auf.»Er wird doch sicher die Polizei holen! Wir müssen fort.«
»Dazu ist er viel zu feige. Es würde ihm Unbequemlichkeiten machen.«
»Wir wollen doch lieber gehen!«-»Gut.«
Binder bezahlte, und sie brachen auf und gingen zu ihrer Pension. In der Nähe des Bahnhofs kamen ihnen zwei Männer entgegen.»Achtung!«flüsterte Binder.»Ein Detektiv! Unbefangen bleiben.«
Kern fing leise an zu pfeifen, nahm Ruths Arm und ging langsamer. Er spürte, daß Ruth schneller gehen wollte. Er drückte ihren Arm, lachte und schlenderte langsam weiter.
Die beiden Männer gingen vorüber. Einer von ihnen trug einen steifen Hut und rauchte gleichmütig eine Zigarre. Der andere war Vogt. Er erkannte sie und machte ein fast unmerkliches bedauerndes Zeichen mit den Augen.
Kern sah sich nach einer Weile um. Die beiden Männer waren verschwunden.»Richtung Basel, Zug zwölf Uhr fünfzehn zur Grenze«, erklärte Binder fachmännisch.
Kern nickte.»Hat einen zu menschlichen Richter gehabt.«
Sie gingen weiter. Ruth fröstelte.»Es ist auf einmal etwas unheimlich hier«, sagte sie.
»Frankreich«, erwiderte Binder.»Paris. Eine große Stadt ist das beste.«
»Warum gehen Sie nicht auch hin?«
»Ich kann kein Wort Französisch. Und dann bin ich Spezialist für die Schweiz. Außerdem…«Er brach ab.
Sie gingen schweigend weiter. Ein kühler Wind kam vom See. Der Himmel stand groß und eisengrau und fremd über ihnen.
VOR STEINER SASS der ehemalige Rechtsanwalt Dr. Goldbach II vom Kammergericht Berlin. Er war das neue telepathische Medium. Steiner hatte ihn im Café Sperler gefunden.
Goldbach war etwa fünfzig Jahre alt und als Jude aus Deutschland ausgewiesen worden. Er handelte mit Krawatten und schwarzen juristischen Ratschlägen. Damit verdiente er aber nur gerade so viel, um nicht zu verhungern. Er hatte eine sehr schöne Frau von dreißig Jahren, die er liebte. Sie lebte vorläufig vom Verkauf ihres Schmuckes; aber er wußte, daß er sie wahrscheinlich nicht behalten würde. Steiner hatte seine Geschichte angehört und ihm die Stelle für die Abendvorstellungen verschafft. Tagsüber konnte er dann seinen übrigen Berufen nachgehen.
Nach kurzer Zeit zeigte es sich, daß Goldbach als Medium ungeeignet war. Er verwechselte alles und schmiß die Vorstellungen. Nachts saß er dann verzweifelt vor Steiner und flehte ihn an, ihn nicht hinauszuwerfen.
»Goldbach«, sagte Steiner,»heute war es besonders schlimm! So geht es wirklich nicht weiter! Sie zwingen mich ja, tatsächlich hellzusehen!«
Goldbach blickte ihn an wie ein sterbender Schäferhund.
»Es ist doch so einfach«, fuhr Steiner fort.»Die Anzahl Ihrer Schritte bis zur ersten Zeltstange bedeutet, die wievielte Stuhlreihe es ist. Rechtes Auge geschlossen bedeutet Dame – linkes Herr. Anzahl der Finger, unauffällig gezeigt, der wievielte von links. Vorgesetzter rechter Fuß: am Oberkörper versteckt – linker: Unterkörper. Je weiter vorgesetzt, desto höher oder tiefer. – Wir haben das System schon Ihretwegen geändert, weil Sie so zappelig sind.«
Der Anwalt fingerte nervös an seinem Kragen herum.»Herr Stemer«, sagte er dann schuldbewußt,»ich habe es auswendig gelernt, probe es jeden Tag… weiß der Himmel, es ist wie verhext…«
»Aber Goldbach!«sagte Steiner geduldig.»In Ihrer Praxis mußten Sie doch viel mehr im Kopf behalten.«
Goldbach rang die Hände.»Ich kann das Bürgerliche Gesetzbuch auswendig, ich kenne Hunderte von Zusätzen, Entscheidungen, glauben Sie mir, Herr Steiner, ich war mit meinem Gedächtnis der Schrecken der Richter… aber dieses hier ist wie verhext…«
Steiner schüttelte den Kopf.»Ein Kind kann das doch behalten. Acht verschiedene Zeichen, nicht mehr! Und dann noch vier für seltene Fälle.«
»Ich kenne sie ja! Mein Gott, ich übe sie ja täglich. Es ist nur die Aufregung…«
Goldbach saß klein und geduckt auf seiner Kiste und sah ratlos vor sich hin.
Steiner lachte.
»Aber Sie waren doch im Gerichtssaal nie aufgeregt! Sie haben doch große Prozesse durchgeführt, bei denen Sie eine schwierige Materie vollkommen und kaltblütig beherrschen mußten!«
»Jaja, das war leicht. Aber hier! Bevor es anfängt, weiß ich jede Einzelheit genau – doch sowie ich in die Bude trete, verwechsle ich alles in meiner Aufregung…«
»Weshalb, um Himmels willen, sind Sie denn so aufgeregt?«
Goldbach schwieg eine Weile.»Ich weiß es nicht«, sagte er dann leise.»Da kommt wohl vieles zusammen.«
Er erhob sich.»Wollen Sie es morgen noch einmal mit mir probieren, Herr Steiner?«
»Natürlich. Aber morgen muß es klappen. Sonst kommt uns Potzloch auf den Kopf!«
Goldbach fischte in der Tasche seines Jacketts umher und holte eine in Seidenpapier gewickelte Krawatte hervor. Er hielt sie Steiner hin.»Ich habe Ihnen hier eine Kleinigkeit mitgebracht. Sie haben so viel Mühe mit mir…«