Die Nacht von Lissabon
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„Hören Sie zu!" sagte ich. „Meine Frau ist hier. Ich muß meine Frau sprechen!"
„Sie auch?" Die Frau lachte. Sie schien nicht zornig zu sein, nur müde. „Ein neuer Trick! Jede Woche fällt euch was anderes ein!"
„Ich bin hier zum erstenmal!"
„Dafür bist du schon ganz munter. Geh zum Teufel!"
„Hören Sie doch zu", sagte ich auf deutsch. „Ich möchte, daß Sie einer Frau im Lager Nachricht geben, daß ich hier bin. Ich bin Deutscher. Ich war selbst eingesperrt! In Le Vernet!"
„Sieh einer an", sagte die Frau ruhig. „Deutsch kann er auch. Verfluchter Elsässer! Die Syphilis soll dich fressen, du Lump! Dich und deine verdammten Kollegen, die hier abends antreten! Jedem einzelnen von euch soll der Krebs wegfressen, was ihr uns da hinhaltet! Habt ihr denn überhaupt kein Gefühl, ihr Ferkel? Wißt ihr nicht, was ihr tut? Laßt uns in Ruhe! Laßt uns in Ruhe!" sagte sie laut und hart. „Ihr habt uns eingesperrt, ist das nicht genug? Laßt uns in Ruhe!" schrie sie.
Ich hörte andere kommen und sprang zurück. Die Nacht über blieb ich im Walde. Ich wußte nicht, wohin. Ich lag zwischen den Stämmen und sah das Licht ganz erlöschen und dann den Mond heraufkommen über die Landschaft, blaß und wie weißes Gold und schon mit Nebeln und Dunst und der Kühle des Herbstes. Am Morgen ging ich zurück nach unten. Ich fand jemand, der meinen Anzug gegen einen blauen Monteur-Overall tauschte.
Ich ging zurück zum Lager. Bei der Wache erklärte ich, ich müsse nach dem elektrischen Licht sehen. Mein Französisch war gut genug, so daß man mich einließ, ohne weiter zu fragen. Wer wollte auch schon freiwillig in ein Internierungslager?
Ich durchstreifte vorsichtig die Lagerstraßen. Die Frauen lebten wie in großen Kisten, die durch Vorhänge abgeteilt waren. Es gab einen unteren und einen oberen Stock in den Baracken. In der Mitte war ein Gang, und zu beiden Seiten hingen Vorhänge. Viele waren offen, und man konnte sehen, wie die Gelasse eingerichtet waren. Nur das Nötigste war da in den meisten; aber manche hatten trotzdem mit einem Tuch, ein paar Postkarten, einer Photographie eine persönliche Note bekommen, so armselig sie auch war. Ich strich durch die halbdunklen Baracken, und die Frauen hörten auf zu arbeiten und sahen mich an. „Nachrichten?" fragte mich eine.
„Ja — für jemand, der Helen heißt, Helen Baumann."
Die Frau dachte nach. Eine zweite kam hinzu. „Ist das nicht das Naziluder, das in der Kantine arbeitet?" fragte sie. „Die, die mit dem Arzt rumhurt?"
„Sie ist keine Nazi", sagte ich.
„Die in der Kantine auch nicht", erwiderte die erste Frau. „Ich glaube, sie heißt Helen."
„Sind hier Nazis?" fragte ich.
„Natürlich. Hier ist alles durcheinander. Wo sind die Deutschen jetzt?"
„Ich habe keine gesehen."
„Es soll eine Militärkommission kommen. Haben Sie etwas davon gehört?"
„Nein."
„Sie sollen kommen, um die Nazis aus den Lagern zu befreien. Aber die Gestapo soll auch kommen. Wissen Sie davon was?"
„Nein."
„Die Deutschen sollen sich nicht um die unokkupierte Zone kümmern."
„Das sähe ihnen ähnlich."
„Sie wissen nichts davon?"
„Gerüchte, sonst nichts."
„Von wem ist die Nachricht für Helen Baumann?"
Ich zögerte. „Von ihrem Mann. Er ist frei."
Die zweite Frau lachte. „Der wird staunen!"
„Kann man in die Kantine gehen?" fragte ich.
„Warum nicht? Sind Sie kein Franzose?"
„Elsässer."
„Haben Sie Angst?" fragte die zweite Frau. „Warum? Haben Sie was zu verbergen?"
„Gibt es heute noch jemand, der nichts zu verbergen hat?"
„Das können Sie ruhig noch einmal sagen", erwiderte die erste Frau. Die zweite sagte nichts. Sie musterte mich, als wäre ich ein Spion. Ihr Maiglöckchen-Parfüm umstand sie wie eine Wolke.
„Danke", sagte ich. „Wo ist die Kantine?" Die erste Frau beschrieb mir den Weg. Ich ging durch das Halbdunkel der Baracke, als hätte ich Spießruten zu laufen. Zu beiden Seiten tauchten Gesichter und forschende Augen auf. Ich fühlte mich, als wäre ich in einen Amazonenstaat geraten. Dann kam die Straße wieder, die Sonne und der müde Geruch der Gefangenschaft, der über jedem Lager steht wie eine graue Lasur.
Ich war wie blind. Ich hatte nie an Helens Treue oder Untreue gedacht. Es war zu sehr am Rande gewesen, zu unbedeutend; zu viel war geschehen, und nur am Leben zu bleiben war so wichtig gewesen, daß das andere dagegen kaum existiert hatte. Selbst wenn es mich gequält hätte in Le Veraet, dann wäre es abstrakt gewesen, ein Gedanke, eine Vorstellung, von mir selbst erfunden und ausgelöscht und wieder aufgenommen. Jetzt aber stand ich zwischen ihren Gefährtinnen. Ich hatte sie am Abend vorher an der Einzäunung gesehen, und nun sah ich sie wieder, hungrige Frauen, die seit vielen Monaten allein waren und die trotz der Gefangenschaft Frauen waren und es gerade deswegen stärker fühlten. Was sonst war ihnen geblieben?
Ich ging zur Baracke mit der Kantine. Eine blasse Frau mit roten Haaren stand da zwischen anderen, die Lebensmittel kauften. „Was wollen denn Sie?" fragte sie. Ich schloß die Augen und machte eine Bewegung mit dem Kopf. Dann trat ich beiseite. Sie überblickte rasch ihre Kunden. „In fünf Minuten", flüsterte sie. „Gut oder schlecht?"
Ich begriff, daß sie meinte, ob ich gute oder schlechte Nachrichten bringe. Ich zog die Schultern hoch. „Gut", sagte ich dann und ging hinaus.
Nach einer Weile kam die Frau und winkte mir. „Man muß vorsichtig sein", erklärte sie. „Für wen haben Sie Nachrichten?"
„Helen Baumann. Ist sie hier?"
„Warum?"
Ich schwieg. Ich sah die Sommersprossen über der Nase und die unruhigen Augen. „Arbeitet sie in der Kantine?" fragte ich.
„Was wollen Sie?" fragte die Frau zurück. „Auskunft? Ein Monteur? Für wen?" „Für ihren Mann."
„Das letztemal", sagte die Frau bitter, „fragte jemand dasselbe für eine andere Frau, Sie wurde drei Tage später abgeholt. Wir hatten uns verabredet, sie solle uns Nachricht geben, wenn es gut gegangen sei. Wir haben nie Nachricht bekommen, Sie falscher Monteur!" „Ich bin ihr Mann", sagte ich. „Und ich bin Greta Garbo", sagte die Frau. „Weshalb sonst sollte ich Sie fragen?" „Nach Helen Baumann", sagte die Frau, „ist oft gefragt worden. Von merkwürdigen Leuten. Wollen Sie die Wahrheit? Helen Baumann ist tot. Sie ist vor zwei Wochen gestorben und beerdigt worden. Das ist die Wahrheit. Ich dachte, Sie brächten Nachrichten von draußen."
„Sie ist tot?"
„Tot. Und nun lassen Sie mich in Ruhe." „Sie ist nicht tot", sagte ich. „In den Baracken weiß man das besser."
„In den Baracken wird viel Unsinn geredet."
Ich sah die rothaarige Frau an. „Wollen Sie ihr einen Brief geben? Ich gehe — aber ich möchte einen Brief hinterlassen." „Wozu?"
„Wozu nicht? Ein Brief bedeutet nichts. Er tötet nicht und liefert nicht aus."
„Nein?" sagte die Frau. „Seit wann leben Sie?"
„Das weiß ich nicht. Ich habe es auch nur stückweise getan und wurde oft unterbrochen. Können Sie mir ein Stück Papier und einen Bleistift verkaufen?"
„Da ist beides", sagte die Frau und zeigte auf einen kleinen Tisch. „Wozu wollen Sie an eine Tote schreiben?"
„Weil das heute oft geschieht."
Ich schrieb auf einen Zettel: „Helen, ich bin hier. Draußen. Heute abend. Am Drahtzaun. Ich warte."
Ich klebte den Brief nicht zu. „Wollen Sie ihn ihr geben?" fragte ich die Frau.
„Es gibt heute viele Verrückte", antwortete sie.
„Ja oder nein?"
Sie las den Brief, den ich ihr hinhielt. „Ja oder nein?" wiederholte ich.
„Nein", sagte sie.
Ich legte den Brief auf den Tisch. „Zerstören Sie ihn wenigstens nicht", sagte ich.
Sie erwiderte nichts. „Ich komme zurück und bringe Sie um, wenn Sie verhindern, daß dieser Brief in die Hände meiner Frau kommt", sagte ich.
„Sonst noch was?" fragte die Frau und starrte mich mit ihren flachen grünen Augen in dem verbrauchten Gesicht an.