Der Schwarm
Der Schwarm читать книгу онлайн
Ein Fischer verschwindet vor Peru, spurlos. Цlbohrexperten stoЯen in der norwegischen See auf merkwьrdige Organismen, die hunderte Quadratkilometer Meeresboden in Besitz genommen haben. Wдhrenddessen geht mit den Walen entlang der Kьste British Columbias eine unheimliche Verдnderung vor. Nichts von alledem scheint miteinander in Zusammenhang zu stehen. Doch Sigur Johanson, norwegischer Biologe und Schцngeist, glaubt nicht an Zufдlle. Auch der indianische Walforscher Leon Anawak gelangt zu einer beunruhigenden Erkenntnis: Eine Katastrophe bahnt sich an. Doch wer oder was lцst sie aus? Wдhrend die Welt an den Abgrund gerдt, kommen die Wissenschaftler zusammen mit der britischen Journalistin Karen Weaver einer ungeheuerlichen Wahrheit auf die Spur.
Внимание! Книга может содержать контент только для совершеннолетних. Для несовершеннолетних чтение данного контента СТРОГО ЗАПРЕЩЕНО! Если в книге присутствует наличие пропаганды ЛГБТ и другого, запрещенного контента - просьба написать на почту [email protected] для удаления материала
4. März
Im Grunde war die Stadt viel zu gemütlich für Hochschulen und Forschungszentren. Besonders in Bakklandet oder auf dem Mollenberg wollte sich das Bild einer Technologiemetropole partout nicht einstellen. Inmitten der bunten Idylle aus modernisierten Holzhäusern, Parks und dörflich anmutenden Kirchen, Stelzenbauten am Fluss und pittoresken Hinterhöfen kam jedes Gefühl für Fortschritt abhanden, obschon die NTNU, Norwegens große technische Universität, gleich um die Ecke lag.
Kaum eine Stadt wob Vergangenes und Kommendes so kongenial ineinander wie Trondheim. Und eben darum schätzte sich Sigur Johanson glücklich, in Mollenbergs zeitentrückter Kirkegata zu wohnen, im Erdgeschoss eines ockerfarbenen Giebeldachhäuschens mit weiß gestrichener Vortreppe und Türsturz, dass es jedem Hollywood-Regisseur die Tränen in die Augen getrieben hätte. Wenngleich er dem Schicksal dafür dankte, ihn der Meeresbiologie verpflichtet zu haben und damit einem der gegenwärtigsten Forschungszweige überhaupt, interessierte ihn das Hier und Jetzt nur sehr bedingt. Johanson war Visionär und wie alle Visionäre dem völlig Neuartigen ebenso zugetan wie vergangenen Idealen. Sein Leben war getragen vom Geiste Jules Vernes. Niemand hatte den heißen Atem des Maschinenzeitalters, erzkonservative Ritterlichkeit und die Lust am Unmöglichen so treffend zu vereinen gewusst wie der große Franzose. Einzig die Gegenwart war eine Schnecke, die auf ihrem Buckel Sachzwänge und Profanitäten mit sich schleppte. Sie fand keinen rechten Platz im Kosmos Sigur Johansons. Er diente ihr, erkannte, was sie von ihm verlangte, bereicherte ihren Fundus und verachtete sie für das, was sie daraus machte.
Als er den Jeep an diesem Spätvormittag über die winterliche Ovre Bakklandet zum Forschungsgelände der NTNU steuerte, den glitzernden Lauf der Nidelva zur Rechten, hatte die Vergangenheit ein ausgedehntes Wochenende lang ihr Recht beansprucht. Er war in den Wäldern gewesen und hatte weit abgelegene Dörfer besucht, an denen die Zeit vorübergegangen war. Im Sommer hätte er dafür den Jaguar genommen, im Kofferraum einen Picknickkorb mit frisch gebackenem Brot, stanniolverpackter Gänseleberpastete vom Feinkosthändler und einer kleinen Flasche Gewürztraminer, bevorzugter Jahrgang 1985. Seit Johanson von Oslo hergezogen war, hatte er sich eine ganze Reihe Plätze zu Eigen gemacht, die nicht von erholungsbedürftigen Trondheimern und Touristen überlaufen wurden. Vor zwei Jahren war er durch Zufall ans Ufer eines versteckten Sees gelangt und dort zu seinem Entzücken auf ein kleines, arg renovierungsbedürftiges Landhaus gestoßen. Den Besitzer ausfindig zu machen, hatte Zeit gekostet — er arbeitete in leitender Position für Norwegens staatliche Erdölförderungsgesellschaft Statoil und lebte mittlerweile in Stavanger —, dafür vollzog sich der Erwerb des Hauses umso schneller. Der Mann war froh, jemanden gefunden zu haben, der es übernahm, und verkaufte es für einen Spottpreis. In den Wochen darauf ließ Johanson die marode Hütte von ein paar illegal eingereisten Russen günstig instand setzen, bis sie seiner Vorstellung jener Refugien entsprach, die Bonvivants des ausgehenden 19. Jahrhunderts als Land— und Lustsitz gedient haben mochten.
Dort, mit Blick auf den See, saß er an langen Sommerabenden auf der Veranda, las die Visionäre unter den Klassikern von Thomas More bis Jonathan Swift und H. G. Wells, hörte Mahler und Sibelius, lauschte dem Klavierspiel Glenn Goulds und Celibidaces Einspielungen der Sinfonien von Ravel. Er hatte sich eine umfangreiche Bibliothek zugelegt. Ebenso wie seine CDs besaß Johanson auch seine Lieblingsbücher fast sämtlich doppelt. Weder auf das eine noch das andere gedachte er zu verzichten, egal, wo er sich gerade aufhielt.
Johanson steuerte den Wagen das sanft ansteigende Gelände hoch. Vor ihm lag das Hauptgebäude der NTNU, ein gewaltiger, schlossähnlicher Bau aus dem beginnenden 20. Jahrhundert, überzuckert von Schnee. Dahinter erstreckte sich das eigentliche Universitätsgelände mit seinen Unterrichtsgebäuden und Laboratorien. 10000 Studenten bevölkerten ein Areal, das eine kleine Stadt für sich war. Überall wogte lärmende Geschäftigkeit. Johanson gestattete sich einen Seufzer des Wohlbehagens. Es war wunderbar gewesen am See, einsam und außerordentlich inspirierend. Im vergangenen Sommer hatte er einige Male die Assistentin des Departmentleiters für Kardiologie mitgenommen, eine Bekanntschaft aus gemeinsamen Vortragsreisen. Sie waren ziemlich schnell zur Sache gekommen, aber am Ende des Sommers hatte Johanson die Liaison für beendet erklärt. Er wollte sich nicht binden, zumal er die Realität durchaus einzuschätzen wusste. Er war 56 Jahre alt, sie 30 Jahre jünger. Schön für ein paar Wochen. Indiskutabel für ein Leben, über dessen Schwelle Johanson ohnehin nur wenige ließ und je gelassen hatte.
Er parkte auf dem für ihn reservierten Platz und ging hinüber zum Gebäude der naturwissenschaftlichen Fakultät. Auf dem Weg zum Büro umrundete er in Gedanken ein letztes Mal den See und übersah beinahe Tina Lund, die am Fenster stand und sich bei seinem Eintreten umdrehte.
»Du bist ein bisschen spät«, frotzelte sie. »War’s der Rotwein, oder wollte dich irgendwer nicht gehen lassen?«
Johanson grinste. Lund arbeitete für Statoil und trieb sich derzeit vorzugsweise in den Forschungsstätten von Sintef herum. Die Stiftung gehörte zu den größten unabhängigen Forschungseinrichtungen Europas. Speziell die norwegische Offshore-Industrie verdankte ihr einige bahnbrechende Entwicklungen. Es war nicht zuletzt die enge Zusammenarbeit zwischen Sintef und der NTNU, die Trondheims Ruf als Zentrum der Technologieforschung mitbegründet hatte. Sintef-Einrichtungen verteilten sich über die ganze Umgebung. Lund, die es im Verlauf einer kurzen und steilen Karriere zur stellvertretenden Projektleiterin für die Erschließung neuer Erdölvorkommen gebracht hatte, hatte erst vor wenigen Wochen ihr Lager im mannetechnischen Institut Marintek aufgeschlagen, ebenfalls ein Sintef-Ableger.
Johanson betrachtete ihre hoch gewachsene, schlanke Gestalt, während er sich aus seinem Mantel schälte. Er mochte Tina Lund. Um ein Haar hätten sie was miteinander angefangen vor einigen Jahren, aber irgendwie waren sie dann auf halber Strecke übereingekommen, es besser bei einer guten Freundschaft zu belassen. Seitdem tauschten sie sich über ihre Arbeit aus und gingen manchmal zusammen essen.
»Alte Männer müssen ausschlafen«, erwiderte Johanson. »Willst du einen Kaffee?«
»Wenn einer da ist.«
Er schaute ins Sekretariat und fand eine volle Kanne vor. Seine Sekretärin war nirgendwo zu sehen.
»Nur Milch«, rief Lund.
»Ich weiß.« Johanson verteilte den Kaffee auf zwei große Becher, gab Milch in ihren und ging zurück in sein Büro. »Ich weiß alles über dich. Schon vergessen?«
»So weit bist du nie gekommen.«
»Nein, dem Himmel sei Dank. Setz dich. Was führt dich her?«
Lund nahm ihren Kaffee, nippte daran, machte jedoch keine Anstalten, Platz zu nehmen.
»Ich schätze, ein Wurm.«
Johanson hob die Brauen und musterte sie. Lund erwiderte seinen Blick, als erwarte sie eine Stellungnahme, bevor sie die Frage dazu gestellt hatte. Das war typisch. Sie war von ungeduldigem Temperament.
Er trank einen Schluck.
»Du schätzt?«
Statt einer Antwort nahm sie einen Behälter aus mattem Stahl von der Fensterbank und stellte ihn vor Johanson auf den Schreibtisch. Er war verschlossen. »Schau mal da rein.«
Johanson entriegelte den Deckel und klappte ihn auf. Der Behälter war bis zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Etwas Haariges, Langes wand sich darin. Johanson betrachtete es aufmerksam.
»Hast du eine Ahnung, was es ist?«, fragte Lund.
Er zuckte die Achseln.
»Würmer. Zwei Stück. Recht stattliche Exemplare.«