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Die Nacht von Lissabon

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Die Nacht von Lissabon
Название: Die Nacht von Lissabon
Дата добавления: 15 январь 2020
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Die Nacht von Lissabon - читать бесплатно онлайн , автор Remarque Erich Maria

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„Wir können es nennen, wie wir wollen. Ein doppeltes Leben, ein geborgtes; oder ein zweites. Eher ein zweites. Ich fühle es so. Wir sind wie Schiffbrüchige, die ihre Erinnerung verloren haben. Sie haben nichts zu bedauern — denn Erinnerung ist immer auch Bedauern, daß man das Gute, was man gehabt hat, an die Zeit verlieren mußte und das Schlechte nicht besser gemacht hat."

Helen lachte. „Was sind wir jetzt? Schwindler, Tote oder Geister?"

„Legal sind wir Touristen. Wir dürfen hier sein; aber nicht arbeiten."

„Gut", sagte sie. „Dann laß uns nicht arbeilen. Laß uns auf die Ile St. Louis gehen und auf einer Bank in der Sonne sitzen und nachher zum Cafe de la France wandern und auf der Straße essen. Ist das ein gutes Programm?"

„Es ist ein sehr gutes Programm", sagte ich, und dabei blieb es. Ich suchte keine Gelegenheitsarbeit mehr. Wir blieben zusammen vom frühen Morgen bis zum frühen Morgen und waren Wochen hindurch nicht getrennt. Die Zeit rauschte draußen vorbei mit Extrablättern, Alarmnachrichten und Extrasitzungen, aber sie war nicht in uns. Wir lebten nicht in ihr. Sie war nicht da. Was war dann da? Ewigkeit! Wenn das Gefühl alles ausfüllt, ist kein Platz mehr da für Zeit. Man hat andere Ufer erreicht, jenseits von ihr. Oder glauben Sie nicht?" Das Gesicht von Schwarz hatte wieder den intensiven, verzweifelten Ausdruck, den ich vorher schon gesehen hatte. „Oder glauben Sie nicht?" fragte er.

Ich war müde und gegen meinen Willen ungeduldig geworden. Von Glück zu hören ist uninteressant, und die Kaprice von Schwarz mit der Ewigkeit wurde es ebenso.

„Ich weiß es nicht", erwiderte ich gedankenlos. „Vielleicht ist es Glück oder Ewigkeit, wenn man darin stirbt; dann kann die Zeit keinen Kalendermaßstab mehr anlegen und muß es gelten lassen. Wenn man aber weiterlebt, kann man nichts dagegen tun, daß es trotz allem wieder ein Stück Zeit und Vergänglichkeit wird."

„Es soll nicht sterben!" sagte Schwarz plötzlich heftig. „Es soll stehenbleiben wie eine Skulptur aus Marmor! Nicht wie eine Sandburg, von der jeden Tag etwas wegweht! Was geschieht denn mit den Toten, die wir lieben? Was geschieht damit, Herr? Werden sie nicht immer noch einmal getötet? Wo anders sind sie denn als noch in unserer Erinnerung? Und werden wir da nicht alle zu Mördern, ohne es zu wollen? Soll ich das Gesicht dem Hobel der Zeit überlassen, das Gesicht, das ich allein kenne? Ich weiß, daß es in mir verwittern muß und gefälscht wird, wenn ich es nicht herausbringe aus mir, es aufstelle, außer mir, so daß die Lügen meines weiterlebenden Gehirns es nicht umranken können wie Efeu und es zerstören, bis schließlich nur noch Efeu da ist und es zum Humus für den Schmarotzer Zeit wird! Ich weiß das! Deshalb muß ich es ja sogar vor mir selbst retten, vor dem fressenden Egoismus des Weiterlebenwollens, der es vergessen und zerstören will! Verstehen Sie das denn nicht?"

„Ich verstehe es, Herr Schwarz", erwiderte ich behutsam. „Das ist es ja, weshalb Sie mit mir sprechen — um es vor sich selber zu retten..."

Ich ärgerte mich, daß ich ihm vorher so achtlos geantwortet hatte. Der Mann vor mir war in einer logischen und poetischen Weise verrückt, ein Don Quichote, der gegen die Windmühlen der Zeit kämpfen wollte — und ich hatte zuviel Achtung vor Schmerz, um feststellen zu wollen, warum und wie weit er damit kommen könnte.

„Wenn es mir gelingt...", sagte Schwarz und stockte, „Wenn es mir gelingt, dann ist es vor mir sicher. Sie glauben das doch?"

„Ja, Herr Schwarz. Unsere Erinnerung ist kein, elfenbeinerner Schrein in einem staubdichten Museum. Sie ist ein Tier, das lebt und frißt und verdaut. Sie frißt sich selbst wie der Phönix der Sage, damit wir weiterleben können und nicht durch sie zerstört werden. Sie wollen das verhindern."

„So ist es!" Schwarz sah mich dankbar an. „Sie sagten, nur wenn man stürbe, versteinere die Erinnerung. Ich werde sterben."

„Es war Unsinn, was ich gesagt habe", erklärte ich müde. Ich haßte solche Gespräche. Ich hatte zu viele Neurotiker kennengelernt; das Exit brachte sie hervor wie eine Wiese Pilze nach dem Regen.

„Ich werde mir auch nicht das Leben nehmen", sagte Schwarz und lächelte plötzlich, als wüßte er, was ich dachte. „Dazu sind Leben im Augenblick zu brauchbar für andere Zwecke. Ich werde nur als Josef Schwarz sterben. Morgen früh, wenn wir Abschied nehmen, wird es ihn nicht mehr geben."

Ein Gedanke durchzuckte mich und gleichzeitig eine wilde Hoffnung. „Was wollen Sie tun?" fragte ich.

„Verschwinden."

„Als Josef Schwarz?"

„Ja."

„Als Name?"

„Als alles, was Josef Schwarz in mir war. Und auch als das, was ich vorher war."

„Und was wollen Sie mit Ihrem Paß machen?"

„Ich brauche ihn nicht mehr."

„Haben Sie einen anderen?"

Schwarz schüttelte den Kopf. „Ich brauche keinen mehr."

„Haben Sie ein amerikanisches Visum darin?"

„Ja."

„Wollen Sie ihn mir verkaufen?" fragte ich, obschon ich kein Geld hatte.

Schwarz schüttelte den Kopf.

„Warum nicht?"

„Ich kann ihn nicht verkaufen", sagte Schwarz. „Ich habe ihn selbst geschenkt bekommen. Aber ich kann ihn Ihnen schenken. Morgen früh. Können Sie ihn brauchen?"

„Mein Gott!" sagte ich atemlos. „Brauchen! Er würde mich retten! Ich habe in meinem kein amerikanisches Visum und wüßte nicht, wie ich eins bis morgen nachmittag bekommen könnte."

Schwarz lächelte schwermütig. „Wie sich alles wiederholt! Sie erinnern mich an die Zeit, als ich im Zimmer des sterbenden Schwarz saß und nur an den Paß dachte, der mich wieder zu einem Menschen machen sollte. Gut, ich werde Ihnen meinen geben. Sie brauchen nur die Photographie auszuwechseln. Das Alter wird ungefähr stimmen." „Fünfunddreißig", sagte ich. „Sie werden ein Jahr älter werden. Haben Sie jemand, der geschickt mit Pässen ist?"

„Ich weiß jemand hier", erwiderte ich. „Eine Photographie ist leicht auszuwechseln."

Schwarz nickte. „Leichter als eine Persönlichkeit." Er starrte eine Weile vor sich hin. „Wäre es nicht sonderbar, wenn Sie jetzt auch beginnen würden, Bilder zu lieben? So wie der tote Schwarz — und dann ich?" Ich konnte mir nicht helfen, aber ich fühlte einen leichten Schauder. „Ein Paß ist ein Stück Papier", sagte ich. „Keine Magie."

„Nein?" fragte Schwarz.

„Doch", erwiderte ich. „Aber nicht so. Wie lange blieben Sie in Paris?"

Ich war so voll Aufruhr über das Versprechen von Schwarz, mir seinen Paß zu geben, daß ich nicht hörte, was er sagte. Ich dachte nur darüber nach, was ich tun könnte, um auch für Ruth ein Visum zu bekommen. Vielleicht konnte ich sie beim Konsulat als meine Schwester ausgeben. Es war unwahrscheinlich, daß es nützte, denn die amerikanischen Konsulate waren sehr strikt; aber ich mußte es versuchen, wenn nicht ein zweites Wunder passierte. Dann hörte ich plötzlich Schwarz sprechen.

„Er stand plötzlich in der Tür unseres Zimmers in Paris", sagte Schwarz. „Es hatte ihm sechs Wochen genommen, aber er hatte uns gefunden. Dieses Mal hatte er keinen Beamten vom deutschen Konsulat mobilisiert; er war selbst gekommen und stand vor uns in dem kleinen Hotelzimmer mit den amourösen Drucken nach Zeichnungen des achtzehnten Jahrhunderts an der Wand, Georg Jürgens, Obersturmbannführer, der Bruder Helens, groß, breit, zweihundert Pfund schwer und dreimal so deutsch als in Osnabrück, obschon er in Zivil war. Er starrte uns an.

„Also alles Lügen", sagte er. „Ich dachte mir doch, daß es irgendwo gewaltig stänke!"

„Was wundert Sie daran?" erwiderte ich. „Es stinkt überall, wohin Sie kommen. Gewaltig! Weil Sie kommen."

Helen lachte. „Laß das Lachen!" brüllte Georg.

„Lassen Sie das Brüllen!" erwiderte ich. „Oder ich lasse Sie hinauswerfen!"

„Warum versuchen Sie das nicht selbst?"

Ich schüttelte den Kopf. „Spielen Sie noch immer den Helden, wenn es ungefährlich ist? Sie sind vierzig Pfund schwerer als ich. Kein Unparteiischer würde uns als Boxer paaren. Was wollen Sie hier?"

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